Ich war fünfundzwanzig Jahre Polizist. Und da gab’s Ende 1996 einen dienstlichen Vorfall – da habe ich einen Straftäter festnehmen wollen, der gleich mehrere Straftaten begangen hatte: Fahren ohne Fahrerlaubnis, Fahren ohne Pflichtversicherung, Auto nicht zugelassen, gestohlene Autoradios hat er drin gehabt, drei Stück ... Und dieser Straftäter hat sich der Festnahme widersetzt. Er war sehr kräftig, wesentlich größer als ich, und ich habe nur eine junge zierliche Kollegin dabeigehabt. Und um ihn festnehmen zu können (er hatte mir mittlerweile schon eine Rippe gebrochen, ich habe kaum mehr atmen können), habe ich ihm auf die Nase gehauen und ihm mit diesem Schlag das Nasenbein gebrochen.
Dieser Faustschlag hat dazu geführt, dass er seinen Widerstand aufgegeben hat und wir ihn festnehmen konnten. Und im Strafverfahren ist er wegen seiner ganzen Straftaten, die er begangen hatte, auch verurteilt worden – wobei der Richter gesagt hat: »Der Faustschlag: hundertprozentig in Ordnung.« Aber dann ist dieser Mann vor ein Zivilgericht gegangen und hat von mir wegen der gebrochenen Nase Schmerzensgeld verlangt. In diesem Verfahren wurde mein Dienstherr – in dem Fall der Freistaat Bayern – verurteilt, an meiner Stelle Schmerzensgeld zu bezahlen, denn zivilgerichtlich kann nur der Dienstherr verurteilt werden.
Diese Verurteilung war für mich, wie wenn ich selber verurteilt worden wäre. Ich hab schon in meiner Kindheit, meiner Schulzeit, oft das Gefühl gehabt, nichts richtig machen zu können. Und das ist jetzt wieder durchgebrochen. Im Endeffekt habe ich für mich rausgehört, dass ich unfähig bin und nichts kann. Hatte ja der Zivilrichter auch gesagt: »Was wollen Sie denn überhaupt; Sie können ja nicht einmal einen Einsatz ordnungsgemäß durchziehen.«
Und das hat mich total niedergeworfen. Ich bin an der Gerechtigkeit richtiggehend verzweifelt. Es ist dann so weit gekommen, dass ich depressiv wurde. Um das zu überstehen – schlafen hab ich nicht mehr können –, habe ich Alkohol getrunken, bin auch noch alkoholabhängig geworden, habe Angststörungen gekriegt ... Am Schluss hab ich nicht mal mehr mit dem Auto nach Passau fahren können, weil ich gewusst habe: Ich find in der ganzen Stadt keinen Parkplatz. Ich habe auch gewusst: Wenn ich auf die Autobahn fahre, ist ganz sicher ein Stau. Und wenn ich mit dem Zug fahre, hat er hundertprozentig drei Stunden Verspätung. Deswegen habe ich das alles nicht mehr gemacht. Weil ich mir immer ausgemalt habe, was alles sein kann. Und so habe ich auch nichts mehr erlebt. Ich habe nur noch in Angst gelebt. Diese Angst hat mir alles verwehrt.
Ich hatte eben keine Ahnung. Nichts. Es ist das Verrückteste, was man machen kann: Sich eine Stute zu kaufen und dann auch noch eine Zweijährige und ein Vollblut
Und irgendwie habe ich – genau in dieser Hochphase meiner Erkrankung – das Gefühl gehabt: Ich brauch eine Aufgabe. Von der ich keine Ahnung hab. Und wo mir auch keiner helfen kann. Und ich hatte halt damals schon einiges mit Tieren zu tun gehabt. Aber nie mit Pferden. Ich habe sie zwar immer total majestätisch gefunden und als Kind alle Karl-May-Bücher gelesen, aber ich war noch nie auf einem Pferd gesessen. Und dann habe ich mir eine zweijährige Anglo-Araber-Stute gekauft. Girly. Sie war noch nicht zugeritten, weil man ein zweijähriges Pferd noch gar nicht reiten darf und reiten kann. Ich hatte eben keine Ahnung. Nichts. Es ist das Verrückteste, was man machen kann: Sich eine Stute zu kaufen – das ist eh schon mal schwieriger – und dann auch noch eine Zweijährige und ein Vollblut. Aber für mich war’s wichtig. Weil, ich hab meiner Umwelt beweisen müssen: »Ich kann was. Ich bin nicht nur ein – Verlierer.«
Ich habe Girly dann ein Jahr lang nur spazieren geführt; und mir wirklich alles zusammen mit ihr beigebracht. Und dadurch hat sich schnell rausgestellt, dass ich – schon aufgrund meiner Erkrankung, weil ich wusste, wie es sich anfühlt, wenn man schlecht behandelt wird – ein besonderes Gespür habe für Pferde. Weil, sehr viele Pferde werden nicht so behandelt, wie’s gehört. Und das nicht einmal aus bösem Willen, sondern weil der Mensch stark vermenschlicht und deswegen ein Pferd behandelt, wie’s einfach nicht umgehen kann damit. Dann ist das Pferd unglücklich und der Mensch sagt: »Aber ich mein’ es ihm doch nur gut. Ich tu doch alles für ihn.« Genau das ist oft der Fehler.
Und so hat sich das ergeben, dass ich immer wieder von Leuten gefragt worden bin: »Mei, könnt’st du mir mal helfen? Mein Pferd geht nicht aufn Anhänger.« Oder sonst was in der Art. Damals gab’s ja schon alle möglichen berühmten Pferdeflüsterer. Aber ich wollte niemandem was nachmachen, sondern ich wollte mein eigenes Ding machen. Ich wollte meine eigene Sache entwickeln. Und habe dann – durch viel Beobachten – mit jedem Pferd dazugelernt.
Aber am meisten gelernt hab ich natürlich mit Girly. Wir sind viel unterwegs gewesen. Haben viele Wanderritte gemacht. Einfach von da aus, wo wir waren. Haben irgendwo übernachtet, sind wieder weitergeritten, haben wieder übernachtet ... Und wenn du abends geschwitzt und gestunken hast, dann war das scheißegal. Das war halt dieses Freisein – mir nicht immer sagen lassen zu müssen, was ich zu tun hab. Als Polizist hat ja immer alles passen müssen. Wenn ich schwarze Socken angehabt hab, hat mich der Chef geschimpft, weil: Du hast ja bloß braune anziehen dürfen.
Und Girly hat auch immer diesen Freiheitsdrang gehabt. Sie hat zum Beispiel als Fohlen – das weiß ich jetzt aber bloß vom Vorbesitzer – am Elektrozaun gewartet, bis kein Klack-Geräusch mehr gekommen ist; weil, der Elektrozaun hat ja nicht dauernd Saft drauf, sondern nur stoßweise. Das klackt, und das hört man. Und da hat sie sich neben den Zaun gelegt und wenn das »Klack« nicht kam, hat sie sich unten rausgewutzelt.
Deshalb ist das – das ist vielleicht ein abgeschmackter Begriff, aber ich nenn’s echt eine Seelenverwandtschaft, was wir miteinander haben. Und da erlebt man mit der Zeit natürlich ganz viel. Vor allem eine Geschichte fällt mir dazu ein. Und zwar: Ich hatte ja nach wie vor, obwohl ich mit der Pferdearbeit bald relativ erfolgreich war, das Gefühl: »Ich kann nicht genug. Ich bin nicht gut genug.« Wenn ich vom Einsatz weggefahren bin – »Einsatz« deswegen, weil ich wirklich nur zu Problempferden gefahren bin – und meine Frau dabei gewesen ist, hat sie oft gesagt: »Was hast’n heut wieder verkehrt gemacht? Sag’s gleich.« Weil sie gewusst hat: Ich find’ immer irgendwas. Ich bin nie zufrieden.
Und dann kommt eines Tages in dem Stall, in dem ich damals die Girly stehen hatte, die Besitzerin von Girlys Halbbruder Sam zu mir – sie war relativ neu in dem Stall, sehr jung, vielleicht zwanzig Jahre alt – und sagt: »Manfred, am Sonntag könnten wir ausreiten. Und dann schau’n wir mal. Machen wir mal ein Rennen. Wer schneller ist. Girly oder der Sam.«
Sag ich: »Nein, mag ich nicht.«
»Ah geh, komm, jetzt stell dich nicht so an.«
Sag ich: »Nein, ich mag das nicht. Ich mach so was nicht und ich mag nicht.«
Aber irgendwie hat’s mich anschließend schon kurz gemartert: »Warum machst du das nicht? – Tja, ich könnt’ ja auch verlieren. Und ich will nicht wieder verlieren.« So waren meine Gedanken. Obwohl ich gewusst hab: »Ich hab ja Girly«, und die ist auch in dem Punkt genau wie ich: Sie will nicht verlieren. Mit ihr war’s immer so: Wenn wir mal zu mehreren unterwegs waren und galoppiert sind – sie war immer die Schnellste. Und zwar teilweise schon so, dass alle anderen gesagt haben: »Oh Gott, wir haben gemeint, wir kommen überhaupt nicht vom Fleck!« Girly ist eine Rennsemmel! Aber das waren halt nie echte Rennen gewesen. Wenn ich als Letzter angekommen wär’, wär’s auch wurscht gewesen. Und deswegen hab ich mich auch drauf einlassen können. Aber dieses Mädchen wollt’ ein richtiges Rennen machen. Und hat sogar schon mit anderen Leuten im Stall darüber geredet: »Ich möcht echt wissen, wer schneller ist: Girly oder Sam.«
Girly ist wie um ihr Leben gerannt. Und dann an allen vorbei
Dann bin ich aber an diesem Sonntag trotzdem mitgeritten. Wir waren acht Reiter. Und es ist eine tolle, relativ lange Galoppstrecke gekommen. Das gibt’s ja selten. Und sofort ist natürlich von ihr aus gekommen: »So!!! Und jetzt! Jetzt machen wir ein Rennen! Jetzt galoppieren wir!« Ich sag: »Nein.« Aber sie war schon weg. Und die anderen sechs Pferde auch. Weil, wenn eins galoppiert, galoppieren normalerweise alle.
Aber ich hab Girly hergehalten. Ich hab sie nicht mitgaloppieren lassen – hab dann allerdings gemerkt, wie sie angefangen hat zu tänzeln. Und zu mir hochschaut; so ungefähr: »Hey, Alter, das kannst du mir jetzt nicht antun. Wenn du verlieren willst, bitte, dann verlier’, aber ich will jetzt nicht da hinten bleiben.« Im Endeffekt war’s genau das, was ich aus ihrem Verhalten rausgelesen hab. Wie die sich unter mir bewegt hat! Dieses Unbändige! Ich bin mir sicher: Fünfundneunzig Prozent der Pferdebesitzer können ihr Pferd an dieser Stelle nicht mehr halten. Es galoppiert und du kannst an dem Zügel tun, was du willst – das interessiert das Pferd alles nicht. Girly hat zum Glück so viel Anstand gehabt: Wenn sie wusste, dass sie etwas nicht darf, hat sie’s auch nicht gemacht. Aber sie hat mir klipp und klar zu verstehen gegeben, was ihr Wille ist.
Und deshalb hab ich entschieden – aus einem Impuls heraus, der mir in diesem Moment gar nicht klar war: »Okay, Girly!«
Und ich hab sie losgelassen.
Und dann kann ich wirklich nur sagen: »Allahs fliegende Pferde!« Es gibt ja diese Stelle im Koran, dass Allah dem Pferd die Fähigkeit verliehen hat, ohne Flügel zu fliegen. Und die Araberpferde sind halt die klassischen Rennpferde.
Inzwischen waren die anderen schon circa fünfzig Meter vor uns. Aber dann haben sie einen Berg raufmüssen und dort eine enge Kurve nehmen. In dieser Kurve war ich schon neben ihnen, so nah, dass sich beim Vollgalopp unsere Steigbügel berührt haben. Ich hätte mir bald in die Hose gemacht. Girly ist wie um ihr Leben gerannt. Und dann an allen vorbei. Und wie oben die Galoppstrecke zu Ende war, hab ich mich umgedreht. Die anderen waren locker mindestens fünfzig Meter hinter uns. Girly ist stehengeblieben, hat geschnauft und geprustet, aber man hat’s ihr direkt angemerkt: Sie war happy.
Und das war eine Geschichte für mich, die hat mir unglaublich viel gebracht. Nicht nur, weil wir so was nie wieder nötig gehabt haben; im ganzen Stall war klar: »Okay, mit der Girly nehmen wir’s besser nicht auf« –, sondern weil Girly mir gezeigt hat, wie sie denkt und was sie für sich als ganz normal empfindet. Dieses: »Ich mag nicht hinten bleiben.« – Was für mich dann wieder bewirkt hat, dass ich gesehen hab: »Ich werd ja niemals irgendwas erreichen oder auch nur lernen, wenn ich’s nicht wenigstens probiert hab.« Das ist das, was Girly mir beigebracht hat. Dass sie mir quasi gesagt hat: »Und wenn wir verloren hätten? Na und?« Für mich hat das den Ausschlag gegeben, dass ich mich wieder was getraut hab. Dass ich wieder verstanden hab, um was es im Leben geht.