Die Tiroler Biologin Martina Schiestl arbeitete, nach einer Zeit an der Forschungsstation Haidlhof bei Wien, mehrere Jahre mit Geradschnabelkrähen auf Neukaledonien, einer Inselgruppe im Südpazifik. Mehr über ihre Arbeit am Haidlhof lesen Sie hier.
Ich habe seit acht Jahren immer mit Krähen gearbeitet. Zuerst hier am Haidlhof, wo der Kontakt mit den Vögeln sehr eng war. Also mit Vögeln, die ich handaufgezogen habe, die bei mir im Arm gesessen sind, auf der Schulter, die hergekommen sind, dass ich sie kraule am Nacken ... Und später auf Neukaledonien, wo’s darum ging, mit wilden Vögeln zu arbeiten, sie also zu fangen, in eine Voliere zu geben und mit ihnen vier bis fünf Monate wissenschaftlich zu arbeiten, um sie dann wieder freizulassen; was für mich eine komplett neue Erfahrung war, aber letztlich auch wieder die Möglichkeit, viel über die Tiere zu erfahren und von ihnen zu lernen.
Neukaledonische Krähen sind deshalb so besonders, weil sie Werkzeuge bauen, um an Futter zu kommen. Das ist ähnlich wie bei Schimpansen, die sich Stecken holen, damit sie nach Termiten angeln können. Und wir kennen ja auch viele andere Tiere, die Werkzeuge verwenden – verschiedene Affenarten, Seeotter und Delfine; aber bei Vögeln – dass sie wirklich zu Pflanzen hingehen und gezielt Teile davon herunterziehen, um sie in eine gewisse Form zu bringen, um damit zum Beispiel hinter die Baumrinde zu kommen und Würmer herauszuholen –, das ist noch mal ein anderes Level. Und da gibt’s die Universität von Auckland, die das seit Jahren auf Neukaledonien erforscht. Und ich habe eben die Möglichkeit gekriegt, für diese Universität zu arbeiten.
Wir haben dort ein kleines Haus mit Gartengrundstück, auf dem auch unsere Volieren stehen; die werden zuerst hergerichtet, und dann fängt man an, Fangstellen im Wald aufzubauen und dort, an einem bestimmten Punkt am Boden, Futter auszulegen, weil die Idee ist: Wenn die Vögel herunterkommen und das ausgelegte Futter fressen, kann ich ein Netz über sie drüberfallen lassen.
Für mich war das gleich einer der schwersten Momente: meine erste Krähe fangen zu müssen. Die Nacht davor habe ich kaum geschlafen, weil ich mich so schlecht gefühlt habe; weil ich so ein schlechtes Gewissen gehabt habe, dass ich diese Vögel jetzt aus ihrem sozialen Netz, aus ihrer Freiheit, herausnehme – nur für unsere Wissenschaft. Das hat mir wahnsinnig schiach getan in dem Moment. Wir haben zum Fangen ein Zelt. Das steht einige Meter von der Falle entfernt. Da sitzt man dann drinnen und wartet, bis die ersten Vögel kommen. Und als das das erste Mal so war und ich gewusst habe: »Okay, jetzt sind sie herunten, jetzt ist der Moment ...«, – meine Hände haben gezittert, ich hab eher an der Schnur festgehalten, und dann habe ich angefangen zu weinen.
Aber ich hab’s schlussendlich getan und meine ersten Krähen gefangen. Wir fangen immer mindestens Paare, weil wilde Krähen in Gefangenschaft einen sozialen Partner brauchen. Als Nächstes werden sie ausm Netz herausgeholt und wir schauen, dass wir gleich zurückfahren; sie werden beringt ... Das war dann auch das erste Mal, dass ich eine von ihnen in der Hand gehalten hab. Und am Schluss werden sie in die Voliere entlassen.
Eine Hypothese zu Neukaledonischen Krähen ist, dass es bei ihnen eine Kultur des Werkzeuggebrauchs gibt. Mit Kultur wäre dann dasselbe gemeint wie bei Menschen: eine auf eine bestimmte Region begrenzte Weitergabe von Wissen.
Am nächsten Tag geh ich aber schon wieder hinaus, um die nächste Gruppe zu fangen. Bis wir zwischen acht und zehn Vögel haben. Wobei die Gruppen – weil die Männchen oft sehr territorial sind – in einzelnen Abteilen gehalten werden. Jede Gruppe hat zwei, drei Abteile zur Verfügung. Außerdem ist das Ganze so gebaut, dass die Vögel uns nicht sehen müssen. Der Unterschied zu Vögeln, die Menschen gewöhnt sind, ist nämlich: Wilde Krähen mögen keine Menschen! Sie wollen nicht herkommen oder Nähe haben. Wenn wir am Anfang in ihre Abteile gehen, fliegen sie raus ins nächste Abteil. Deswegen tun wir in dieser Phase auch nicht viel mit ihnen. Für mich ist es in den ersten Tagen wichtig, dass sie fressen, dass sie trinken und dass ihr Gewicht gleich bleibt. Und wenn der einzelne Vogel auch sonst keine Stresszeichen aufweist, wenn er mit den anderen sozial interagiert, dann weiß ich, dass es okay ist für ihn. Ich sag jetzt nicht, dass es ihm gut geht; aber dass es okay ist.
Nach ein paar Wochen sind die Vögel dann schon viel relaxter im Umgang mit uns, und sie sind schon mitten im Training für die Experimente. Trainiert wird mit positiver Verstärkung. Die Experimente an sich müssen wir zwar immer noch komplett anders angehen als bei handaufgezogenen Vögeln, aber gerade da ist es jedes Mal faszinierend für mich, was man mit diesen Krähen in kurzer Zeit alles machen kann. Weil sie unglaublich neugierig und intelligent sind. In der Natur bauen sie sich ihre Werkzeuge ja lösungsorientiert. Für jede Situation ein neues Werkzeug. Wenn sie auf einen dieser großen Würmer unter der Baumrinde aus sind, haben sie teilweise einen Haken vorne drauf, weil sie wissen, dass sie den Wurm einhängen müssen, um ihn herausziehen zu können. In der nächsten Situation brauchen sie vielleicht etwas, um den Wurm rauszurollen. Da muss der Stecken dann eher dick und stabil sein.
Diesen einfachen Gebrauch von Werkzeug hab ich in der Natur schon oft gesehen. Aber einmal bin ich zum Beispiel bei uns auf Neukaledonien im Garten gesessen und es sind ein paar Krähen reingekommen. Und da hab ich beobachtet, wie eine Krähe immer auf ein Stückl Holz pickt – und hab dann schon gedacht: »Okay, das könnte heißen, dass ein dicker Wurm darunter ist.« Dann ist sie weggeflogen und mit einem gebogenen Stab im Schnabel wiedergekommen, hat ihn mit dem Fuß festgehalten und angefangen, Teile davon herunterzureißen. Dann ist eine zweite Krähe gekommen, die zugeschaut hat. Und dann hat die erste den Stab genommen und hat angefangen im Holz herumzuwerkeln. Und irgendwann hat sie’s geschafft, der Wurm war heraußen und gefressen und weg war der Vogel.
Ich habe allerdings nie gesehen, wie eine Krähe ein Hakenwerkzeug gebastelt hat. Und wir vermuten jetzt, das liegt daran, dass in der Gegend, in der wir die Krähen fangen, diese Art des Werkzeugbauens – nämlich Werkzeuge mit Haken – nicht Teil der Tradition ist. Eine Hypothese zu Neukaledonischen Krähen ist ja, dass es bei ihnen eine Kultur des Werkzeuggebrauchs gibt. Mit Kultur wäre dann dasselbe gemeint wie bei Menschen: eine auf eine bestimmte Region begrenzte Weitergabe von Wissen. Also ein extrem spannender Aspekt bei Vögeln! Allerdings ist das im Moment noch nicht bewiesen.
In der Voliere habe ich natürlich das Problem, dass ich ihnen die Pflanzen, die sie zum Werkzeugmachen verwenden würden, nicht alle geben kann. Ich muss ihnen also Werkzeug zur Verfügung stellen. Da ist wieder das Interessante daran, dass ich es ihnen in anderem Kontext zur Verfügung stellen kann. Zum Beispiel kriegen sie von uns oft Stäblein angeboten, mit denen sie spielen können. Dann rufe ich sie in den Experimentierraum rüber. Zum Beispiel: »Freddie!« Und Freddie fliegt herüber zu mir – obwohl er mich nicht gesehen hat –; und jetzt steht da nur eine Röhre auf dem Tisch, in der Futter drinnen ist. Es gibt keinen Lösungsvorschlag von meiner Seite. Er muss sich also erinnern, dass er ja drüben diesen Stick gekriegt hat. Und tatsächlich fliegt er wieder in die andere Voliere, klaubt den Stick auf, kommt wieder her und holt sich damit das Futter aus der Röhre heraus.
Wenn man so was gesehen hat! – Leute, die uns beim Einfangen geholfen haben und nach drei Monaten wiedergekommen sind, waren teilweise total baff, was aus den Vögeln geworden ist. Einfach, weil die Vögel mit uns schon so eine Routine entwickelt haben, so eine Freude am Arbeiten und es für sie schon immer spannend war, mit uns in die Experimentierabteile reinzugehen und zu schauen, was wir heute für sie vorbereitet haben.
Das Interessanteste war für mich aber immer wieder, einfach nur ihr Verhalten über die Monate zu beobachten. Zu sehen, wie sich ihre Persönlichkeiten herausentwickeln. Geradschnabelkrähen schauen ja mehr oder weniger identisch aus. Sie sind komplett schwarz gefiedert. Aber ich hab teilweise schon nimmer auf ihre Markierung am Fuß schauen müssen, um zu wissen, welcher Vogel wer ist. Manche sind zum Beispiel extrem verspielt. Und wenn ich sehe, dass einer immer mit dem Stabl herumläuft und es irgendwo reinsteckt, dann weiß ich: »Ah, das ist Freddie, der wieder mit einem Stabl herumspielt.« Und solche natürlichen Verhaltensweisen nachher als Basis für gute wissenschaftliche Daten zu haben; zeigen zu können, dass es in verschiedensten Setups überall auf der Welt möglich ist, mit wilden Tieren – obwohl es keinen direkten Kontakt gibt – in einer Kooperation zu arbeiten, das ist echt schön.
Trotzdem ist das Freilassen für mich immer der Tag, auf den ich mich am meisten freue. Weil ich weiß: Die Vögel leben danach wieder dort, wo sie hingehören. Vorher schau ich natürlich, dass sie besonders viel Futter kriegen; dass sie, auch wenn sie im Freien zuerst nichts finden, auch gar nichts brauchen. Dann fahren wir sie zu dem gleichen Gebiet, wo ich sie gefangen habe. Und ich hab da eben mein eigenes kleines Abschiedsritual, wo ich dem Vogel dafür danke, dass er die letzten Monate so gut mit mir zusammengearbeitet hat und dass ich hoffe, dass er ein langes, erfolgreiches Leben führen wird. Und dann lass ich ihn frei.
Die meisten fliegen da gleich auf den höchsten Baum, schütteln sich dort ein paar Mal, weil sie, dadurch dass ich sie gehalten habe, Stress loswerden müssen – und in dem Moment haben die im Wald lebenden Krähen meistens schon gemerkt, dass da ein anderer Vogel wieder da ist und fangen an zu rufen. Das sind diese Kontaktrufe, die sie haben. Einmal waren innerhalb von einer Minute dreißig, vierzig Krähen da, haben gerufen und die freigelassenen Vögel begrüßt. Die fangen dann meistens ebenfalls an zu rufen. Und ich bin auch überzeugt, dass sie erkennen, wer da ruft.
Letztes Jahr hab ich einen Vater mit seiner Tochter freigelassen. Wobei die Tochter schon die ganze Zeit unglaublich geschrien und auf meine Hand eingepickt hat. Sie wollte einfach weg! Und dann lass ich zuerst sie gehen und als nächstes ihren Vater. Er fliegt rauf in den Baum – und plötzlich kommt ein anderer Vogel aus der anderen Richtung vom Wald her. Beide geben diese Kontaktrufe von sich. Der andere Vogel setzt sich neben den Vatervogel auf den Ast und die zwei begrüßen sich – so richtig mit Schnabel an Schnabel, Kopf an Kopf und aufbauschen. Und das dürfte die Partnerin gewesen sein! Die Mutter des anderen Vogels und seine Partnerin; die nach vier Monaten sofort gecheckt hat, dass er es ist. Dass er zurück ist.
Die zwei sind dann nebeneinander im Baum gesessen und haben sich gegenseitig geputzt. Und nach zwei Minuten sind sie gemeinsam in eine andere Richtung weggeflogen. Das war einfach so schön! Weil ich gedacht hab: da ist durch die Gefangenschaft nix zerstört worden.
Ich habe auch oft den Fall gehabt, dass ich an den Fangstellen im nächsten Jahr auf neue Vögel gewartet habe und plötzlich Vögel vom Vorjahr – markierte Vögel – runtergekommen sind und sich Futter geholt haben. Solche Vögel fangen wir natürlich nicht. Das wissen sie auch mit der Zeit. Aber es ist beruhigend zu sehen: »Ach, das ist der Black vom letzten Jahr, dem geht’s gut. Er kommt jetzt schon mit seinen eigenen Jungvögeln her.«
Und deswegen sehe ich diese ganze Arbeit mittlerweile auch ganz positiv. Das Einfangen hat mir zwar jedes Jahr schiach getan; aber ich hab ja jetzt gewusst: Wir schaden ihnen nicht dauerhaft.
Heuer bin ich dann am nächsten Tag wieder in den Wald gegangen; einfach nur, weil ich sie noch mal sehen wollte, weil da halt schon mein Herzblut dranhängt. Ich hab noch ein bissel Fleisch mitgehabt und hab das auf den Bäumen ausgelegt. Nach zehn Minuten sind zwei von den Vögeln hergeflogen. Einer davon war eine von meinen markierten Krähenfrauen von diesem Jahr – hat sich auf den Ast gesetzt und zu Fressen angefangen. Und das war gut zu sehen, dass sie zwar nicht nahe zu mir kommen – das sollen sie auch gar nicht; sie sollen wild bleiben –, aber dass sie sofort runterkommen und fressen.
Und das ist was – da bin ich immer noch dankbar dafür, dass ich die Erfahrung habe machen können, mit so vielen verschiedenen Vögeln zu arbeiten; ich kann nimmer durch die Stadt gehen oder am Land durch den Wald und Vögel sehen und nicht dieses Gefühl haben, dass ich Dinge über sie weiß, die anderen Leuten leider unerschlossen bleiben. Manchmal, wenn ich hier im Tiergarten Schönbrunn oder im Schlosspark bin und die Krähen beobachte, was da an Kommunikation und an Sprache passiert – oft muss ich dann wieder an die Vögel auf Neukaledonien denken. An Dan zum Beispiel, der einmal besonders gutes Futter in der Voliere hängen gehabt hat. Und sein Bruder ist in der nächsten Voliere gestanden und hat reingeschaut; hat aber nicht zum Futter können. Nach einiger Zeit hat Dan ein Stückl Futter genommen und hat’s seinem Bruder durchs Gitter durchgereicht. Dass der auch was hat! Wenn man sowas bezeugen kann: Das zeigt einfach, dass bei den Tieren so viel mehr da ist, als wir ihnen generell zuschreiben.