Detlef Busse hat über vierzig Jahre lang als Tierpfleger im Zoo von Hannover gearbeitet.
Conny war ein Orang-Utan – circa fünf Jahre alt, also jungerwachsen –, der im Urwaldhaus des Zoos Hannover gelebt hat. Und meine tägliche Aufgabe als Menschenaffenpfleger war unter anderem, morgens das Gehege zu reinigen; das heißt, die Holzwolle, die dort noch gut war, auf einen Haufen zu schmeißen und den Rest aus der Anlage rauszufegen. Was ich auch an dem Morgen tat, als meine Vorgesetzten auf einmal an der Fensterscheibe standen und mich rausriefen. Im Zoo gibt es ja jeden Morgen so ’ne Art Visite, wo der Direktor mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Tierarzt alle Bereiche besucht. Man redet dann meist darüber, wie der gestrige Tag war, was es an neuen Aufgaben gibt. Aber an diesem Tag gab es irgendwelche Unstimmigkeiten. Ich weiß heute gar nicht mehr, um was es ging. Was ich allerdings noch genau weiß, ist, dass der Zoodirektor mich sehr deutlich zusammengefaltet hat, da vor der Panzerglasscheibe.
Ich bin dann wieder zurück ins Gehege, hab mir meinen Besen geschnappt – aber mit dem Kopf war ich natürlich noch gar nicht richtig anwesend, weil ich immer überlegt habe, was nun der Chef gesagt hat, ob er recht hat oder ob nicht vielleicht doch ich recht habe. Auf einmal kam Conny und klammerte sich um meine Beine. Und so ein Orang, der hat ja Arme und Beine, mit denen er klammern kann. Das heißt: Ich konnte keinen Schritt mehr gehen. Also habe ich versucht, Conny von meinen Beinen loszumachen. Ging nicht! Sie hing an mir wie eine Klette. Bis ich irgendwann sagte: »Conny, jetzt nicht!«, und sie so richtig von mir weggedrängte. Da warf sie sich rückwärts in die Holzwolle und trommelte sich auf den Bauch; was ja bei den Menschenaffen eine Art Unmutsverhalten ist. Erst dadurch kam ich wieder in der Situation an und dachte: »Ey, was ist da eigentlich gerade passiert – dass Conny diese Reaktion gezeigt hat?« Und erst dann hab ich begriffen, dass sie durch die Scheibe gesehen hatte, wie ich diese Zurechtweisung von meinem Vorgesetzten bekam. Und dass sie mich im Grunde nur trösten wollte. Und ich hatte sie zurückgeschubst, zurückgedrängt, wie auch immer.
Man kommt auf ganz andere Gedanken, wenn man so einem Affen in die Augen schaut und sich wirklich auf ihn einlässt. Da sind die Gedanken wieder frei
Menschenaffen sind ja, was Empathie betrifft, sehr speziell. Auch im Vergleich zu den anderen Affen. Gegenüber Pavianen und so weiter. Zum Beispiel, wenn ich morgens mit guter Laune ins Menschenaffenhaus gekommen bin, haben mich die Affen eigentlich den ganzen Tag nur zum Narren gehalten. Die haben den Pott festgehalten ... Die Affen trinken ihre Milch ja aus dem Topf raus. Den hielten sie dann fest, gaben ihn mir nicht wieder, fingen sozusagen an, mich am Gitter damit zu verarschen. Oder sie haben mir an den Klamotten rumgezupft, mich gepiesackt, oder wie man das sonst bezeichnen möchte. Hab ich aber mal einen schlechten Tag gehabt, bin ich morgens mal nicht fröhlich gelaunt und pfeifend ins Haus gekommen, waren die alle ganz artig.
Das heißt, wenn man als Menschenaffenpfleger in einem Zoo arbeitet, ist der Kontakt – und das auch im geistigen Bereich, im emotionalen Bereich – sehr, sehr groß. Man liest sich gegenseitig. Also die Körpersprache, das Empfinden des jeweils anderen. Und man versteht das. Und das ist beidseitig. Wenn für mein Dafürhalten ein Affe nicht gut drauf ist, hinterfrage ich sofort die Situation: »Halt, was ist da passiert? Ist er krank, hat er schlechte Laune, muss ich ihn irgendwie aufbauen ...?« Aber umgekehrt ist es auch so. Der Affe denkt sich: »Oh, der Pfleger ist gut drauf, da kann ich heute alles machen.« Und wenn der Pfleger nicht gut drauf ist: »Wie kann ich ihn aufbauen? Wie kann ich ihm helfen?« Das ist ’ne echte gegenseitige Beziehung zwischen Menschenaffe und Menschenaffenpfleger.
Ich hab mich dann in dieser Situation mit Conny einfach zu ihr in die Holzwolle gelegt und wir haben ’ne ganze Weile miteinander gespielt. Und zwar wirklich miteinander. Das ist ja immer ’ne Interaktion – dass eben beide was machen. Dazu muss man wissen, dass das in den Achtzigern war. Also noch zu einer Zeit, als man als Tierpfleger zu den Menschenaffen reingehen durfte. Heute darf man ja nicht mehr reingehen, wegen der Berufsgenossenschaft; weil man zum Beispiel ’ne Gelbsucht kriegen könnte. Was aus Sicht der Berufsgenossenschaft vielleicht gerechtfertigt sein mag – aber ich sag’s mal so: Heute Menschenaffenpfleger zu sein und die Menschenaffen nur noch mit Gummihandschuhen anzufassen und einen Mundschutz zu tragen – so wie es in einigen Zoos Stand der Dinge ist –, das ist nicht die Menschenaffenpflege, die ich gelernt hab.
Bei uns gab es immer unmittelbaren Kontakt. Man hat auf das Gesicht des anderen geachtet. Man hat Streicheleinheiten bekommen, die man eben nicht durch einen Gummihandschuh gespürt hat oder gegeben hat. Und auf diesen Kontakt habe ich mich immer gefreut. Das war für mich das Highlight in meinem Beruf. Futter schneiden, saubermachen, das kann jeder andere auch. Aber den direkten Kontakt zu einem Affen zu haben; die Berührung zu haben; einen Affen auch mal in den Arm zu nehmen – dieses ganze aufeinander bezogene Handeln –, das ist schon ganz klar das Wichtigste in meinem Leben gewesen.
Und da vergisst man auch die Zeit. Conny und ich haben dann ’ne ganze Weile in der Holzwolle gesessen. Und danach war’s für den Orang wieder gut – und bei mir war der Ärger mit dem Chef auch wie verflogen. Man kommt ja auf ganz andere Gedanken, wenn man so einem Affen in die Augen schaut und sich wirklich auf ihn einlässt. Da sind die Gedanken wieder frei. Das ist was ganz besonderes, eine Beziehung zu einem Tier zu haben, das so tiefgründig ist.
Und irgendwann bin ich eben wieder aufgestanden, hab das Gehege ausgefegt und dieser Tag ist noch ein ganz schöner Tag geworden. Trotzdem der Anfang nicht so gut gelaufen war.