Prof. Dr. Michael Schrödl ist Artenforscher an der Zoologischen Staatssammlung München.
Als Meeresschneckenforscher taucht man immer wieder in Umgebungen, die erst mal nicht sonderlich interessant aussehen. In Peru stieg ich mal in ein Hafenbecken, in dem es nur Algendreck und wabernde Grünalgenschleier zu geben schien. Aber auf einmal saß da so ein großer Schwarzer Seehase. Seehasen sind fast schalenlose Schnecken, die bis zu einem halben Meter groß werden, mit zwei Tentakelpaaren, von denen das obere wie das Löffelpaar eines Hasen aussieht. Also wirklich ziemlich putzig. Wobei es vor Peru eine tiefschwarze Art gibt, die ich vorher noch nie gesehen hatte und von der ich auch wusste, dass von ihr noch kein einziges Exemplar in einem Museum existiert, um daran zu forschen.
Ich dachte: »Hm, eigentlich würde ich dich schon gerne mitnehmen und in ein Glas stecken!« Das ist ja oft das Dilemma – ein echter Konflikt –, in dem wir Forscher uns befinden. Ich nehm nix mit, was ich nicht brauche. Ich gönne den Tieren natürlich ihr Leben und ihre Freiheit. Aber wenn es von einer bestimmten Art noch kein einziges Exemplar für die Wissenschaft gibt: Das geht dann auch wieder nicht. Denn um zu wissen, was man schützen will, muss man erst mal erkennen, was vorhanden ist. Und das muss man erforschen und beweisen können. Dafür existieren zoologische Sammlungen. Wissenschaft an sich. Und deshalb ist meine Default-Einstellung – die ich auch den Studenten vermittle – immer erst mal: mitnehmen! Weil, ich bin kein Seehasen-Streichler. Ich bin Forscher. Und zwar ein leidenschaftlicher Forscher, der noch dazu weiß, dass das außer ihm niemand tut – dort in Peru.
Ich bin kein Seehasen-Streichler. Ich bin Forscher.
Jetzt hatte ich aber gerade keine Tüte dabei, die groß genug gewesen wäre und dachte: »Wenn ich ihn nicht gleich mitnehme, finde ich ihn in all dem Algenschlonz nie wieder.« Also nahm ich ihn und setzte ihn auf meinen Oberarm. Seehasen lassen sich ohne Weiteres nehmen. Sie sind nicht sehr schreckhaft. Vielleicht auch deshalb, weil sie wegen ihrer chemischen Schutzsubstanzen kaum natürliche Feinde haben. Ein anderer Abwehrmechanismus besteht darin, sich einfach fallen zu lassen und mit der Strömung in Richtung Boden zu schweben. Oft ist man dann auch als Schnecke ruckzuck außer Gefahr. Oder man schwimmt weg. Ich weiß nicht, wie es bei dieser Art ist, aber viele Seehasen können schwimmen oder zumindest ein bisschen durchs Wasser flattern. Das wäre auch noch eine Option für ihn gewesen. Aber mein Seehase tat nichts von alldem. Er hatte sich inzwischen an mir festgesaugt und saß da in aller Seelenruhe.
Dann ging’s also los – wobei ich anfangs immer noch darauf achtete, dass er sich nicht doch noch fallen ließ. Aber dann sah ich: Okay, er hat seinen Vorderkörper mit den Tentakeln aufgestellt und schnuppert so richtig in den »Fahrtwind«. Anscheinend fand er das alles gar nicht so unangenehm, sondern genoss den Eindruck, von mir durchs Wasser geschippert zu werden. So etwa: »Wow! So schnell war ich ja noch nie unterwegs!« Genau so fühlte sich das an. Und der restliche Tauchgang war gar nicht so kurz. Wir brauchten fast eine halbe Stunde bis zum Einstieg. Aber er saß da – die ganze Zeit in entspannter Seehasen-Habachtstellung auf meinem Arm – und bewegte sich nicht weg.
Und deshalb brachte ich es am Schluss nicht mehr über’s Herz, ihn in eine Tüte zu stopfen und hernach einzuschnapsen, wie wir sagen; das heißt, in einem Glas mit Alkohol zu übergießen. Das konnte ich meinem Tauch-Spezl dann nicht mehr antun. Also setzte ich ihn wieder zwischen die Algen und ließ ihn weitermümmeln. Wodurch er zu einer der wenigen Schnecken gehört, die jemals von mir verschont wurden, obwohl ich sie gebraucht hätte.
In seinem kürzlich erschienenen Buch »Unsere Natur stirbt« erklärt Michael Schrödl, was für fatale Folgen der Verlust der Biodiversität haben kann. Er setzt sich auch für das Volksbegehren zur Rettung der Artenvielfalt in Bayern ein.