Ich war noch in der Schule. Das muss 1943/1944 gewesen sein. Da war ich acht, neun Jahre alt. Und ich wollte – das war mein großer Wunsch – immer in den Zoo. Nur waren wir nicht so reich. Wir konnten uns das nicht leisten. Mein Vater war taub; er war in Meersburg in der Taubstummenanstalt gewesen. Aber ich wollte nie einen anderen Vater haben. Er war ein ganz toller Kerl. Es war auch lustig mit ihm. Er hat eine besondere Art gehabt, mit Kindern umzugehen.
Also musste ich mir überlegen, wie ich ohne zu zahlen in den Zoo komme. Gewohnt haben wir am Totentanz. Das ist am Rhein. Und ich wusste, dass es in der Johanniterbrücke, oben drin, sehr viele Tauben gab – und fand einen Weg, wie ich unter die Brücke kommen und dort welche fangen konnte. Mit denen ging ich dann in den Zoo: »Ich hab die gefunden. Haben Sie Verwendung ...?« – »Ja, ja«, ich könne nach hinten gehen. Ich wusste ja schon, wo die Metzgerei war. Das ging etwa alle vierzehn Tage so. Später hab ich mir was Neues ausgedacht: »Ich züchte weiße Mäuse.« Das hat ziemlich gut geklappt. Ich durfte dann immer kostenlos in den Zoo.
Nachher kam die Zeit, in der ich eigentlich etwas lernen sollte. Ich ging in die Grafik. In die grafische Anstalt. Hab eine Lehre angefangen. Aber es ging da nicht wie erhofft. Und wie’s der Zufall so wollte: Mein Chef musste immer wieder Sachen für den Zoo machen. Ich musste dort viel hinbringen. Und darüber und über einen Freund, der damals schon Elefantenwärter war, kam ich dem Ganzen wieder näher. Und Professor Lang, der inzwischen Direktor war, hat auch noch geholfen. Hat gesagt, ich könne dort arbeiten. Und so war ich also drin. Wobei man als Pfleger erst mal jeden Dienst lernt. Und währenddessen merkt man schon, wo etwas stimmt für einen. Zunächst war ich im Antilopenhaus. Dann kamen die Büffel dran. Und irgendwann auch die Affen. Die Kleinaffen und endlich die Menschenaffen.
Wenn der Stefi richtig verärgert war, hat er seine Hand nach hinten gepackt und reingeschissen. Und plötzlich – tschong! – schmiss er den Dreck raus.
Damals war Carl Stemmler noch Chefpfleger und die Menschenaffen waren noch im Vogelhaus untergebracht; auf der einen Seite Gorillas und auf der anderen Seite Orangs. Und Schimpansen waren auch noch irgendwo nebendran. Aber als ich anfing, ging da überall schon seit Jahren niemand mehr hinein in den Käfig. Weil’s zu gefährlich war. Zum Glück hatte ich ein gewisses Feeling. Ich konnte die einzelnen Charaktere verstehen. Zum Beispiel: Nachdem mein Vater ja taub war, konnte ich Taubstummensprache. Ich konnte vom Mund ablesen. Darum hab ich, als einmal ein neuer Orang zu uns kam, sofort gesehen: »Der ist taub. Der reagiert nicht auf Töne.« – »Nein, das ist nicht der Fall«, hieß es. Er war aber wirklich taub. Er war einer der Versuchs-Orangs aus Amerika, wo man mit Menschenaffen alle möglichen Sprachexperimente gemacht hatte. Schlimme Sachen wurden da angestellt.
Trotz allem hat es eine Zeit lang gedauert, bis ich zu ihnen reinging. Bis ich – durchs Gitter – die ersten Freundschaften aufgebaut hatte. Irgendwann habe ich mir gesagt: »So, Burschi, jetzt geh rein.« Und dann bin ich gegangen. Ich weiß noch: Die Achilla – ein erwachsener weiblicher Gorilla – war total überrascht; war aber sehr freundlich zu mir; hat mich befühlt, hat mich beschnuppert ...
Einmal war ich wieder bei Achilla im Käfig und hab mir gedacht: »Ja nun, ich hol nen Tisch und Stühle; dann können wir uns setzen«; hab den Tisch relativ weit vorne beim Gitter hingestellt, Stühle dazu ... Auf einmal steht Achilla auf, nimmt den Tisch, stellt ihn in die Mitte, nimmt den Stuhl, setzt sich drauf ... Was ich nicht wusste: Carl Stemmler hatte – Jahre zuvor, als sie noch kleiner war – auch immer einen Tisch drin gehabt, mit zwei Stühlen. Und hat dann in der Mitte gefüttert. Das wusste sie noch. Und hat mir sofort alles umgestellt. Dachte ich: »Probierst du es das nächste Mal wieder.« Und tatsächlich: Es hat ihr nicht gepasst, dass sie vorne sitzen sollte. Also hab ich gesagt: »Ja, okay, machen wir’s halt hier.« Aber ich bin auch ohne irgendwelche Dinge in den Käfig rein. Ohne Tisch und Stuhl. Das ging. Sie hat mich umarmt ... Ich hab’s gut gehabt mit ihr.
Aber die Charaktere sind natürlich unterschiedlich; sehr sogar. Goma zum Beispiel war von Hand aufgezogen. Sie war überhaupt der erste Gorilla in Europa, der im Zoo geboren worden war. Eigentlich war ich auch mit ihr gut Freund. Nur hatte sie eine Spezialität: Wenn die anderen Leute – das heißt: die anderen Gorillas; ich sag oft aus Versehen »Leute«, aber das sind alles Gorillas – wenn die richtig Rabatz miteinander machten und einer aus diesem Knäuel den Fuß raushielt, kam Goma und biss ihm da schnell rein. Für mich war das Feigheit. Das hatte sie sich bei den Menschen abgeschaut. So ein: »Ich hab zwar nichts damit zu tun, aber ich beiß dem schnell mal in den Fuß.«
Normalerweise sind Tiere ja sehr geradeheraus. Zum Beispiel der Stefi. Das war unser großer Silberrücken. Wenn der so richtig verärgert war, hat er seine Hand nach hinten gepackt und reingeschissen. Und plötzlich – tschong! – schmiss er den Dreck raus. Da musstest du aufpassen. Und der hatte eine Präzision!
Eines Tages kam Professor Lang zu mir und sagte: »Wir haben hohen Besuch. Bundespräsident Heuss.« Wobei ich mich nicht mehr erinnern kann, ob er »Alt-Bundespräsident« gesagt hat oder ob Heuss noch im Amt war. Stefi war gerade im Außenkäfig und der Lang hat gefragt, ob er mit dem Besuch einmal zwischen Publikum und dem Stefi durchlaufen könne und wieder zurück. Es gab da einen Gang für die Wärter: Auf der einen Seite, zum Publikum hin, mit Glasscheibe und auf der anderen Seite, zum Stefi hin, mit Gitterstäben. Ich hab gesagt: »Wir müssen aufpassen. Der Stefi macht solche Dinge. Das macht ihm wohl Spaß. Aber für uns ist es nicht so spaßig.« – »Ja, ja«, hat der Lang gesagt, »ich passe schon auf.« Also hab ich ihn machen lassen. Hab den Stefi beobachtet. Und merkte dann schon: Er hat was vor. Hab gerufen: »Aufpassen! Jetzt wird’s gefährlich. Er schmeißt!« Lang fragt: »Was?« Und in dem Moment holt Stefi aus. Lang schiebt Heuss gerade noch auf die Seite und bekommt die Scheiße selber an den Kopf.
So etwas Ähnliches hab ich mit Professor Lang noch mal erlebt. Allerdings im Innenkäfig. Und zwar war das beim Pepe. Der wurde später auch ein Silberrücken. Aber damals war er einfach ein Lausbub. Lang kam rein. Mit Krawatte. Ich sag: »Vorsicht, der Pepe geht auf Krawatten los.« Lang geht zu den Eisenstäben hin – und da war’s für Pepe natürlich ein Leichtes, ihn zu schnappen. Und Lang: »Helfen Sie mir! Schnell!« Pepe hat dermaßen an der Krawatte gezogen! Lang wurde schon langsam blau im Gesicht. Ich hatte zu tun, dass Pepe losließ. Gorillas haben ja unglaubliche Kraft.
Ich hatte mit Nico noch zwei Stunden das größte Theater, bis er mir den Daumen gegeben hat. Erst für eine große Rübe konnte ich den Daumen eintauschen.
Einmal ging so eine Situation leider nicht mehr glimpflich ab. Und zwar war der Stemmler, unser Chefpfleger, damals gerade pensioniert worden und wollte mit einer Seniorengruppe in den Zoo, seine Affen vorführen. Und da gab’s eben den Nico, den großen Orang-Mann. Das war ein Riese. Zweihundert Kilo! Zu dem ging damals niemand mehr hinein. Ich sag: »Carli, du musst aufpassen. Der Nico hat mit dir noch eine Rechnung offen.« Und dort war’s auch wieder so: Man konnte zwischen Scheibe und Gitter durchgehen. Nur durftest du natürlich nicht ans Gitter ran. Die Orangs konnten da zwar kaum durchfassen. Aber sie sind ja schnell – und auch schlau. Und beim Stemmler war’s so: Er wollte halt mit Nico spielen. Und Nico hatte zwar große Hände. Wirklich große Hände. Bei ihm gingen nur zwei Finger durch die Gitterstäbe. Aber er hatte Kraft für zehn Elefanten. War fast schon verrückt stark. Und wie gesagt sehr schnell. Er hat Stemmler am Daumen gepackt und ihm den ganzen Daumen abgerissen. Nicht gebissen – abgerissen! Herausgerissen, mit der Daumenwurzel und einem Stück Sehne. Ich hab sofort mit einem Stück Schnur, das ich hatte, abgebunden, und Stemmler kam ins Spital. Aber ich hatte mit Nico noch zwei Stunden das größte Theater, bis er mir den Daumen gegeben hat. Erst für eine große Rübe konnte ich den Daumen eintauschen. Aber es hat nicht mehr gereicht. Der Daumen war nicht mehr zu retten.
Ich selber bin zum Glück nur ein einziges Mal wirklich gebissen worden. Und das war im Affekt. Ausgerechnet von Achilla, die mir sogar ihr Junges gegeben hat. – Aber dann ist Folgendes passiert: Das Junge hat immer bei ihr getrunken, aber nach einer Zeit wollte sie es nicht mehr an die Brust lassen. Hab ich gedacht: »Was ist los?« Hab dann allerdings gemerkt: Sie hat einen Knoten in der Brust. Das heißt, ich hab’s gespürt, als sie mich umarmt hat. Also hab ich dem Professor Lang Bescheid gesagt und wir haben sie betäubt und ihr die Brust ausgepumpt. Sie hatte einfach einen Milchstau. – Am anderen Tag bin ich wieder zu ihr rein. Und das war nicht gut. Als ich reinkam, stand sie auf, kam zu mir und umarmte mich. Weil sie das immer machte. Aber diesmal – grrr! – wurde sie wild; weil ihr die Brust weh tat. Dann versuchte sie zuerst, mich am Unterarm zu beißen – war ihr zu hart –, dann bei der Armbeuge, und zum Schluss hat sie meinen Oberarm regelrecht durchgebissen. Ich hatte natürlich einen Schock. Es hat nicht geblutet. Keine Schmerzen. Nix. Aber ich hab gesagt: »So, Mädchen, ich geh raus. Da ist etwas schief.« Hab zugemacht. Bin raus. Ruf Professor Lang an: »Achilla hat mich gebissen.« Und in dem Moment, als ich das sag, fing’s an zu bluten. Und dass durchgebissen war, weiß ich, weil der Arzt mit dem Spachtel auf der einen Seite rein ging – und auf der anderen kam er wieder raus.
Die Freundschaft mit Achilla hat das trotzdem nicht getrübt. Letztlich können sich Freundschaften auch nur so entwickeln: wenn man bei ihnen drin ist, wenn man mit ihnen zusammen ist. Eine Zeit lang hatte ich, immer wenn ich bei ihr war, den einen oder anderen Zoologen vor dem Käfig sitzen. Die hockten da und schrieben. Auf die Art erfährt man vielleicht, was ein Tier tut. Seinen Charakter lernt man so nicht kennen. Das funktioniert nur, wenn man auf Du ist. Ein Wissenschaftler kommt dem Tier in der Regel nicht mal so nah, dass er weiß, wie es riecht und so etwas. Gorillas zum Beispiel riechen gut. Für mich zumindest. So etwas spielt ja auch eine große Rolle.
Und trotzdem wird man als Mensch – wenn man bei ihnen drin ist – immer wieder erleben, dass sie nicht mal versuchen, einen in ihr Leben einzubeziehen. Du bist bei ihren Spielen nicht erwünscht. Weil du anders bist. Deswegen kommst du auch nie in den Clan hinein. Das geht nicht. Du kannst nie in ihre Welt eintreten. Du bist immer außenstehend.
Aber auf eine Art bin ich sogar froh, dass sie mich nicht einbezogen haben. Ich hätte da sowieso nicht mithalten können. Denn erstens: Menschenaffen sind einfach zu stark. Und zweitens: Sogar ein nett gemeinter Biss macht beim Menschen Löcher. Vor allem die Gorillas spielen schon sehr rau miteinander. Stefi, der große Mann, war besonders rough. Den ließen wir damals gar nicht mehr zu den anderen. Das war einfach ein zweihundertdreißig Kilo schwerer Affe. Mit einer gewissen Wildheit, die ich durchaus zu schätzen wusste. Aber in der Gruppe war er oft grob geworden. Mit ihm gab’s einmal eine Situation – im selben Außengehege, in dem er mit Scheißdreck geworfen hatte. Das war teilweise überdacht und die Decke bestand aus einbetonierten Glasbausteinen. Die waren armdick. Und er hat einen dieser Bausteine – Boing! – oben rausgehauen. Mit einem Schlag!
Aus solchen Gründen hatte ich, wenn ich zu den anderen reinging, immer einen Schlüssel dabei. Meinen Spezialschlüssel für die Dreikantschlösser. Und wenn sie ganz arg wild wurden, hab ich den Schlüssel in die Hand genommen; damit ich auch mal eine Kopfnuss geben konnte, wenn’s zu viel wurde.
Ansonsten hab ich halt versucht, meine eigene Art von Spiel mit ihnen zu spielen. Meine Brille haben sich praktisch alle aufgesetzt. Als Plausch (Anmerkung: schweizerisch für »Spaß«). Oder zum Beispiel habe ich mich oft zu ihnen reingesetzt. Und weil das Publikum ja was sehen wollte, saßen wir teilweise zu fünft oder sogar zu sechst oben auf einem langen Podest. Mit Jambo habe ich Äpfel geteilt. Manchmal hat er den Apfel in den Mund genommen und dann mir hingestreckt. Damit ich auch einen Biss habe. Das war schön! Ich hab allerdings – wenn wir auf dem Podest saßen – von ihnen verlangt, dass sie ihre Zehen halten. Also: Ein Fuß hält den großen Zeh des anderen. In dieser Position konnten sie wenigstens keinen Schabernack treiben. Das haben sie ganz brav gemacht. Immer den großen Zeh gehalten. Und ich hab’s ihnen gleichgetan und meine Beine verschränkt. Das haben wir jeden Tag gemacht; und sind zufrieden gewesen miteinander. Die Leute – also die Gorillas – hatten den Plausch daran, dass einer sich mit ihnen beschäftigt. Und die Leute draußen haben geklatscht ...
Und das alles ist genau das, was ich mit Freundschaft meine. Man freut sich, wenn man zusammenkommt. Man plagt sich nicht gegenseitig. Sondern respektiert sich. Ich bin jetzt seit zwei Wochen in meinem sechsundachtzigsten Lebensjahr. Aber ich würde auch heute noch zu ihnen reingehen; was man ja leider nicht mehr darf. Für mich ist das wunderschön gewesen. Natürlich müsste ich sie zuerst kennenlernen. Ich kenne sie ja nicht mehr. Sie sind alle gestorben. Pablo zum Beispiel. Das war ein alter Schimpansen-Mann, von dem ich noch gar nicht erzählt habe. Der war kräftig! Der hat rumgedonnert! Aber gleichzeitig war er so ein lieber Kerl. Ich habe ihn noch oft besucht. Und wenn er mich gesehen hat – jetzt ist ja alles vorbei –; ich hab die Hand an die Scheibe gelegt, er kam herunter, hat die Hand genauso an die Scheibe gelegt, hat genau das Gleiche gemacht wie ich. Und dann saßen wir da ...