Tom Putzgruber aus Salzburg betreibt seit zwanzig Jahren den Tierschutzverein RespekTiere.
Von unserem Verein gibt’s eine Initiative, die nennt sich respekTIERE IN NOT. Da fahren wir verschiedene Stellen an, vor allem in Osteuropa, wo wir Leuten helfen, die sich selbst für Tiere einsetzen. In diesem Falle gibt’s eine junge Frau in Rumänien, die heißt Aurelia. Die hat damals in einem Einfamilienhaus in Craiova gewohnt und nebenbei ein kleines Asyl betrieben. Hat dort ungefähr hundert Straßenhunde versorgt. Völlig mit Eigenmitteln, völlig unter Aufopferung all ihrer Möglichkeiten. Und hat in ihrem Haus selber auch noch um die fünfzehn Hunde gehabt.
Vor diesem Haus tauchte eines Tages ein Hund auf – Tom haben wir ihn später genannt. Und Tom war nach üblichen Maßstäben nicht unbedingt ein wunderschöner Hund. Das war so ein brauner, struppiger. Aber er hatte eine sehr ausdrucksstarke Persönlichkeit. Man hat ihn gesehen und wollte mit ihm kommunizieren. Vor allem: Er wollte kommunizieren. Er hatte eine ganz ausgeprägte Körpersprache. Und wenn’s irgendwo Streit gegeben hat, ist er sofort dazwischengegangen und hat seinen Charme gleichermaßen auf beide Seiten verteilt.
Zuerst wollte Aurelia ihn in ihr Asyl bringen; hat das auch mehrmals versucht, aber jedes Mal, sobald er dort war, hat er sich hingelegt, hat die Ohren hängenlassen und mit seiner ganzen Gestik gezeigt, dass er sich absolut nicht wohlfühlt. Wenn sie ihn wieder vor’s Haus zurückgebracht hat, hat er sofort wieder die Ohren aufgestellt ... Und weil er auch nicht ins Haus wollte – er ging einmal kurz mit rein und wollte gleich wieder raus –, hat Aurelia schließlich angefangen, vor dem Haus Hundehütten aufzustellen und ihn dort zu füttern.
Wenn die ganzen Gefahren und Entbehrungen nicht wären, wär’s auf der Straße eh ein viel besseres Hundeleben als in irgendeiner Wohnung in der Stadt, wo der Hund zweimal am Tag kurz rauskommt.
Dazu kamen bald noch zwei andere Hunde. Eine ganz alte Hündin mit komplett vernarbtem Gesicht sowie eine junge Hündin mit nur einem Auge. Die haben wir One-Eye genannt. Die drei haben dann ein Rudel gebildet, sind meistens vor dem Haus gewesen und haben sich dort offensichtlich sehr wohl gefühlt. Am Anfang war noch die alte Hündin mit den vielen Narben die Rudelführerin. Aber bei Straßenhunden gibt’s ja teils heftige Territorialkämpfe mit anderen Rudeln. Und ich glaube, dass die alte Hündin in dieser Hinsicht so ein bisschen die Jahre gemerkt hat. Sie hat ein wenig gehumpelt, war von daher nicht mehr so schnell ... Und deswegen hat es sich über längere Zeit immer mehr so eingespielt, dass Tom der Rudelführer war. Weil er einfach der Junge, Starke war. Aber das ging ohne Streit vonstatten. Die Rolle ist ihm mehr oder weniger zugefallen. Und die alte Hündin hat sich auch, glaube ich, in ihrer neuen Rolle sehr wohlgefühlt.
Auf jeden Fall sind wir da halt ungefähr alle sechs Monate runtergefahren. Und jedes Mal, wenn wir hingekommen sind, hat uns Tom stürmisch begrüßt. Es hat bei ihm gar keine Berührungsängste gegeben, so wie’s ja bei Straßenhunden oft der Fall ist, weil sie einfach schlechte Erfahrungen mit Menschen machen. So gesehen war die Situation vor dem Haus sicher fast schon ideal. Wir haben natürlich immer wieder überlegt, ob wir Tom nach Österreich bringen sollten oder nach Deutschland, um ein Zuhause für ihn zu finden, sind aber nie wirklich zu einem Schluss gekommen. Man hat halt gesehen, wie glücklich er auf der Straße ist. Noch dazu, wo er jetzt unter Schutz von Aurelia stand. Sie hat die Hundefänger von der Stadt gekannt. Die haben gewusst: Die Hunde gehören zum Haus. Haben sie in Ruhe gelassen. Sie sind täglich gefüttert worden ... Für einen Straßenhund ist das natürlich ein Paradies, weil, wenn die ganzen Gefahren und Entbehrungen nicht wären, wär’s auf der Straße eh ein viel besseres Hundeleben als in irgendeiner Wohnung in der Stadt im fünften Stock, wo der Hund zweimal am Tag kurz rauskommt. Für Tom wäre das wahrscheinlich eine Katastrophe gewesen.
Dann sind wir einmal kurz vor Weihnachten wieder runtergefahren. Und wenn wir nach Osteuropa fahren, mache ich oft kleine Kundgebungen, um die Leute auf das Leid der Straßenhunde aufmerksam zu machen, die dort ja immer noch getötet werden. Und das habe ich an diesem Abend auch gemacht. Es war, glaube ich, der 22. Dezember. Acht, neun am Abend. Und es war stockfinster. Es hat stark geschneit. Ich hab mir eine belebte Straßenkreuzung gesucht. Alleine. Ungefähr einen halben Kilometer vom Haus von Aurelia entfernt. Hab neben der Straße meine Transparente montiert. Damals hab ich immer dieses Transparent verwendet, wo auf Englisch oben stand: »Todesstrafe für Unschuldige? – EU: Stoppt das Töten von Straßenhunden!« Und hab mich dann halt in Skelettkostüm und Totenkopf-Maske hingesetzt. Hatte noch eine blutverschmierte Decke umhängen, eine zerrissene EU-Fahne und, damit die Leute den Bezug zum Land sehen, eine Rumänien-Fahne. Und das ist etwas, was den Behörden dort meistens nicht gefällt, wenn man die rumänische Fahne verwendet. Da bin ich schon vier- oder fünfmal verhaftet worden.
Dann bin ich dort eben im Schneetreiben gesessen, ungefähr eine Stunde lang, war schon ganz eingeschneit und wollte den Platz eigentlich wieder verlassen – auf einmal kommt ein Polizeiauto, und drei Polizisten steigen aus, kommen her ... Und wenn osteuropäischen Polizisten etwas nicht passt, zeigen sie dir das meistens sehr deutlich. Wahrscheinlich waren sie schon aufgrund der extremen Wettersituation böse. Dass sie überhaupt in den Einsatz fahren mussten. Weil, sie waren nicht zufällig vorbeigefahren, sondern gerufen worden. Sie haben dann sehr streng, im Befehlston, nach dem Ausweis gefragt. Haben gesagt, was ich da mach, das geht nicht, das ist verboten, und wollten mich mitnehmen, um mich auf dem Posten zu verhören. Ich hab noch versucht mit ihnen zu diskutieren ...
Und auf einmal taucht, wie aus dem Nichts, aus dem Schneegestöber, Tom auf. Ich bin bei einer Laterne gesessen, und deswegen war’s im weiteren Umkreis eher schwarz. Schießt da aus diesem Nichts heraus. Kommt als erstes zu mir her, lässt sich streicheln, geht dann zu den Polizisten, zu jedem einzelnen, tut da ein bissel rum, lässt sich wieder streicheln und kommt zurück zu mir, stützt sich mit den Vorderpfoten auf meinem Oberschenkel ab – ich sitz noch immer auf meinem Stuhl – und beginnt, mir das Gesicht abzuschlecken. Trotz der Totenkopfmaske!
Ich hab natürlich – weil ich bei solchen Aktionen immer eine Kamera dabei habe, aus der Hüfte heraus noch ein paar Bilder gemacht, wo man auch die Polizei so ein bissel erkennt. Und hab dann gesehen, wie sich bei dem ersten Polizisten das Gesicht entspannt. Auf einmal sagt er zu mir in gebrochenem Englisch: »Man sieht: Der Hund weiß, dass du Gutes tust.« Und dass ihm das genügt. Dann hat er mir den Ausweis zurückgegeben. Und ich hab gesagt: »Was heißt das jetzt? Muss ich jetzt gehen?« Da hat er gesagt: »Nein, du kannst ruhig sitzenbleiben. Aber pass auf, weil, heut ist’s wirklich kalt.« Was ich als recht nett empfunden habe.
Dann drehten sie sich um, gingen zum Auto – und als sie im Auto saßen, ging auch Tom wieder in dieselbe Richtung in die Nacht, aus er hergekommen war.
Ich hab mich natürlich gefragt, wie er mich überhaupt gefunden hatte. Wenn die Kreuzung gleich beim Haus gewesen wäre, hätte er mich vielleicht sehen können. Aber mich hat das so fasziniert, weil, ich hatte mir ja einen guten Platz gesucht. Aurelias Haus liegt so ein bisschen abseits. Und darum war ich relativ weit davon entfernt ... Hab mir dann aber schlussendlich gedacht, dass es egal ist. Und dass das einfach doppelt und dreifach gut ist. Weil, die Polizisten werden diese Geschichte weitergegeben haben. Und sie werden sie ähnlich weitergegeben haben, wie auch ich sie empfunden habe. Sie waren ergriffen gewesen. Das hatte man gesehen. Und sie werden, glaube ich, Straßenhunde danach mit anderen Augen angeschaut haben.
Nachtrag: Tom blieb sein ganzes restliches Leben bei Aurelia und überlebte mit ihrer Hilfe und Medikamenten von RespekTiere dann auch noch eine schwere Krankheit. Ein paar Jahre später starb er friedlich an Altersschwäche.