»Die Deutschen sind hier Gastarbeiter«

Wir haben uns einen Tag lang in ein Wiener Kaffeehaus gesetzt und mit lauter Menschen gesprochen, die wir mögen: über die großen Themen und die kleinen Dinge. Es wurde das erste Stadtgespräch in der Geschichte des SZ-Magazins, viele weitere sollten folgen.

Die Idee: Ein Experiment.
Der Ort:
Das Café Engländer in Wien.
Die Gäste: 12 Menschen, die uns interessieren.
Die Zeit:
4. Dezember, Mittag bis Mitternacht.
Die Themen:
Adorno, Deutschland, Burn-out, Haider, Demenz, Fußball, Kehlmann, die RAF, Zahnärzte, Selbstmord, Cordon bleu, Österreich.
Das Ergebnis: ... ein Experiment.

"Die Deutschen sind hier Gastarbeiter"

Wien, das »Café Engländer« im 1. Bezirk. Es ist 14:35 Uhr, immer noch sind viele Mittagsgäste da. Rechts neben dem Eingang hat das »SZ-Magazin« einen großen Tisch bis zur Sperrstunde reserviert. Als erster Gast trifft der Künstler Erwin Wurm, 55, ein.

SZ-Magazin: Wie geht es Ihnen?
Wurm: Wieder gut, danke. Ich bin gerade am Auge operiert worden, gegen Grauen Star. Man liegt bei vollem Bewusstein da, dann klappen sie einem das Auge auf und stechen mit einer langen Nadel hinein. Aber alles nicht so schlimm …Kellner: (bringt heiße Zitrone) Herr Professor, bitte höflichst.
Wurm: Sagen S’ doch nicht immer Herr Professor. Danke sehr.

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SZ-Magazin: Wir haben für Sie Zettel mit Fragen vorbereitet. Wollen Sie eine ziehen?
Wurm: Das ist ja wie bei den japanischen Zen-Meistern. Jetzt kommen sicher die Fragen des Lebens. (Öffnet ein Zettelchen.) »Was ist alt und gut?« Verstehe ich nicht. Muss ich antworten?

SZ-Magazin: Sie müssen gar nichts.
Wurm: Wir können ja über Wien reden. Dass jetzt so viele Deutsche zu uns kommen. Und wir uns so überschwemmt fühlen. Und ihnen gegenüber benachteiligt. Weil sie so ein gutes Deutsch sprechen und wir nicht.

SZ-Magazin: Was wollen die denn alle in Wien?
Wurm: Studieren. Bis vor Kurzem hat es in Österreich für die meisten Fächer keine Studienplatzbeschränkung gegeben. Eh klar, dass die dann zu uns kommen. Die Frage ist: Wie können wir das bewältigen, ohne dass unsere Studenten einen Frust kriegen?

SZ-Magazin: Seit Wochen sind die Hochschulen in Österreich besetzt. Doch nicht wegen der deutschen Studenten?
Wurm:
Nein. Die Deutschen sind ja überall. Wenn man früher nach Tirol gefahren ist, haben da vielleicht ein paar Italiener oder Tschechen gearbeitet. Jetzt sind es lauter Deutsche. In den Sechzigern und Siebzigern waren die Österreicher Gastarbeiter in Deutschland.

SZ-Magazin: Viele österreichische Journalisten sind es noch immer.
Wurm: Wo sollen die bei uns auch schreiben? Wir haben viele gute Schriftsteller. Werner Schwab. Robert Menasse, Thomas Bernhard, die Jelinek. Wenn ich nachdenke, fallen mir noch zwanzig ein. Keine Ahnung, wieso dann die Zeitungen so schlecht sind.

SZ-Magazin: So schlimm?
Wurm:
Das hängt mit der nicht vorhandenen Gesprächs- und Diskussionskultur zusammen. Wir sind 600 Jahre lang von einer einzigen Familie regiert worden, den Habsburgern. 600 Jahre restriktiver Polizei- und Militärstaat. Und dazu die katholische Kirche, die auch nicht gerade meinungsfreiheitsfördernd war. Zwischen diesen Blöcken ist irgendwie der österreichische Charakter entstanden.

SZ-Magazin: Wir Deutschen bilden uns ein, der Österreicher habe Geprächskultur.
Wurm: Bitte?

SZ-Magazin: Diese Kaffeehauskultur …
Wurm: Geh bitte, da geht es doch nicht um einen Meinungsaustausch, da geht es um das Rechthaben. Der Österreicher streitet gern und ist schnell beleidigt.

SZ-Magazin: Warum ist er so wehleidig?
Wurm: Wenn ich das wüsste. Ich bin nicht der Staatspsychologe.

SZ-Magazin: Ihnen bedeutet das Kaffeehaus nichts?
Wurm:
Ich sitze nicht stundenlang bei einer Tasse Kaffee herum. Das freut mich nicht mehr, und Zeit hab ich auch keine. Heute gehe ich ins Fitnesscenter. Vielleicht eine Alterserscheinung.

SZ-Magazin: Man sagt, Künstler sitzen den ganzen Tag im Café.
Wurm:
Ich nicht. Ich habe auch nie jemanden kennengelernt, der im Kaffeehaus geschrieben hat. Der Werner Schwab zum Beispiel hat nie im Kaffeehaus geschrieben. Der hat sich irgendwo unten in der Steiermark verkrochen und versteckt geschrieben. Zugedröhnt zwar, aber doch versteckt.

SZ-Magazin: Wie lange ist es jetzt her, dass er gestorben ist?
Wurm:
15 Jahre? Könnte sein. Der Werner war ein Jugendfreund. Bis es unerträglich wurde. Ich habe keinen zweiten Menschen kennengelernt, der seine Kreativität so ausschließlich aus der Aggression geschöpft hat. Seine Mutter war Putzfrau, der Vater Alkoholiker, und er hat alles gehasst, was mit normaler Familie, Bürgerlichkeit zu tun hatte. Er war sehr frühreif, sehr belesen, sehr intelligent, aber dieser Hass …

"Wir sind so arm und bedeutungslos"

15 Uhr. Der Regisseur Stefan Ruzowitzky, 48, kommt an den Tisch.

SZ-Magazin: Woher kennen Sie beide einander?
Wurm:
Na, den Ruzowitzky kennt man ja.
Ruzowitzky: Ich bin seit zwei Jahren eine Celebrity in Österreich. Da läuft man den anderen Celebritys dauernd über den Weg. Wir beide haben uns erst letztes Wochenende getroffen. Bei zwei Gänsen und einem Truthahn.
Kellner: Begrüße Sie, entschuldigen Sie, Herr Ruzowitzky, was darf es für Sie sein?
Ruzowitzky: Einen Tee, bitte.
Kellner: Schwarztee? Medizinaltee? Früchtetee?
Ruzowitzky: Schwarz, schwarz. Ohne nix …danke …

SZ-Magazin: Wie lebt es sich als Celebrity?
Ruzowitzky:
Nett. Ich bin ja nicht Celebrity, weil ich stadtbekannter Päderast bin, sondern weil ich einen Oscar gewonnen habe.
Wurm: Es hieß gleich: Wir sind Oscar! Sei froh, dass der Kellner noch »Herr Ruzowitzky« sagt und nicht »Grüß Gott, Herr Oscar«. Zum Ruhm kommt erschwerend hinzu, dass die Kollegen einen hassen.

SZ-Magazin: Ist das auch bei Ihnen so?
Ruzowitzky: In Österreich herrscht die Meinung: Wir sind so arm und bedeutungslos, dass man eh keine Chance hat. Wenn dann einer kommt, der eigentlich auch keine Chance hat und es dennoch schafft, dann …Wurm: Dann heißt es: Wieso der und ich nicht? Das muss ein Arsch sein. Oder er schleimt sich ein.

SZ-Magazin: Werden Sie auf der Straße erkannt?
Ruzowitzky:
Inzwischen schon. Ich war aber auch bei der Promi-Millionenshow und beim Opernball und beim Life Ball. Ich lerne eben jetzt Leute kennen, die ich sonst nicht kennengelernt hätte. Den Herrn Wurm hätte ich wahrscheinlich nichtsdestoweniger kennengelernt.
Wurm: Beim Roberto zum Beispiel.
Ruzowitzky: Das ist mein Zahnarzt.
Wurm: Meiner auch. Roberto ist ein Magnet.
Ruzowitzky: Er ist jedermanns Zahnarzt, der König der Zahnärzte.
Wurm: Auch von irgendwelchen Scheichs. Oder Habsburgern.
Ruzowitzky: Roberto vernetzt. Er macht Partys. Er ist befreundet mit der Daisy Treichl, die seit einigen Jahren den Opernball organisiert, und die sagt dem Roberto, er soll für eine Loge ein paar Promis ankarren. Und so komme ich dann zum Opernball.
Wurm: Ich hab den Roberto sogar auf einem Foto.
Ruzowitzky: In der Brieftasche?
Wurm: Ich habe ihn für eine meiner Arbeiten fotografiert. Als schwulen Priester.

"Beim Walzer wird mir immer schlecht"

15:45 Uhr. Lotte Tobisch, 83, die große Dame der Wiener Gesellschaft, ist eingetroffen.

Tobisch: Ich möchte nur eines wissen: Worüber reden wir?

SZ-Magazin: Das wollen wir alle wissen. Sie kennen einander?
Ruzowitzky:
Nicht persönlich.

SZ-Magazin: Das ist Stefan Ruzowitzky, Filmregisseur.
Tobisch:
Ich weiß. Nicht alle, die man nicht kennt, müssen einem vorgestellt werden.

SZ-Magazin: Wir haben gerade über die Wiener Gesellschaft geredet. Auch über den Opernball, den Sie von 1981 bis 1996 organisiert haben.
Tobisch:
Ich kann Ihnen versichern: Der Opernball war nie das Zentrum meiner geistigen Existenz. Es war ganz unterhaltsam, aber selten ist mir ein Abschied in meinem Leben so leicht gefallen wie nach diesen 15 Jahren.

SZ-Magazin: Was machen Sie heute?
Tobisch:
Ich bin hauptberuflich Schnorrer für den Verein »Künstler helfen Künstlern«, dessen Präsidentin ich bin. Wir betreiben ein schönes Altersheim in Baden bei Wien für alte Künstler. Bei uns leben dreißig Leute, die werden uralt, weil die Pflege so gut ist.

SZ-Magazin: Sind die alten Künstler noch sehr theatralisch?
Tobisch:
Das kommt vor. Wenn man sehr alt ist und niemanden mehr hat, was bleibt einem da, außer die Triumphe von damals?

SZ-Magazin: Hat der Opernball heute noch eine Bedeutung?
Tobisch:
Natürlich ist er nicht mehr zeitgemäß. Aber er ist Attraktion und bringt ein Geld, wieso soll man das nicht machen? An und für sich war ich die falsche Besetzung. Ich tanze keinen Walzer. Um nichts auf der Welt, da wird mir sofort schlecht. Und ich trinke keinen Alkohol und ich hasse Cocktailpartys.
Wurm: Perfekt!

SZ-Magazin: Können Sie uns das Wiener Bürgertum erklären?
Tobisch: Na ja, meistens gleitet das ja ab ins Spießbürgertum, und das ist ein Albtraum. Reaktionär.
Ruzowitzky: Reaktionär, genau. Wenn es zum Beispiel darum geht, in welchem Bezirk man wohnt, nämlich im 18. oder im 19. Und falls man im 17. wohnt, versucht man sich zu retten, indem man sagt, dass man in Neustift wohnt – da, wo die Arbeiter nicht sind.
Tobisch: Ich bin im 1. Bezirk geboren, mit einer Villa im 19. Bezirk. Aber gerade deshalb bin ich so, wie ich bin. Wenn ich aus dem 17. Bezirk käme, hätte ich vielleicht bloß das Bedürfnis gehabt, mich irgendwann in den 19. Bezirk zu verbessern. Aber weil ich aus dem 19. komme, hatte ich das Bedürfnis, aus all dem herauszugehen.

16:10 Uhr. Erwin Wurm verabschiedet sich.

Wurm: Ich muss aufs Land. Hat mich gefreut, auf Wiedersehen.
Tobisch: Ich habe als junge Frau beschlossen, zum Burgtheater zu gehen, und mir ein Zimmer genommen. Und dann habe ich viele Jahre mit einem Mann gelebt, der viel älter war als ich. Meine Familie hat sich immer nur bekreuzigt, wenn wir gekommen sind. Ein Spießrutenlauf. Aber einmal hat jemand gesagt: Es gibt nur zwei Liebesgeschichten – die von Romeo und Julia und die von der Lotte Tobisch. Wenn man mit Shakespeare verglichen wird, kann man es aushalten.

SZ-Magazin: Herr Ruzowitzky, wollen Sie uns noch etwas zum Wiener Bürgertum sagen?
Ruzowitzky:
Auf welche Schulen man seine Kinder schickt, ist immer noch ein großes Thema. Da gibt es zum Beispiel das Schottengymnasium oder das Theresianum. Da werden dann die Kinder von den Eltern für die Vorstellungsgespräche trainiert: Rede in ganzen Sätzen, schau den Leuten in die Augen. Und wenn sie es schaffen, lernst du andere schicke Eltern kennen, das ist nämlich der Schmäh. Dann werden deine Kinder eingeladen, auf Skiurlaub nach Kitzbühel und lauter so Sachen bis hin zum Opernball, und du hast gute Chancen, dass sie sich höhergestellt paaren. Das Erste, was der Wiener Bürger fragt, ist: Aus welchem Bezirk sind Sie?
Tobisch: Ich käme nie auf die Idee. Vielleicht machen Sie das, ich nicht.

"Eine Dame muss auch "Arsch" sagen können"

16:20 Uhr. Stefan Ruzowitzky verabschiedet sich.

SZ-Magazin: Frau Tobisch, Sie sind lange mit dem Philosophen Theodor W. Adorno befreundet gewesen. Wie kam es dazu?
Tobisch:
Er hat sich von mir an seine Jugend erinnert gefühlt, als er in Wien Musik studiert hat. Der Teddy hat es immer eine anachronistische Jugendbeziehung genannt. Sie hat wie alle Beziehungen bei Adorno damit angefangen, dass er hübsche blonde Frauen mochte. Als er gemerkt hat, dass da nichts zu holen war, hat sich eine zweckfreie Beziehung entwickelt.

SZ-Magazin: Warum hing er so sehr an Wien?
Tobisch:
Wegen Schönberg, wegen Berg, wegen des Jugendstils. In Wien hat ihn die Atmosphäre angezogen, diese gewisse Dekadenz. Er war ja in mancher Hinsicht merkwürdig. Seine Liebe zu Aristokratinnen zum Beispiel, das war ja grotesk. Mich hat er immer zur Gräfin gemacht. Na ja. Er hat an den Adeligen
gemocht, dass sie keine Bürger waren.

SZ-Magazin: Vermutlich hat die Aristokratie selten gehalten, was er sich von ihr versprochen hat.
Tobisch:
Wie heißt es so schön: Nicht bloß Kinder speist man mit Märchen ab.

SZ-Magazin: Sie werden oft als Dame bezeichnet. Behagt Ihnen das?
Tobisch:
Na ja. Eine Dame, die nicht »Arsch« sagen kann, ist keine Dame, und damit Schluss.

"Für mich war die Schauspielerei eine Therapie"

16:30 Uhr. Die Schauspielerin Nina Proll, 36, kommt an den Tisch.

Proll: Wer war denn schon da?

SZ-Magazin: Stefan Ruzowitzky und Erwin Wurm haben uns schon wieder verlassen.
Proll:
Schade, Herrn Ruzowitzky hätte ich gern getroffen.
Tobisch: Sagen Sie, was machen Sie mit dem, was Sie da alles auf Band aufnehmen?

SZ-Magazin: Wir werden es nach den notwendigen Kürzungen drucken.
Tobisch:
Da wird alles, was ich gesagt habe, nicht drinstehen. Sondern nur die Quintessenz: Eine Dame, die nicht »Arsch« sagen kann, ist keine.

SZ-Magazin: Jetzt sitzen hier zwei gelernte Schauspielerinnen. Ist das für sie beide ein Sehnsuchtsberuf gewesen?
Proll:
Bei mir schon. Und wenn mein Mann noch so oft sagt, dass er Schauspieler doof findet, für die die Schauspielerei eine Therapie ist, muss ich trotzdem sagen: Für mich war sie eine Therapie.

SZ-Magazin: Wogegen?
Proll:
Die Schauspielerei war für mich die einzige Möglichkeit, mich freizuspielen. In meiner Familie gab es starke Regeln, was man tut und was nicht. Für mich war das ein Escape.

"Am Wörthersee versteht man Jörg Haiders Komplexe"

16:50 Uhr. Nun sind auch der Kabarettist Florian Scheuba, 44, und Martin Blumenau, 49, eingetroffen, Moderator beim Radiosender FM4.

Blumenau: Wer war denn schon aller da?
Proll: Das hab ich auch gefragt!

SZ-Magazin: Erwin Wurm und Stefan Ruzowitzky.
Scheuba:
In diesem Lokal ist auch die natürliche Fluktuation an interessanten Menschen hoch.
Proll: Da drüben sitzt Hans Hurch, der Chef von der Viennale, dem Filmfestival.

SZ-Magazin: Eine Frage, über die wir lange nachgedacht haben, ehe wir uns nach Wien begaben, lautet: Wie war der Urlaub?
Proll: Ich war in China und Vietnam, aber das war kein Urlaub, ich war zum Arbeiten da.
Tobisch: Ich gehe jetzt nach Dubai. Ich möchte mir den Turmbau zu Babel noch anschauen, bevor er einstürzt. Ich werde mir ansehen, wie die dort untergehen. Scheuba: Das muss gespenstisch sein, diese Ruinen.
Tobisch: 800-Meter-Wolkenkratzer. Unglaublich.
Scheuba: Ich will an dieser Stelle eine Lanze für den Kärnten-Urlaub brechen. Es ist wichtig, Solidarität mit den Teilen der Kärntner Bevölkerung zu zeigen, die nicht zufrieden sind mit dem, was dort abgeht.

SZ-Magazin: Versteht man Kärnten und Jörg Haider besser, wenn man am Wörthersee urlaubt?
Scheuba:
Man versteht vielleicht den Minderwertigkeitskomplex oder die Disco-Mentalität Haiders. In meiner Kindheit war der Kärnten-Urlaub noch Mainstream. Heute nicht mehr.
Blumenau: Heute trifft man dort eher die deutsche Familie. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil sich das Preis-Leistungs-Verhältnis verschoben hat.
Scheuba: Schon der alte Bruno Kreisky hat gesagt: Den Wörthersee kann ich mir nicht leisten. Dabei ist Kärnten momentan pleite, weil die Politiker das Geld aus dem Fenster geworfen haben.
Proll: Nicht nur in Kärnten.
Scheuba: So pleite wie die ist keiner. Überlegener Platz eins.

Lotte Tobisch bricht auf. Als auf den Tonbändern wieder etwas zu verstehen ist, spricht Florian Scheuba gerade über Jörg Haider.

Scheuba: Es war für den Haider wahnsinnig demütigend, dass die FPÖ mit seinem Nachfolger Heinz-Christian Strache genauso gut funktioniert. Selbst die ärgsten Gegner Haiders haben ihm zugestanden, dass er intelligent, taktisch brillant und rhetorisch toll ist. Lauter Eigenschaften, die dem Strache nicht einmal von seinen besten Freunden nachgesagt werden. Was Haider passiert ist, muss man sich ungefähr so vorstellen: Der Brandauer spielt zuerst am Burgtheater den Hamlet und beschließt dann, seine eigene Bühne aufzumachen, und die Burg nimmt statt Brandauer den Hansi Hinterseer, und es funktioniert genauso gut! Das ist wahnsinnig demütigend gewesen, gar keine Frage.

"Politiker und Selbstachtung – das geht nicht zusammen"

17:20 Uhr. Hans Hurch, 57, Leiter des Filmfestivals Viennale, der zufällig im Café saß, kommt an den Tisch.

Hurch: Was wird das hier?
Blumenau: Ziellosigkeit.

SZ-Magazin: Wir haben an alle nur drei Fragen: Gab’s draußen einen Parkplatz? Wie geht’s der Mama? Wie war der Urlaub?
Hurch: Ich mache keinen Urlaub, ich habe kein Auto, und meine Mutter ist so dement, dass sie nicht mehr weiß, dass es mich noch gibt.
Proll: Geht es ihr gut damit oder schlecht?
Hurch: Der geht es gut. Wenn ich aufs Klo gehe und nach fünf Minuten wieder hereinkomme, freut sie sich und sagt: Mei, schön, dass du da bist.
Proll: Das ist aber schön.
Scheuba: Darf ich den Journalisten eine Frage stellen? Kennt ihr unseren Bundeskanzler Faymann?

SZ-Magazin: Eigentlich nicht.
Scheuba:
Und den Herrn Dichand?
SZ-Magazin: Den Verleger der mächtigen Kronen Zeitung …
Scheuba:
In Wahrheit ist Dichand der erste Mann im Staat. Der Bundeskanzler ist ihm und der Kronen Zeitung zu einem gewissen Grad hörig. Er war Kandidat der Krone, und als solcher regiert er.
Hurch: Dichand wollte die ÖVP unter dem früheren Kanzler Schüssel loswerden, weil er dagegen war, dass es eine Koalition zwischen Schüssel und Haider gibt. Der Haider hat ihm in der Opposition viel besser gefallen. Da war er nützlicher.
Blumenau: Schärfer!
Hurch: Haider war alles, was sich eine Zeitung nur wünschen kann. Und als Schüssel Haider in die Regierung gebracht hat, war Dichand dem Schüssel auf einmal ganz feind. Das war der Grund, warum er den Schüssel demontiert und Faymann aufgebaut hat. Das war sein Liebkind. Man sagt dem Faymann nach, dass er Dichand »Onkel« nennt, auch wenn er das selbst bestreitet.
Scheuba: Onkel Hans!

SZ-Magazin: Fehlt den österreichischen Politikern die Selbstachtung?
Hurch:
Einem Politiker muss es um die Macht gehen, um Machterhaltung, Machterringung. Das geht mit Selbstachtung nicht zusammen.

SZ-Magazin: Wenn man sich von einem Verleger abhängig macht, ist das doch Ohnmacht.
Hurch:
Aber dann bin ich Bundeskanzler. Sonst wäre ich mit Selbstachtung in Opposition.

SZ-Magazin: Sie reden über Ihr Österreich, als wäre es ein fernes seltsames Ausland.
Hurch:
Österreich ist das Beste, was es gibt!
Proll: Wien ist die Stadt mit der höchsten Lebensqualität. Es geht uns irrsinnig gut!
Hurch: Das Problem ist nicht, dass Wien nicht modern genug, sondern dass es nicht mehr rückständig genug ist. Wenn Wien gebremst hätte, wäre es in drei Jahren eine Kultstadt. Aber das hat sich niemand getraut.

SZ-Magazin: Wovon reden Sie?
Hurch:
Früher war Wien der letzte Punkt vor dem Osten. Dahinter hat das Niemandsland begonnen. In dem Moment, wo der Eiserne Vorhang aufgegangen ist, war Wien plötzlich nur eine weitere Stadt in Europa.
Blumenau: Man hätte eine neue Philosophie gebraucht, die auf den Fall des Eisernen Vorhangs reagiert hätte. Aber abgesehen von den Banken und der Industrie hat niemand reagiert.
Hurch: Ich lebe seit 36 Jahren in Wien, ich leite ein internationales Filmfest, ich reise nach Buenos Aires, aber ich war noch nie in Bratislava und in Budapest.

SZ-Magazin: Die Wiener haben eine so routinierte Art, Missstände mit einem freundlichen Lächeln zu beschreiben …
Scheuba:
Der Widerstand reduziert sich in Wahrheit auf die Kunst. Es bleibt bei den Hofnarren und den Kasperln hängen, sich zu Wort zu melden und zu sagen: Das ist ein Wahnsinn. Dann klopfen uns die Leut auf die Schultern und sagen: Super.

SZ-Magazin: Gibt es denn gar keine Hoffnungsgestalt, die nicht aus der Kunst kommt?
Hurch:
Nennen Sie mir eine Hoffnungsgestalt aus Deutschland.
Proll: Den Guttenberg?
Hurch: Na, danke schön, solche haben wir auch. Bei uns heißen sie Karl-Heinz Grasser.
Scheuba: Aber der Grasser mit seinen Affären, das ist schon ein Unterschied.
Hurch: Der Guttenberg ist für mich der deutsche Halbadelige mit fettig zurückgequetschten …
Proll: Das ist eine Äußerlichkeit.
Hurch: Äußerlichkeit! Es gibt keine Äußerlichkeiten. Das hat schon Augustinus gesagt: Der Körper ist die Form der Seele.
Proll: Was sagt es, wenn er sich die Haare gelt?
Hurch: Er ist ein deutscher neo-liberaler Junker. Aber mit einem demokratischen Unterbau.

SZ-Magazin: Frau Proll, Sie müssen uns noch sagen, wie es Ihrer Mutter geht.
Proll:
Sie freut sich, weil sie Großmutter geworden ist.

SZ-Magazin: Haben Sie leicht einen Parkplatz gefunden?
Proll:
Ich schicke alle zwei Stunden eine SMS, um die Parkscheine zu erneuern.
Scheuba: Handy-Parken, ah!
Hurch: Herr Scheuba hat seine Mutter im Auto eingesperrt.
Scheuba: Genau. Sie muss die ganze Zeit händisch Parkscheine austauschen.

SZ-Magazin: Wie funktioniert denn Handy-Parken?
Proll:
Man lässt sich mit seinem Kennzeichen registrieren. Dann kann man die Parkgebühren per SMS bezahlen. Alle zwei Stunden muss man eine neue SMS schicken, damit man wieder zwei Stunden parken kann.

Hurch: Stört Sie nicht, wenn jeder weiß, wo Ihr Auto steht?
Proll: Wieso jeder?
Hurch: Na ja, man kann feststellen, dass Sie Ihr Auto so und so lange geparkt haben und Sie so und so lange nicht mit dem Auto unterwegs waren, also offensichtlich irgendwo anders.
Proll: Irgendwelche Hacker können das herausfinden?
Hurch: Das bleibt unserer Fantasie überlassen. Das Verkehrsamt gibt es dem Innenministerium weiter, das Innenministerium dem Vatikan, der Vatikan …Proll: Mich stört es mehr, wenn ich einen Strafzettel kriege.
Hurch: Mir ist nur gerade eingefallen, dass man sich wieder ein Stück mehr ortbar macht.

SZ-Magazin: Und Sie, Herr Blumenau?
Blumenau:
Ich bin aus der U-Bahn-Station meines Vertrauens gestiegen. Ich würde aber gern noch auf die völlig richtige Unterstellung reagieren, dass wir abgeklärt über die Dinge sprechen, die nicht in Ordnung sind. Das hängt auch mit der Situation der hier Eingeladenen zusammen. Wenn man sich ins besetzte Audimax der Universität Wien gesetzt hätte, wäre die Situation eine andere. Dort ist die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen schon emotionalisierter.

SZ-Magazin: Werden die Studentenproteste von den Politikern nicht einfach ausgesessen?
Blumenau:
Wichtig ist, was für Konsequenzen es hat. Wenn die Konsequenz nur darin besteht, dass eine Generation, die sich bislang nicht getraut hat, Muh und Mäh zu machen, jetzt ein gesteigertes Selbstbewusstsein hat, ist das schon eine ganze Menge.

"Eine Depression ist doch etwas Schönes"

Kurz nach 18 Uhr. Gerade sind belegte Brote serviert worden. Der Experimentalphysiker Werner Gruber, 39, kommt an den Tisch.

Gruber: Grüß Gott, Mahlzeit. Für wen sind die Brote?
Alle: Für alle.
Gruber: Wieso steht bei mir der Käse und nicht die Wurscht? Na ja. Darf ich mich vorstellen: Gruber, Werner. Universität Wien, Institut für Experimentalphysik. Mit Neurophysik verdiene ich mein Geld, aber das interessiert medial keinen. Trete gemeinsam auf mit den Science-Busters, der wohl schärfsten Science-Boy-Group des Universums, um der Bevölkerung Physik näher zu bringen.
Hurch: Nach welchen Überlegungen haben Sie hier denn eingeladen?
Gruber (zündet sich eine Zigarette an): Jetzt ist das ein Rauchertisch. Ich habe übrigens vor, in zwei, drei Wochen mit dem Rauchen aufzuhören. Der Trick ist: Es gibt ein Belohnungssystem im Gehirn, und wenn man das eine Woche lang füttert, hat man keinen Gusto auf Zigaretten mehr. Ich setze auf Psychopharmaka und nehme ein leichtes Antidepressivum. Schauen wir mal, wie es mir dann geht. Und meiner Umgebung.
Blumenau: Drogen sind super, oder?
Gruber: Für mich gibt es medizinische Gründe. Wenn in der Früh der Husten 20 Minuten dauert, sind das 20 Minuten Arbeitszeit, die dir nachhängen. Worüber reden wir? Das Universum?
Scheuba: Wir haben schon über Dichand, Kärnten und das SMS-Parken geredet.
Gruber: Also noch nicht über schwarze Löcher?
Blumenau: Doch, doch. Schüssel, die anderen Schwarzen, alles schon erledigt.
Hurch: Kennt Ihr den Begriff Burn-out? Ich hör das immer nur … wie sind die Menschen denn dann?

SZ-Magazin: Antriebslos. Müde und gleichzeitig aufgekratzt.
Blumenau:
Aufgekratzt und ideenlos? Das klingt nach großer Koalition.
Hurch: Ich finde, das klingt interessant. Kann man das künstlich herbeiführen?
Proll: Ja. Doppelt so viel arbeiten.
Gruber: Reden wir schon wieder über Drogen?
Blumenau: Quasi. Die neue Droge ist Burn-out.
Gruber: Als Neuro-Wissenschaftler weiß ich: 80 Prozent aller Depressionen werden durch Stress verursacht. Wir haben lange nicht gewusst, wie stark das von den Hormonen gesteuert wird. Seit wir das wissen, seit fünf Jahren ungefähr, können wir fragen: Stressinduzierte oder bipolare Depression? Und entsprechend behandeln.
Proll: Was heißt bipolar?
Gruber: Mit manischen Phasen.
Hurch: Unsere deutschen Freunde fragen sich jetzt sicher, warum wir Österreicher ein so großes Interesse an der Depression haben.

SZ-Magazin: Das haben die Deutschen doch auch.
Gruber:
Aber ihr lebt es nicht aus! Ihr freut euch nicht darüber!

SZ-Magazin: Die Deutschen haben ein depressives Verhältnis zur Depression.
Blumenau:
Dabei ist das doch etwas Schönes.
Der Kellner bringt Champagner.
Proll: Oh, danke. Grade wollte ich Alkohol bestellen. Ich habe übrigens ein Au-pair-Mädchen aus Georgien, das auch fünf Jahre in Deutschland gelebt hat. Neulich hat sie zu mir gesagt: »Die Deutschen sagen ganz oft ›Scheiße‹. Aber in Österreich sagen alle immer nur ›Wurscht!‹« Eine geniale Beobachtung …

SZ-Magazin: Ist es eigentlich alles wahr, was man sich über Ihren ehemaligen Finanzminister Grasser so erzählt?
Blumenau:
Nein. Es ist …
Scheuba: … noch viel schlimmer. Beim System Grasser war einer der Knackpunkte, dass seine Freunde immer wieder profitiert haben, egal ob es um Bundesimmobilien oder Bundeswohnungen ging. Das fliegt gerade ein wenig auf. Es ist schwer nachzuweisen, wie es gelaufen ist. Aber dass etwas gelaufen ist, ist offensichtlich.
Proll: Da wurden zum Beispiel Bundesimmobilien zum Verkauf angeboten, und es gab zwei Bieter. Nun wird dem Grasser vorgeworfen, dem einen Bieter gesteckt zu haben, was der andere geboten hat, damit der Erste weiß, wie viel er bieten muss.

SZ-Magazin: Herr Scheuba, Sie sind von Grassers Ehefrau Fiona Swarovski verklagt worden, weil Sie in einem Kabarettprogramm einen Witz über sie gemacht haben. Welchen denn?
Scheuba: Das darf ich nicht sagen.

SZ-Magazin: Warum denn?
Scheuba:
Das darf ich auch nicht sagen.
Gruber: Wie ist der Prozess denn ausgegangen?
Scheuba: Mit einem Vergleich. Damit sie ihre Klage zurückzog, musste ich erklären, dass ich es bedaure, wenn meine Scherze falsch verstanden wurden. Diese Formulierung war so großartig, dass ich sofort darauf eingegangen bin. Das gilt ja für jeden Scherz! Natürlich bedauert man es, wenn man anders verstanden wird, als man es beabsichtigt hat. Jedenfalls haben wir nach diesem Prozess nicht nur einen Scherz über Fiona, sondern gleich zehn Scherze ins Programm genommen, einen eigenen Fiona-Block.
Blumenau (zu Gruber): Ich habe einmal im Deutschen Fernsehen gesehen, wie Ihnen ein Experiment missglückt ist.
Gruber: Das war beim Markus Lanz in der Sendung. Aber nur, weil die Deutschen keine gescheiten Schweizerkracher bauen können!
Blumenau: Alles muss man selber mitnehmen …
Gruber: Aber wie? Im Flieger? Keine Chance. Ich hab’s per Post verschickt. Zwei Tage später kriege ich einen Anruf vom Postzentrum: Herr Gruber, in Ihrem Paket haben wir Sprengstoff gefunden.
Scheuba: Man hat dich ja entdeckt im Deutschen Fernsehen.
Gruber: Ich bin jetzt der Haus- und Hofphysiker beim Lanz. Und das als Österreicher! Das schaffst nicht so leicht.
Blumenau: Ja ja, der deutsche Markt. Unverzichtbar.
Scheuba: Ich mache bald ein Stück. Es heißt Cordoba. Das Rückspiel und handelt von den deutschen Tschuschen in Österreich. Die Deutschen sind ja hier die zweitgrößte Gastarbeitergruppe, und bei den Neuzuwanderungen Nummer eins. Das gibt natürlich Integrationsprobleme.
"Sie wissen doch, dass Sprache etwas Grausames ist"

Kurz nach 18 Uhr. Mittlerweile sind auch die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, 59, und der Philosoph Robert Pfaller, 47, eingetroffen und haben abseits der anderen eine Unterhaltung begonnen.

Streeruwitz: Wer sind Sie?
Pfaller: Ich bin Philosoph und arbeite an der Angewandten. (Universität für Angewandte Kunst)
Streeruwitz: Wie heißen Sie?
Pfaller: Robert Pfaller.
Streeruwitz: Dann weiß ich eh alles. Wie steht’s mit der Besetzung der Universität?
Pfaller: Die Angewandte ist nicht besetzt.
Streeruwitz: Ich habe aber Plakate gesehen.
Pfaller: Sie hat sich solidarisiert. Alleine die Verschulung der Studienpläne …
Streeruwitz: Es hat niemand eine Vorstellung mehr, was Bildung ist, damit geht es los. Es gibt noch einzelne Schmuckstücke, aber der Christbaum ist nicht bekannt, auf den das gehängt wird. Warum sind Sie Professor? Was wollen Sie da?
Pfaller: Ich habe das Glück, dass auf einer künstlerischen Universität alles noch ein bisschen besser funktioniert und die Prozesse ein bisschen später greifen, von denen die anderen Universitäten bereits betroffen sind.
Streeruwitz: Unser Gespräch hier wird aufgezeichnet. Wie alle. Den Leuten muss es also darum gehen zu unterhalten. Dann gehen sie nach Hause. Und Frau Proll macht ein Gesicht, als würde sie alles verstehen, und … (unverständlich) … ins Chaos verfallen … (unverständlich) … die Grausamkeit einer gepflegten Unterhaltung.
Pfaller: Sie sind Schriftstellerin, Sie müssen doch wissen, dass Sprache etwas Grausames ist.

Marlene Streeruwitz wechselt den Platz.

SZ-Magazin: Herr Pfaller, Sie sind gerade frisch zur Runde gestoßen. Vermutlich fragen Sie sich, was hier los ist?
Pfaller: Haben Sie den Anwesenden Fragen zum Fraß vorgeworfen?

SZ-Magazin: Wie war der Urlaub? Haben Sie einen Parkplatz gefunden? Wie geht’s der Mama?
Pfaller: Wo haben Sie diese infamen Fragen denn her? Und was waren Ihre B-Fragen?

SZ-Magazin: Was ist alt und gut?
Pfaller:
Der Bic-Kugelschreiber. So etwas erfreut mich immer sehr. Dass einfache Dinge so wahnsinnig gut funktionieren und sehr schön sind. Schreibt immer. In der Nationalbibliothek in Wien liegt kopiert der Nachruf auf so einen Kugelschreiber aus, verfasst vom Herrn Tobias von der Leihstelle. Gute einfache Dinge sind oft bedroht. Universitäten auch.

SZ-Magazin: Hat die Politik die Botschaft der Studenten denn verstanden?
Pfaller:
Es gibt eine wohlmeindend aggressive Bürokratie, die von sich behauptet, im Namen der bildungsfernen Schichten zu sprechen. Ihr Argument lautet:Man muss die Studien verschulen, weil die bildungsfernen Schichten nicht wissen, wo sie hinsollen. Also müssen wir sie an der Hand nehmen und das Studium verschulen. Das halte ich für ein ganz infames Argument, das von einer tiefen Verachtung geprägt ist. Ich habe schon vor einem Jahr in einem Zeitungskommentar gefordert, dass man für alle, die das Bachelor-Studium eingeführt haben, eine Mindeststrafe festsetzt – in Form eines Bachelor-Studiums.

"Warum hat es Freud ausgerechnet in Wien gegeben?"

Kurz nach 19 Uhr. Nina Proll hat sich verabschiedet, die anderen reden weiter über Österreicher und Deutsche.

Scheuba: Neulich hat sich sogar der Herr Graf von der FPÖ über die Ausländerfeinlichkeit den deutschen Studenten gegenüber beschwert. Das muss man sich einmal vorstellen: Die FPÖ prangert den Rassismus an!
Blumenau: Es ist ja wahr!
Hurch: Man kann Deutschen gegenüber nicht rassistisch sein. Das ist ein Widerspruch in sich.
Scheuba: Der Herr Graf sieht das aber so, dass es antideutscher Rassismus ist, der im Zuge der Uni-Debatte hochgeköchelt ist. Es gab ja tatsächlich schon Vorfälle in Wien: Schlägereien von deutschen gegen österreichische Studenten.
Blumenau: Die Piefke haben sich sozusagen zusammengerottet!
Hurch: Wenn wir über die Deutschen schimpfen, ist das arischer Selbsthass. Das ist nicht irgendwie Piefke-Feindlichkeit …

SZ-Magazin: Die Bayern haben es auch nicht leicht …
Hurch:
Die Bayern müssten einfach zu Österreich gehören, dann wären sie das Problem los.

SZ-Magazin: Oder die Österreicher zu Bayern.
Hurch:
Ich bin aufgewachsen in Schärding am Inn. Das Haus war direkt am Fluss, und wenn ich hinausgeschaut habe, habe ich nach Deutschland geschaut. Ich habe immer gefunden, dass Passau viel besser zu Österreich gepasst hätte.

SZ-Magazin: Dann müssten Sie aber ganz Bayern nehmen, auch die Franken.
Blumenau:
Ein grauenerregender Dialekt. Lothar Matthäus, Daniel Küblböck (der allerdings nicht aus Franken, sondern aus Niederbayern stammt; d. Red.). Schrecklich!
Gruber: Wer ist dieser Küblböck?
Hurch: Ein berühmter Fußballer, lange Zeit Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft …
Scheuba: Der Matthäus …
Hurch: Jetzt hat er es verraten …
Scheuba: Tu ihn doch nicht ärgern, den Armen. Der glaubt das ja! Der erzählt das ja weiter!
Gruber: Ich erzähle nur Sachen, von denen ich hundertprozentig überzeugt bin. Nur, was ich selber gemessen habe.
Hurch: Das muss ein langweiliges Leben sein.
Gruber: Nein, das ist super! Ein Beispiel: Ihr habt zwei Flaschen, gleich groß. Die eine ist voll angefüllt mit Wasser, die andere nur zur Hälfte, aber sonst sind beide Flaschen gleich. Ich lasse sie aus zwei Meter Höhe gleichzeitig fallen. Welche Flasche kommt zuerst an: Die leichtere? Die schwerere?
Blumenau: Oder sie bleiben in der Luft stehen.
Scheuba: Weil irgendwelche Protonen sie stoppen.
Gruber: 90 Prozent der Menschen glauben, dass die schwerere Flasche zuerst am Boden aufkommt. Seit Galileo Galilei, das ist jetzt schon fast 500 Jahre her, kommen beide Flaschen … na ja, sind sie vorher auch schon, aber seitdem wissen wir es, kommen beide Flaschen gleichzeitig am Boden auf.

Im Hintergrund klirrt es. Und zwar so laut, dass es sich eigentlich nur um eine Flasche handeln kann.

Scheuba: Manchmal glauben die Leute etwas nicht, nur weil man es in Satire verpackt. Wir haben in unserem Programm zum Beispiel die Geschichte mit dem Zwölf-Millionen-Euro-Gutachten in Kärnten. Da hätte ein ÖVP-Steuerberater für ein mündliches Gutachten zwölf Millionen Euro bekommen sollen. Ein Geheimgutachten, das nur drei bis vier Leuten bekannt war. Mündlich vorgetragen! Und dann ist der Rechnungshof draufgekommen.
Hurch: Woher kam das Geld?
Scheuba: Vom Land Kärnten. Als es aufgeflogen ist, hat er gesagt: Ich bin ein guter Patriot, ich nehme nur die Hälfte, und hat sechs Millionen kassiert. Das war natürlich eine versteckte Parteienfinanzierung, weil das der Steuerberater eines ÖVP-Politikers war. Die haben damals tatsächlich behauptet, dass ein mündliches Gutachten zwölf Millionen Euro wert sein kann. Als wir das in unserem Programm behandelt haben, kamen nach der Vorstellung die Leute zu uns und wollten wissen, warum wir uns das ausgedacht haben.
Hurch: Kärnten tut Ihrem Programm also gut?
Scheuba: Eigentlich muss man froh sein, dass es so viele Missstände gibt. Sonst hätten wir nicht so viel zu reden. Aber wünschen tu ich mir das nicht.
Hurch: Wir definieren Restösterreich immer über Kärnten. Es ist immer komisch zu verallgemeinern, was das Österreichische ist. Aber es gibt schon Aspekte, bei denen man spürt, dass wir …
Scheuba: Das österreichische Selbstbild schwankt immer zwischen Selbstmitleid und Selbstüberschätzung.
Gruber: Größenwahn bis zum Gehtnichtmehr. Wir können alles. Wir können nach Stalingrad marschieren. Und: Wir bringen nichts zusammen, wir sind unfähig, wir sind die Letzten.
Scheuba: Perfekt zum Ausdruck gebracht in den Polen Fußball und Skifahren.
Hurch: Ich glaube, dass dieses Land kein Volk hat und dass das Volk sich nur über Niederlagen definiert. Das fängt an bei den Bauernkriegen, das geht 1848 weiter. Die Franzosen haben ihren Kaiser geköpft, sogar die Italiener haben den Mussolini erschossen zum Schluss. Bei uns hat sich der Kaiser mit dem letzten Zug nach Spanien verzwitschert. Wir mussten befreit werden, ganz am Schluss, und wir nehmen nicht einmal zur Kenntnis, dass uns die Russen befreit haben! Bei uns hat es nie das Selbstbewusstsein eines Citoyens gegeben, das Selbstbewusstsein eines Volkes. Deswegen haben wir diesen Schwang zwischen Größenwahnsinn und Depression, der nichts anderes ist als kein Identitätsgefühl.
Gruber: Das Standesbewusstsein der Köche …
Blumenau: Bitte jetzt nicht verwitzeln …
Gruber: Das meine ich ernst, das ist kein Witz! Die österreichischen Köche kommen mit Stolz ins Ausland.
Blumenau: Die österreichischen Skifahrer kommen auch mit Stolz ins Ausland, aber darum geht es doch nicht.
Hurch: Das Interessante ist, dass es in diesem Land zugleich gelungen ist, historische kulturelle Leistungen zu vollbringen. Sigmund Freud zum Beispiel. Genau aus diesem Widerspruch hat sich eine Produktivität entwickelt … aber ist ja wurscht. (Im Hintergrund sagt eine Stimme: »Wurscht! Es ist Wurscht!«)
Gruber: Warum hat es den Freud ausgerechnet in Wien gegeben?

"Wenn ihr frei denkt, tut ihr euch nur weh"

19.10 Uhr. Marlene Streeruwitz ist irritiert über Werner Gruber, der gerade am anderen Ende des Tisches stimmgewaltig sagt: »Ihr wart diejenigen, die mit dem Napoleon einmarschiert sind! Ihr wart die Feinde!«

Streeruwitz: Bitte, wer ist das?

SZ-Magazin: Werner Gruber, ein Physiker.
Streeruwitz:
Das sind die, die Teilchen aufeinanderhetzen, was? Da drüben geht es schon die ganze Zeit so aggressiv zu. Ich hör dauernd: »Ihr seid’s doch ned!«, »Des habt’s ihr doch nie!«, »Des homma nie, und überhaupt nie!« »I was eh, wie es is!« Jetzt fehlt nur noch der Satz: »Ein bissl was geht immer.«

SZ-Magazin: Man kommt ja mit zehn Formeln ganz gut durch die meisten Konversationen.
Streeruwitz:
Das ist das Geheimnis der Demenz! In der Demenz reden sie nur in solchen einfachen Sätzen. So kann sich sogar jemand, der hirntot ist, an Konversationen beteiligen und sie unter Umständen dominieren.

SZ-Magazin: Als Sie noch nicht da waren, haben wir auch schon über das Dominieren gesprochen. Über die Kronen Zeitung.
Streeruwitz:
Die Kronen Zeitung ist unglaublich patriarchal in einem sehr moralischen, altmodischen und auch monarchischem Sinn. Das ist die Weiterführung der Hofburg: Ich sage euch, was ihr denken sollt. Diese Anti-Revolutions-Haltung: Wenn ihr frei denkt, Kinder, dann tut ihr euch nur weh. Die Bild-Zeitung hat da einen liberaleren Schwung. Sie hat nur Leser, es gibt keine Leserin. Jeder, der die Bild-Zeitung liest, übernimmt das männliche Geschlecht, wird zum Mann. Wer die Krone liest, dem wird gesagt: Kind, denke nicht, ich sage es dir! In der Bild ist die Botschaft: Komm Bursche, wir laufen jetzt gemeinsam für Deutschland. Wir sind da in der Rotte, wir machen das und du wirst gut rauskommen, wenn du bei uns mitläufst.

"In Österreich richtet sich der Zorn immer nach unten"

Es muss etwa 19:30 sein. Martin Blumenau informiert sich mit seinem internetfähigen Handy über die Auslosung der Fußball-WM.

Blumenau: Deutschland hat Serbien, Ghana und Australien. Niederlande hat Dänemark, Japan und Kamerun.
Pfaller: Ist das grade ausgelost worden?
Blumenau: Ja.
Scheuba: Wen hat Brasilien?
Blumenau: Elfenbeinküste, Portugal, Nordkorea.
Scheuba: Uuuuh.
Gruber: Für Österreich ist das nicht so relevant. Es gibt zwei Fußballereignisse, die in Österreich relevant waren: das Match in Cordoba. Und: Rapid Wien wird deutscher Meister.
Pfaller: Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihr Publikum im Gelächter vereinen oder dass Sie es spalten?
Scheuba: Das ist unterschiedlich. Bevor wir in Klagenfurt aufgetreten sind, habe ich gedacht, bei den Haider-Pointen wird es Widerspruch geben. Aber nein, da war Länderspielstimmung, da war Torjubel. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass sich die Welt dadurch ändert, aber es ist ein Erfolg, wenn die Leute merken: Man kann etwas dagegen sagen, man muss sich nicht fürchten.
Pfaller: Das ist etwas, was Hans Hurch vorher gesagt hat: In Ländern, in denen Revolutionen immer gescheitert sind, richten sich die Empörung und der Zorn meistens nach unten, zum Beispiel gegen Migranten. Und in Ländern, in denen Revolutionen gelungen sind, richtet sich das nach oben.
Scheuba: Das hast du in Österreich in allen Kleinigkeiten. Bei der EU-Debatte geht es kaum um die Machtstruktur der EU, sondern um die Ost-Banden oder die Zuwanderer aus dem Osten, die uns Arbeitsplätze wegnehmen. Oder gegen Sozialschmarotzer.

"Herr Ober, mein Nachbar muss abgesaugt werden!"

19:55 Uhr. Marlene Streeruwitz und Werner Gruber prallen aufeinander.

Gruber: Meine Freundin hat mich fast geschlagen, als ich einmal gesagt habe: Ich muss noch »Tütensuppen« einkaufen. (In Österreich heißt es »Packlsuppe«.)
Streeruwitz: Von wo sind Sie?
Gruber: Aus Wien, aber ich habe relativ viel Familie in Deutschland. Ich versuche, den österreichischen Dialekt hochleben zu lassen und auch österreichische Dialektbegriffe ins Hochdeutsche zu bringen.
Streeruwitz: Das ist sicher … äh … problematisch.
Gruber: In Deutschland ist es sehr wichtig zu wissen, wie man wo korrekt beleidigt. Wenn man in Dresden oder Leipzig »Vollkoffer« sagt, können die damit nichts anfangen.
Streeruwitz hustet.
Gruber: Brauchen S’ ein Hustenzuckerl?
Streeruwitz: Das ist das Rauchen hier.
Gruber: Ich habe festgestellt, in Deutschland ist zwar Rauchverbot, aber dafür riecht es jetzt überall nach Schweiß.

SZ-Magazin: Ist neben Ihnen noch ein Platz frei?
Streeruwitz:
Jajajaja. Er sagt grade, dass es in Deutschland überall nach Schweiß riecht. Wenn Leute trinken, stinken sie immer. Das ist ja unvermeidlich.

SZ-Magazin: Aber früher hat man dagegen angeraucht.
Streeruwitz:
Rauchen ist sozusagen eine Verwolkung der anderen?
Gruber: Eine geruchsmäßige Gleichmacherei.
Streeruwitz: Eine Verwolkung, die erst Gesellschaft ermöglicht.
Gruber: In Deutschland kennt man das zweite Wohnzimmer nicht, das Kaffeehaus. Dort arbeite ich, dort nehme ich Prüfungen ab, dort mache ich Interviews. Das funktioniert tadellos.
Streeruwitz: Aber wie ist es, wenn schon früh am Morgen alle nach Rauch stinken?
Gruber: In meinem Stammcafé gibt es eine sehr starke Anlage.
Streeruwitz: Also eine technische Frage.
Gruber: Ja, so einfach ist es.
Streeruwitz: Absaugen! Herr Ober, absaugen! Saugen Sie das doch bitte ab! Mein Nachbar muss abgesaugt werden!
Kellner: Gerne, gerne, gerne.

Kurze Zeit später verabschiedet sich Marlene Streeruwitz.

Gruber: Gehen Sie schon? Hat mich gefreut, auf Wiedersehen.
Streeruwitz: Auf Wiedersehen.
Gruber: Ich merke, dass die Künstler noch immer in massiver Überzahl sind.
SZ-Magazin: Zu wenige Physiker am Tisch?
Gruber: Naturwissenschaftler.

"Der ist eine meiner Romanfiguren"

Kurz nach 20 Uhr sind die letzten beiden Gäste im »Café Engländer« eingetroffen: der Schriftsteller Thomas Glavinic, 37 und die Musikerin Gustav, 31, die mit bürgerlichem Namen Eva Jantschitsch heißt.

SZ-Magazin: Wie geht es Daniel Kehlmann?
Glavinic: Kehlmann ist komischerweise jener Mensch, auf den ich am häufigsten angesprochen werde.

SZ-Magazin: Weil Sie befreundet sind?
Glavinic: Weil in einem meiner Romane der Ich-Erzähler heißt wie ich und eine Romanfigur wie er. Die Leute nehmen ja alles für bare Münze, was sie lesen.

SZ-Magazin: Ist es nicht angenehm, ein öffentliches Alter Ego zu haben? Dann hat doch das wirkliche Ego seine Ruhe.
Glavinic:
Nicht, wenn dieses Alter Ego unbedachterweise ein hysterisch-neurotischer Alkoholiker ist. Dann hält einen niemand mehr fähig zu einem normalen Gespräch. Es ist anstrengend, wenn die Leute eine Vorstellung von einem haben. Selbst wenn die Vorstellung stimmen würde, wäre es nicht angenehm.

Hans Hurch bricht auf und verabschiedet sich auch von Thomas Glavinic.

Glavinic: Der kommt in meinem Roman vor. Ist eine Romanfigur von mir.Hurch: Ich streiche mir nachdenklich durch den Bart, oder? (streicht sich dabei nachdenklich durch den Bart)

SZ-Magazin: Und das im Anschluss an die Beschwerde, die Leute würden die Figuren in Ihrem Buch mit der Realität verwechseln …
Glavinic:
Das eine widerspricht dem anderen doch nicht. Trinken wir noch ein bisschen?
Gustav: Hast du den Preis bekommen, für den du nominiert warst?
Glavinic: Ich weiß zwar nicht, welchen du meinst, aber die Antwort ist bestimmt nein.
Gustav: Du warst in irgendeiner Bestsellerliste. Die deutsche … wie heißt denn das, wo du da reingekommen bist? (Gustav meint den Deutschen Buchpreis, auf dessen Longlist Glavinics Roman »Das Leben der Wünsche« stand, um dann in der Shortlist nicht mehr aufzutauchen. d. Red.)
Glavinic: Keine Ahnung.
Gustav: Doch, das weißt du, du hast bei Interviews davon gesprochen.Glavinic: Längst vorbei.
Gustav: Die fünf bestverkauften oder beliebtesten … der deutschen Literatur …
Glavinic: Wir möchten das Thema wechseln. Wir möchten bitte über andere Dinge reden.
Gustav: Ich muss mich ja auch informieren …
Glavinic: Ja eben!

"Dieser Aristoteles war ein Trottel"

Kurz nach 20 Uhr, anderswo am Tisch.

Pfaller: Der Clarence Seedorf kann etwas, was ganz wenige können: spielerische Dichte erzeugen. Er steht am Sechzehner und wartet. Wartet, bis die ganze Viererkette … dann läuft er einen Schritt und hebt den Ball …
Scheuba: Da kommen Dinge zusammen, die sich nicht übers Hirn erklären lassen. Diese Form von Wahrnehmung, die der Typ haben muss.
Gruber: Wen vernichtet ihr gerade?
Scheuba: Wir sind ganz freundlich, es geht um Fußball.
Gruber: Was keiner glauben mag: Ich war einmal Tanzlehrer. Damals war ich auch nicht viel dünner als jetzt. Kein Schmäh, lateinamerikanische Tänze.
Scheuba: Respekt.
Gruber: Heute keine Chance mehr, die Kondition. Aber ich schau mir das immer noch gern im Fernsehen an. Ich übertrage meine Vorlesungen ins Internet, das ist wie Fernsehen. Brauchst nur eingeben: Gruber Werner Gehirn oder Gruber Werner Schweinsbraten.
Scheuba: Schweinsbraten hat eine eigene Seite?
Gruber: Klar, Papierflieger auch. Ich habe mich gefragt, wieso ich eine steigende Studentenzahl in den Vorlesungen habe, wenn man sich doch alles im Internet anschauen kann. Da hocke ich mich doch mit WLAN ins Kaffeehaus. Die Studenten haben gesagt: Live sind Sie besser.
Scheuba: Gruber unplugged.
Gruber: Habt ihr gewusst, dass alle Menschen von acht Frauen abstammen? Das sind unsere Urmütter.
Blumenau: Und wo sind die hergekommen?
Gruber: Aus Afrika, man kennt sogar das Tal.
Scheuba: Die Basis! Eine Selbstfindungsgruppe war das. Ein Töpferkurs.
Gruber: Oder eher ein Feuermach-Kurs.
Scheuba: Oder Kohlenlaufen.
Gruber: Kohlenlaufen gibt es erst seit 1350. Vorher gibt es keine urkundliche Erwähnung.
Blumenau: Auch so ein völliger Schwachsinn.
Gruber: Dafür zu bezahlen ist Schwachsinn. Aber wenn ich als Physiker zeige, dass ich über Kohlen laufen kann, weil die Gesetze der Physik für alle gelten, finde ich das nicht schwachsinnig.
Blumenau: Sich einer potenziellen Gefahr auszusetzen finde ich Schwachsinn.
Gruber: Als Physiker weiß man, dass das keine Gefahr ist. Dieses Wissen gibt mir Sicherheit!
Blumenau: Es sind schon viele ums Leben gekommen durch die Sicherheit ihres Wissens.
Gruber: Da kenne ich keinen Einzigen. Von den Physikern ist bei uns schon lange keiner mehr gestorben. Wir haben Selbstmorde am Institut, wir haben Morde gehabt, wir haben Schlägereien. Aber dass einer sich bei einem Experiment wehgetan hätte, ist nie vorgekommen.
Blumenau: Jetzt vielleicht. Aber in den letzten Jahrhunderten haben die großen Experimente genug Opfer gefordert.
Gruber: Welche?
Blumenau: Sagen wir, die Geschichte der Polar-Expeditionen.
Gruber: Das waren keine Naturwissenschaftler, das waren Abenteurer. Wenn dieselben Bedingungen bestehen, ist das Resultat immer dasselbe.
Blumenau: Geh bitte, die Bedingungen! Das Leben funktioniert nie unter denselben Bedingungen.
Gruber: Dann könnten wir nicht leben, wenn es so wäre.
Blumenau: Kein Moment ist in unserem Leben wiederholbar!
Gruber: Außer in Experimenten, und das reicht.
Blumenau: Mich interessiert aber das Leben.
Gruber: Griechische Philosophen sind jahrtausendelang gescheitert an den elementaren Fragen des Lebens. Dann ist Galilei gekommen und hat gesagt: Burschen, lasst uns verallgemeinern.
Blumenau: Das stimmt ja so nicht.
Gruber: Vor Galilei waren das alles Trotteln. Was hat Aristoteles schon geleistet?
Blumenau: Er war mit Sicherheit kein Trottel.
Gruber: Schwerkraft ist keine Idee. Das weiß jeder Pilot. Schwerkraft ist immer. Alleine die Erkenntnis, dass morgen die Sonne aufgeht, rettet in Amerika wahrscheinlich 10 000 Leuten das Leben. Bei den Azteken sind 10 000 Leute geopfert worden, damit am nächsten Tag die Sonne aufgeht.
Blumenau: Das hatte wohl eher philosophische und psychologische Gründe.
Gruber: Das zeigt, dass Psychologen und Philosophen nicht unbedingt auf der richtigen Seite sind.
Blumenau: Ich bin ja gar nicht gegen das Experiment. Ich bin nur gegen die Fetischisierung des Experiments.
Gruber: Das ist kein Fetisch! Ich habe andere Fetische: Schweinsbraten. Prost. Sind wir wieder gut?
Blumenau: Eh spitze. Passt eh.
Gruber: Einem Experimentalphysiker sagen, Experimente brauchen wir nicht: na ja.

"Die RAF war nur ein Kindergartenverein"

20:35 Uhr. Robert Pfaller und Martin Blumenau haben sich verabschiedet, Florian Scheuba spricht über Deutsche und Österreicher.

Scheuba: Früher war klar: Der Österreicher war der Kellner. Der Deutsche war es gewohnt, von Österreichern bedient zu werden, der Österreicher war es wiederum gewohnt, den deutschen Gast um den Finger zu wickeln und dafür ein fettes Trinkgeld einzustreifen. Das geht sich heute nicht mehr aus. Denn der russische Gast, der in manchen Orten die Mehrheit hat, trifft genau wie der deutsche Gast auf den deutschen Kellner. Und er ist es gewohnt, einen Kellner wirklich zu karniefeln und zu schikanieren. Der deutsche Gast, der mitkriegt, wie der deutsche Kellner vom russischen Gast schikaniert wird, findet das nicht lustig. Der beschwert sich.

SZ-Magazin: Und die Österreicher, die das beobachten, die lachen darüber?
Scheuba:
Das ist schon sehr komisch. Oder du bist auf einer Berghütte irgendwo in Hintertux und hörst, wie einer sagt: Wolln Se ne Weinschorle?
Gruber: Einen Kurs in Deutsch brauchen die schon, die deutschen Kellner: Das heißt nicht Weinschorle, sondern Gspritzter. Das müssen die lernen.
Scheuba: Der Zusatzaspekt, dass die Deutschen auf einmal die Underdogs sind, ist komplett neu.
Gruber: Die wenigsten wissen, dass die meisten aus Ostdeutschland kommen. Dann funktioniert das ja wieder: Wenn der Wessi Urlaub macht und weiß, der Kellner ist ein Ostdeutscher, dann ist das okay. Dann karniefelt er ihn.
Scheuba: Aber dass der Russe den Ossi karniefelt, mag der Wessi auch nicht. Und wenn noch der Bayer ins Spiel kommt, der den Saupreußen überhaupt ablehnt, funktioniert das gar nicht mehr. Der innerdeutsche Rassismus ist noch viel zu wenig erforscht.

Scheuba bestellt Hirschbratwürstel, Gruber Gulasch. Nachdem der Champagner leer getrunken ist, kommen nun Weinflaschen auf den Tisch.

Gruber: Ich bin übrigens gerade übersiedelt in die Nähe des Riesenrades im 2. Bezirk. Dort gibt es alles, was man braucht: Drogen, Waffen, Prostituierte, den Afrikaner-Strich.
Scheuba: Der 2. Bezirk ist die Gentrifizierungszone Nummer eins in Wien. Gruber: Wien ist eine sichere Stadt. Als ich einmal in Hannover war, war ich bei einer Veranstaltung, wo sich auch der niedersächsische Ministerpräsident die Ehre gegeben hat. Auf einmal tauchen zehn Bodyguards auf. Ich habe mir gedacht: Bitte, wo sind wir? In Österreich haben der Bundeskanzler und Minister doch keinen Bodyguard. Ihr habt in Deutschland einen Sicherheitsfimmel! Eure Ministerpräsidenten kennt doch eh kein Mensch.

SZ-Magazin: Wir hatten in den Siebzigerjahren Terrorismus. Die RAF …
Gruber:
Die RAF war doch ein Kindergartenverein! Was haben die schon gemacht?

SZ-Magazin: Die Freipressung der Terroristen, die Entführung der Landshut, der Mord am Arbeitgeberpräsidenten, seinem Chauffeur, an Unbeteiligten …

Das Gulasch und die Hirschbratwürstel werden aufgetragen.

Scheuba: Zum Thema RAF fällt mir eine meiner Lieblingsanekdoten ein. Es gab doch diesen Hungerstreik und die Zwangsernährungsdebatte. Ein Riesenthema: Dürfen wir die zwangsernähren oder verstößt das gegen die Menschenrechte? Damals saß die RAF-Terroristin Waltraud Bock in einem Wiener Gefängnis und ist mit den anderen RAF-Häftlingen in den Hungerstreik getreten. Daraufhin hat die Gefängnisleitung gesagt: »Frau Bock, Sie haben doch immer angesucht, nicht in Einzelhaft zu sitzen. Ab heute ist Ihrem Ansuchen stattgegeben. Sie bekommen eine Zellengenossin, die Frau Hilde.« Die Frau Hilde war figurmäßig ein bisschen in Richtung vom Werner. Und dieser Frau Hilde hat man gesagt: »Frau Hilde, Sie dürfen sich wegen guter Führung eine Woche lang zum Essen bestellen, was Sie wollen.« Der Hungerstreik von Waltraud Bock hat genau einen Tag gedauert.
Gruber: Ich wollte nicht die Taten der RAF verharmlosen, aber das waren nur Geisteswissenschaftler. Wenn die technisch ein bisschen was draufgehabt hätten, hätte das ganz anders ausgehen können. Muss man ganz ehrlich sagen. Wenn ich das vergleiche mit Leuten, die etwas gekonnt haben, wie die IRA – das waren Profis!
Scheuba: Du hast einen sprengtechnischen Zugang zur RAF.
Gruber: Was die wenigsten wissen: Der Sprengstoff, der heute für viele Attentate verwendet wird, ist vom Bauernbund Wisconsin erfunden worden. Die sogenannte Agrar-Bombe, einfach herzustellen. Der Bauernbund wollte damals Ententeiche sprengen, und ein paar Söhne der Bauernbündler, die auf der Universität gewesen sind, haben sich eine Lösung dafür ausgedacht. Danach ist das um die Welt gegangen. Von fünf Attentaten gehen drei auf den Bauernbund von Wisconsin zurück. Die erste Autobombe war übrigens eine Kutschenbombe. 1900 war das. Apropos: Nächstes Jahr feiern wir ein gewaltiges Jubiläum: 110 Jahre Cordon bleu.
Scheuba: Wobei man sagen muss, in Wien heißt es meist Gordon: »Ham S’ a Puten-Gordon?«
Gruber: Reden wir wieder über etwas Gescheites. Den Sinn des Lebens.
Scheuba: Du willst doch nur angeben.

Kurze Zeit später verabschieden sich Gruber und Scheuba.

"Trinken? Nur zur Selbstverteidigung"

Etwa 21 Uhr. Thomas Glavinic und Gustav unterhalten sich.

Glavinic: Trink noch ein bissl!
Gustav: Gern.
Glavinic: Es heißt immer, ab einem gewissen Alter soll man sich einmal im Jahr untersuchen lassen, körperlich und geistig. Also habe ich mir in diesem Sommer gedacht, ich mach das, aber vorher trinke ich drei Wochen keinen Alkohol. Schließlich habe ich 32 Tage nichts getrunken, und dann bin ich zur Blutprobe. Ich hatte wunderbare Werte. Am Abend habe ich das gefeiert.
Gustav: Du bist ja eher der gesellige Typ.
Glavinic: Ich bin überhaupt nicht gesellig. Ich trinke nur, um mich zu verteidigen. Das ist ein reines Defensivkonzept.
Gustav: Wisst ihr, was das Beste an Österreich ist? Die Wurst!

SZ-Magazin: Die Wurst?
Gustav:
Die Wurst! Das stelle ich immer wieder fest in Deutschland. Dort gibt es keine Wurst. Das Angebot und die Diversität der Wurst, der verschiedenen Wurstsorten in Österreich, das hast du sonst nirgends in der Qualität.
Glavinic: Ich habe Österreich noch nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet …
Gustav: Ich nur!
Glavinic: Als ich neulich aus Japan kam, habe ich Österreich geliebt wie selten zuvor. Die Japaner freuen sich ja extrem, wenn man sagt: Das kann ich nicht essen. Die haben mir Fischköpfe vorgelegt und andere Grausligkeiten. Unfassbar. Irgendwann denkst du dir: Es ist genug! Und greifst aus Notwehr zu Bier. Es hat Kalorien, es ist nahrhaft, es schmeckt vertraut. Ich wusste nicht, dass ich das kann, aber ich habe schon zum Frühstück ein Bier getrunken.

(Thomas Glavinic nimmt das Diktiergerät und führt es zu seinem Mund): Übrigens möchte ich an dieser Stelle an die Veranstalter das Wort richten: Die Versuchskaninchen hier abzufüllen, und ihnen zu sagen, dass sie keine Möglichkeit haben, ihre Äußerungen vor der Veröffentlichung noch einmal zu lesen, ist schändlich!

SZ-Magazin: Wir haben heute schon viel darüber gesprochen, wie wichtig es in Wien ist, in welchem Bezirk man wohnt. Wo wohnen Sie?
Gustav:
Im 16., gleich bei der Lugner City. Ich bin ja ein Fan dieser Lugner City. Das hat so einen lustigen ostigen Charme. Es wirkt wie ein Einkaufszentrum in Budapest. Nur billigste Läden.

SZ-Magazin: Wer geht da hin?
Gustav:
Die Leute, die dort wohnen, Migranten, Menschen mit migrantischem Hintergrund. Kurz vor der Nationalratswahl hat der Strache von der FPÖ dort eine Wahlkampfveranstaltung abgehalten. Und die Migranten, die in der Lugner City unterwegs waren, sind alle mit FPÖ-Luftballons herumgestanden.

SZ-Magazin: Also genau die Leute, die Herr Strache zum Teufel wünscht?
Gustav:
Total absurd, ein absurder Ausdruck der politischen Verhältnisse.

SZ-Magazin: Wehren sich die Migranten nicht gegen die Hassreden, die ihnen gelten?
Gustav:
Nicht die, die da waren. Die wollten nur Luftballons. Die sind gekommen, um einen zu sehen, den man aus dem Fernsehen kennt. Eine Berühmtheit eben.

Es ist gerade sehr laut im »Café Engländer«. Deswegen ist auf den Tonbändern minutenlang nur Chaos. Als man wieder etwas verstehen kann, unterhalten sich Glavinic und Gustav über ihr Publikum.

Glavinic: Ich glaube, mit dem Buch, das ich jetzt veröffentlicht habe, habe ich mir ein enormes Problem mit den Damen um die sechzig eingebrockt. Da geht es ja um einen Mann, der eine Geliebte hat. Die mögen dann den Autor gleich auch nicht.
Gustav: Ich bin auch so eine Leserin, ich kann das auch nicht auseinanderdividieren. Für mich hat so etwas Realität. In meiner Lieblingsserie geht es um einen Werbefuzzi in den Sechzigerjahren, der ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hat. Es dauert irrsinnig lange, bis ich Romanfiguren oder Serienfiguren so etwas verzeihen kann. Ich bin das Publikum über fünfzig.
Pause.
Gustav: Du bist auch Steirer, wie ich?
Glavinic: Ja, das ist ein Makel.
Gustav: Ich finde es super, dass ich gerade in München lebe. Dort kann ich Dialekt sprechen und werde trotzdem verstanden.

SZ-Magazin: Und wie ist München sonst so?
Gustav:
Ein Wahnsinn. Viel konservativer als Wien. Das ist echt heftig mit den ganzen Dirndln.
Glavinic: Das war eben nie eine wirklich wichtige Stadt.
Gustav: Die Langeweile von Wien ist viel inspirierender als die von München. Weil alles viel unaufgeregter ist. In München hast du noch diese Konfrontation mit dieser reichen Oberschicht. So etwas wie die Maximillianstraße gibt es in Wien gar nicht.

Kurz vor 23 Uhr. Ein paar Gläser weiter.

SZ-Magazin: Ein vorläufig letztes Mal bekommen Sie ein Diktier-gerät vorgelegt.
Glavinic:
Aha. Eva, magst du bitte wiederholen, was du gerade gesagt hast?
Gustav: Ich hatte vor, diesen Raum total dicht zu verlassen.Glavinic: Das musst du übersetzen.
Gustav: Das heißt betrunken.

SZ-Magazin: Dafür ist es ja noch nicht zu spät.
Glavinic:
Ich habe Gerüchte gehört, dass du fürchterliche Sachen gesagt hast. Und dass das das Highlight des Gesprächs wird.
Gustav: Da, wo ich ausfallend war?
Glavinic: Weiß ich nicht. Aber irgendwas musst du gesagt haben.

Was sonst noch geschah, als die Tonbänder abgeschaltet waren

23:10: Robert Pfaller und Nina Proll sind wieder da. Pfaller hat den Nachruf auf den Bic-Kugelschreiber mitgebracht, den er ein paar Stunden zuvor erwähnt hat, und versucht, Nina Proll seinen Lieblingsphilosophen Slavoj Zizek schmackhaft zu machen: »Den können Sie sogar auf Youtube anschauen!«

23:35: Hans Hurch betritt erneut das »Café Engländer« und wählt entschlossen einen Tisch am anderen Ende des Lokals. Pfaller: »Jetzt kann er mehr als einen längeren Satz sagen, ohne dass ihn ein Physiker in lauter Elementarteilchen zerlegt.«

23:50: Thomas Glavinic erzählt von einer seltsamen Nacht. Als 22-Jähriger spielte er bei einem Schachturnier mit eigenartigen Regeln: Wer einen Bauern verlor, musste einen Jägermeister trinken. Bei einem Turm waren es vier, bei Verlust der Dame acht. Glavinic verlor. Als er am nächsten Tag aufwachte, fehlten ihm zwei Backenzähne. Er hat nie herausgefunden, wie das passiert ist.

0:30: Das »Café Engländer« gibt eine letzte Runde aus. Man bestellt Averna. Der Morgen danach ist katerlos.

Fotos: Peter Rigaud