Es ist sehr schwierig, mit Menschen zu diskutieren, die der Meinung sind, in Deutschland sei die Meinungsfreiheit in Gefahr, oder es gebe sie im Grunde gar nicht mehr. Wie schwierig, möchte ich am Beispiel meines Cousins F. erklären.
Cousin F. ist der Meinung, man dürfe »in Deutschland ja gar nichts mehr sagen«. Wir kommen darauf, weil ich mich über das Thilo-Sarrazin-Buch lustig gemacht habe, das bei ihm auf dem Couchtisch liegt. Ich: »Na ja, dafür, dass jemand wie Sarrazin gar nichts mehr sagen darf, verkaufen sich seine Bücher ziemlich gut, und er kommt ganz schön viel zu Wort.« Cousin F.: »Ja, aber allein, wie du jetzt darauf rumreitest.« Ich: »Dass ich das für unseriösen, rassistischen Scheiß halte?« Cousin F.: »Na ja, gleich so aggressiv. Und kaum sagt man, dass man das differenzierter sieht, gilt man als Nazi. Das ist doch keine Meinungsfreiheit.«
Eigentlich läuft es immer so: Wer bestreitet, dass in Deutschland die Meinungsfreiheit in Gefahr ist, liefert denen, die das anders sehen, sofort ein neues Beispiel dafür, dass sie »gar nichts mehr sagen dürfen«, nach dem Motto: Wo ist die Meinungsfreiheit, wenn man nicht mal mehr sagen darf, es gibt sie nicht mehr?
Als die Journalistin Sibel Schick anlässlich eines Interviews von Handballer Stefan Kretzschmar schrieb, er verwende »Meinungsfreiheit« wie »Flüchtlingsmanagement« als »rechte(n) Ausdruck«, sprach sie eine schmerzhafte Wahrheit aus: der Begriff »Meinungsfreiheit« ist von denen gekapert worden, die am wenigsten mit dem Konzept anfangen können. Weil sie viel zu verwöhnt und empfindlich für Meinungsfreiheit sind. Es ist höchste Zeit, den Begriff zurückzuholen in die Realität.
Eigentlich könnte man das, was in Sachen Meinungsfreiheit ab- und falsch läuft, kurz mit einem Zitat von Winston Churchill erklären. Vom historischen britischen Premierminister stammt die Feststellung: »Alle sind für Meinungsfreiheit. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht gepriesen wird. Die Vorstellung einiger Leute jedoch ist, dass sie frei sagen können, was sie wollen, aber sobald jemand ihnen widerspricht, ist das eine Ungeheuerlichkeit.« (Churchill würde es als Freund der Meinungsfreiheit also sicher aushalten, wenn man ihn einen verblüffend unverschämten Rassisten nennt.)
Die »Ungeheuerlichkeit« ist nun also keineswegs das Ende oder die Abschaffung der Meinungsfreiheit, sondern als Ungeheuerlichkeit empfinden Cousin F. und viele andere allein die Widerrede an sich und nennen diese dann »keine Meinungsfreiheit«. Als Handballer Stefan Kretzschmar (in etwas komplizierterem Kontext) beklagte, Sportler hätten »keine Meinungsfreiheit im eigentlichen Sinne«, weil sie immer »mit Repressalien vo(m) Arbeitgeber oder von Werbepartnern rechnen« müssten, meinte er im Grunde das Gleiche wie mein Cousin F., wenn er sich als Sarrazin-Leser wegen breiter Kritik verfemt fühlt: Echte Meinungsfreiheit wäre, wenn alle nicken oder zumindest nicht widersprechen oder einem am besten zustimmen würden. »Klare Haltung bringt Konsequenzen mit sich«, schrieb Sibel Schick im oben erwähnten Twitter-Thread an die Adresse von Stefan Kretzschmar. Und erklärt, dass dessen Wahrnehmung ein Zeichen von Privilegiertheit ist: Wenn schon ein erfolgreicher Sportler über Abhängigkeiten klagt, was sollen dann erst wirklich abhängige Menschen sagen?
Das gilt für alle, die die Meinungsfreiheit in Deutschland bedroht sehen: Merkt ihr, wie sehr ihr daran gewöhnt seid, dass euch jahrelang niemand so richtig widersprochen hat? Dass eure Haltung keine Konsequenzen hat? Und wie sehr ihr diese Haltung zum Maßstab für alle gemacht habt, und niemand darf widersprechen? Merkt ihr, wie bequem ihr euch eingerichtet habt in dem Gefühl, eure Meinung sei die allein richtige und müsste daher automatisch die vorherrschende sein, oder am besten gesellschaftlicher Konsens?
Als es im September 2015 in der europäischen Solidaritätskrise viele positive Reaktionen auf Angela Merkels Entscheidung gab, die Grenzen nicht zu schließen, wurde der Kampfbegriff von der »Meinungsdiktatur« von der Internetseite »Huffington Post« in Deutschland gesellschaftsfähig gemacht: Wer Bedenken anmelde, werde »in die rechte Ecke gestellt«. Wer sagt, es gebe in Deutschland keine richtige Meinungsfreiheit, befeuert dieses Idee von der »Meinungsdiktatur«. Und meint damit eigentlich nur: Ui, es fühlt sich nicht so schön an, wenn viele anderer Meinung sind und mir das auch sagen, und manchmal sogar mit richtig groben Worten.
So stellen sich diese Menschen, die doch eigentlich so hart und männlich, so wehrhaft und aufrecht sein wollen, also das Leben in einer Diktatur vor, so fühlt sich in ihrer Fantasie Unfreiheit an: kritisiert, beschimpft und abgelehnt werden. Wenn die ZDF-Mitarbeiterin Nicole Diekmann »Nazis raus« twittert, schießen ihnen die Tränen des Unverstandenseins in die Augen. Wenn Sprachwissenschaftler*innen »Anti-Abschiebe-Industrie« zum Unwort des Jahres wählen, hören andere die bedrohlichen Sirenen der »Sprach-Polizei«, die »Sagbarkeits-Regeln« verordne (Bild-Zeitung), und im Grunde ist das der gleiche Sound: Man darf ja gar nichts mehr sagen.
Doch, darf man. Es gibt dann aber eben Reaktionen. Die man aushalten muss. Das geht uns allen so. Daher eine Überlegung für alle, die finden, sie leben in einer »Meinungsdiktatur«: Vielleicht seid ihr einfach nicht besonders belastbar. Vielleicht seid ihr einfach nicht besonders mutig. Nicht so mutig und belastbar wie viele andere, die seit Jahrzehnten niedergemacht werden. Zum Beispiel eine »person of color«, über deren PoC-Kürzel ihr euch so gern aufregt. Oder Trans-Menschen, deren Pronomina euch zur Weißglut treiben. Wisst ihr, ihr müsst nicht so stark sein, wie ihr immer tut. Aber schiebt es nicht auf die imaginäre Abwesenheit von Meinungsfreiheit. Schaut euch lieber eure Meinungen mal in Ruhe an. Denn die sind es, die euch und andere in Wahrheit unterdrücken.