Der Mai war scheißkalt. Ich habe oft darüber gejammert, obwohl ich ein Dach über dem Kopf habe, Geld für Heizung und warme Klamotten. Corona nervt, ich habe auch darüber oft gejammert, obwohl ich mich bisher nicht angesteckt habe, nicht sehr jung bin und die ersten Tage im Freiheitsrausch verpasse, nicht sehr alt bin und vielleicht die letzten Tage in Gesellschaft netter Menschen, ich bin auch nicht Ende dreißig und müsste jetzt mal den Mann kennenlernen, mit dem ich ein Kind bekomme und so weiter.
Was ich damit sagen möchte: Es geht mir gut, ich jammere trotzdem. Ich wünsche mir Gesundheit, Geborgenheit, ein Auskommen und geöffnete Kneipen. Ich bin genervt, wenn was nicht super läuft, aber nicht besonders dankbar, wenn es super läuft. Ich gehe irgendwie davon aus, dass mir ein gutes Leben zusteht. Dass ich es verdient habe. Ein bisschen was tu ich auch dazu, arbeite fleißig, informiere mich, vermeide Fleisch, fahre mit der Bahn und suche auch mal den Fehler bei mir und nicht bei den anderen.
Doch in den vergangenen Jahren geht es mir nicht mehr so gut mit meinem guten Leben. Das fing mit der Klimakrise an, nahm mit dem Flüchtlingsleid Fahrt auf, dann las ich im April, dass weltweit bereits 700 Millionen Impfdosen verabreicht wurden, allerdings nur 0,2 Prozent davon in einkommensschwachen Ländern. Oder deutlicher: In den reichen Ländern hat einer von vier Menschen im April eine erste Impfung bekommen, in den ärmeren einer von 500.
Auf dem Welt-Gesundheitsgipfel im Mai war die ungleiche Verteilung Thema, man einigte sich darauf, dass die Pharmakonzerne den ärmeren Ländern in der zweiten Jahreshälfte 1,3 Milliarden Impfstoffdosen zur Verfügung stellen, für die diese nur die Herstellungskosten tragen müssten. Deutschland versprach, seine finanzielle Unterstützung für die Versorgung ärmerer Länder mit Impfstoff aufzustocken, man könnte zufrieden sein, die Politik kümmert sich.
Ich war überzeugt, dass die Welt, die für mich bis dahin vor allem die westliche Welt gewesen war, nur noch besser werden könnte
Aber ich musste daran denken, wie wir uns in Deutschland darüber streiten, ob es unsolidarisch mit der jungen Generation ist, wenn über Sechzigjährige Angst vor Astra Zeneca haben oder einfach nur den »besseren« Stoff wollen. Wie wir uns über den Impf-Fehlstart beklagen. Wie wir Impf-Privilegien diskutieren. Wie wir uns sehnsüchtig daran erinnern, dass wir zu Beginn der Pandemie noch dachten, zum Glück leben wir in Deutschland, und wie uns dieses Gefühl verging. Weil wir etwas Besseres verdient haben. Den perfekten Ablauf. Die beste Organisation. Das größtmögliche Privileg.
Etwas anderes als diesen Anspruch habe ich nie kennengelernt. Meine Eltern, meine Großeltern, die Familien in der Straße, in der ich aufwuchs, die Eltern der Freunde, die ich fand, sie alle einte das Gefühl, dieses Leben, ein gutes Leben, verdient zu haben. Wir waren Teil der Mittelschicht der BRD und lebten in Sicherheit und Freiheit, in einer ewigen und sehr verlässlichen Gegenwart, in der die größte Gefahr ein Atomkrieg war, der nie ausbrach, und die größte Krise Tschernobyl.
Ich war zu jung, um Hippie oder 68er zu sein, identifizierte mich aber mit der Protestbewegung und rebellierte im grünen Parka gegen meine Klassenzugehörigkeit. Ich war überzeugt, dass die Welt, die für mich bis dahin vor allem die westliche Welt gewesen war, nur noch besser werden könnte. Toleranter. Linker. Multikultureller. Brüderlicher. Bildung für alle. Gleiche Chancen für alle, auch für Frauen.
Es war keine Kunst, so zu denken und sich im Sinne von Hannah Arendt – auch sie interessierte sich mehr für die Schöpfung und den Entwurf einer neuen institutionellen Ordnung als für ihr Funktionieren – als politischer Mensch zu fühlen. Es konnte einem ja gar nichts passieren. So ging das erst mal bis zum Mauerfall 1989, und eigentlich ging es danach genauso weiter, trotz des ersten Golfkriegs und des Bosnienkriegs, man bekam nicht so viel mit, wie man heute von Kriegen und Nöten mitbekommt, genau genommen seit September 2001.
Wahrscheinlich bin ich erst seit den Attentaten vom 11. September 2001 eine Weltbürgerin. Und wahrscheinlich habe ich erst 2015 wirklich verstanden, wie privilegiert ich bin. Nicht nur weil ich in der BRD aufgewachsen bin, sondern weil ich einen europäischen Pass habe. Zufällig. Nicht mein Verdienst. Auch nicht das Verdienst meiner Eltern oder meiner Großeltern. Und doch pochen wir Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen gegenüber auf unsere Rechte und Besitztümer als Europäer. Wir haben es gut hier, und wir denken, wir haben uns das verdient. Aber womit?
Manchmal habe ich eine Vision: die Katastrophe. Wir hätten sie uns verdient
Im Sommer 2015, als Angela Merkel für den menschlichsten Moment ihrer Kanzlerschaft angegriffen wurde, fühlte ich mich zum ersten Mal schlecht als Europäerin. In demselben Sommer setzte sich der slowenische Schriftsteller Aleš Šteger für sein Logbuch der Gegenwart einen Tag lang auf den Platz vor dem zentralen Busbahnhof in Belgrad. Er wollte auf die aktuelle Flüchtlingstragödie reagieren, die, so erklärt er seinen Text, »zugleich die Tragödie der Neudefinition eines europäischen Selbstverständnisses darstellt«. Ich fragte ihn damals, wie er das meine, er antwortete per Mail: »Während ich diesen Text schrieb, errichtete die Regierung Orbán eine historische Mauer in Form eines Zauns entlang der serbisch-ungarischen Grenze. Während ich dies schrieb, marschierten Tausende von Flüchtlingen durch die Felder auf ihrer Reise nach Nordwesten in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und die Angst kroch in die Knochen der Europäer, dass ihnen jemand ein Stückchen von ihrem Brot abbeißen könnte. Die Stimme der rhetorischen Klischees, man wolle ein ziviles, multikulturelles, säkulares Europa, wird immer leiser; das demokratische, offene, tolerante und humane Europa tritt zurück. Europa ist immer weniger in der Lage, sich selbst im Spiegel anzusehen. Es würde vor Schreck sterben, wenn es seine Augen auf das homophobe, nationalistische, hasserfüllte Monster würfe, in das es sich verwandelt.«
Wo ist es geblieben, das Mitgefühl mit den Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten? Mit den Ungeimpften in den ärmeren Ländern?
Eigentlich ist es das Privileg der sozial Selbstsicheren, empathisch sein zu können, schreibt Leslie Jamison in ihrem Buch Die Empathie-Tests. Mitzufühlen, schrieb wiederum Hannah Arendt, sei der Beginn politischen Handelns. Denn aus der »reproduktiven Einbildungskraft«, dem Vermögen, sich in die Perspektive anderer zu versetzen, entstehe produktive Einbildungskraft: die Vision.
Manchmal habe ich eine Vision: die Katastrophe. Wir hätten sie uns verdient.