Sie verrät nicht, welches das teuerste Objekt war, das sie je in der Werkstatt hatte. Michaela Gabányi möchte gar nicht über Geld reden. Sie sagt auch nicht, wie hoch sie einzelne Bücher bei sich versichert, für den Fall, dass ihr in der Werkstatt einmal ein irreparabler Fehler unterläuft – was bisher nie passiert sei. Sie sagt, sie beschäftige sich auch nicht mit dem Marktwert von Büchern, weil sie sich davon freihalten und alle Kunden gleichberechtigt behandeln wolle: den Vater, der mit einem Kinderbuch kommt, in das Honig gelaufen ist, genauso wie den Autobesitzer, der sein Werkstattbuch wieder lesbar haben möchte, oder den Antiquar mit der Altdorfer-Grafik. Honig muss man übrigens erwärmen, bevor er sich behutsam mechanisch entfernen, also abkratzen lässt. Zum Geld nur so viel: Selbst ein Kinderbuch zu reparieren koste einen dreistelligen Betrag, bei Schimmel werde es leicht vierstellig. Und die Werkstatt von Michaela Gabányi, 42, findet sich in bester Münchner Innenstadtlage, in einem ruhigen Hinterhof.
»Jedes Unikat verdient es, erhalten zu werden.«
Was den Wert eines Buches betrifft, ist 1840 die entscheidende Zahl. Vor jenem Jahr wurden Bücher aus Büttenpapier hergestellt, für das man aus Lumpen einen Papierbrei kochte, um daraus eine Wasserfaserpampe zu schöpfen. Büttenpapier war aufwendig herzustellen, und Rohstoffmangel erschwerte große Druckmengen. Erst mit der Erfindung von Holzschliffpapier wurden hohe Auflagen etwa von 100 000 Exemplaren möglich. Jedes Buch, das vor 1840 entstand, ist dadurch ein Einzelstück und wertvoll – auch ideell. »Die westliche Welt ist eine Schriftkultur. Jedes Unikat verdient es, erhalten zu werden«, sagt Michaela Gabányi. Bücher aus der Zeit nach 1840 erzielen hohe Preise, wenn es seltene Erstausgaben sind oder Exemplare, die berühmten Menschen gehört haben.
Die Papierrestaurierung ist ein verschwiegenes Geschäft. Wer will schon wissen lassen, dass seine Stücke bearbeitet worden sind? Niemand, der eine Grafik von Dürer verkaufen will, gibt gern preis, dass Teile des Papiers beschädigt waren. Im Fall einiger staatlicher Sammlungen in Deutschland aber hat Michaela Gabányi eine Erlaubnis eingeholt, sie hier zu nennen: Sie hat Papier-, Leder- und Pergamentbände für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar restauriert, die durch Brand oder Löschwasser 2004 beschädigt worden waren. Mittelalterliche Urkunden und Handschriften für das Historische Archiv der Stadt Köln. Notendrucke und Atlanten für die Bayerische Staatsbibliothek, Tapeten für die Bayerische Schlösserverwaltung, Pläne für das Architekturmuseum der TU München. Zur Kundschaft einer Papierrestauratorin gehören neben Bibliotheken, Museen und Archiven auch Versicherer, Auktionshäuser und natürlich Privatkunden im In- und Ausland. Vergangenes Jahr brachte ihr jemand einen Rokokofächer aus Pergament. Oder eine wertvolle Sonderedition von Helmut Newton, auf die die Tochter des Besitzers mit Wachsmalkreide gemalt hatte. Gabányi schickt die Kunden nur weiter, wenn ihr notwendiges Werkzeug fehlt. Foto-negative etwa kann sie nicht behandeln, und Tapeten sind manchmal zu groß für ihr Atelier. Gerade hat ein Sammler ihr 200 Grafiken und Fotografien liefern lassen, zur Zustandserfassung. Außerdem hat Gabányi dreißig Wagner-Bücher da, aus seiner Hausbibliothek im Musizierzimmer, mit handschriftlichen Notizen. Die Bibliothek hat den Krieg überlebt, aber bei der Renovierung des Wagner-Hauses wurden Mängel an vielen der 190 Bände festgestellt, einige Deckel waren lose. Seit rund fünf Jahren kümmert sich Gabányi um die Sammlung.
Am schlimmsten sind Schäden durch Schimmel.
Papier zu restaurieren bedeutet in erster Linie, altes Papier ordentlich zu kontrollieren. Papier arbeitet, Fasern werden brüchig, falsche Handhabung oder Lagerung lassen sie schneller altern. Bücher sollten mit einer Raumtemperatur bis höchstens 18 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von unter 40 Prozent gelagert werden. Michaela Gabányi reinigt alle Bücher, die ihr anvertraut werden. Sie beseitigt kleine Risse und große Schäden durch Feuer, Wasser, Wärme, Stöße. Oder Tiere: Mäuse sind leidenschaftliche Bücherfresser. Silberfischchen lieben nasses Papier. Neu in Europa und viel unangenehmer, weil sie auch in kalten Räumen zuschlagen, sind ihre asiatischen Verwandten, die Papierfischchen. Silberfischchen kann man austrocknen, Papierfischchen muss man im Papierdepot oder der Bibliothek Köderfallen stellen und sie ständig im Auge behalten.
Am schlimmsten sind allerdings Schäden durch Schimmel, nach einem Wasserschaden, bei zu hoher Raumtemperatur oder Luftfeuchtigkeit. Papier ist ein guter Nährboden. Pilze zeigen sich in bunten Flecken im Buch oder im aufsitzenden sogenannten Rasen aus Sporen. Die Sporen bauen die Papierfasern ab. Man darf sie nur mit Atemmaske, Schutzbrille und Handschuhen behandeln: Zuerst versucht man, sie mit dem trockenen Pinsel zu entfernen. Das ist die Standardbehandlung, die genügt, wenn der Schimmelpilz nicht aktiv ist und die Sporen verkapselt sind, wenn das Papier richtig lagert und es keine Kinder in die Hand bekommen. Bei einem 200 Jahre alten französischen Geografiebuch etwa aber war der Schimmel noch aktiv und ist weiter gewachsen, das Buch musste in mehreren Bädern in Leitungswasser ausgewässert werden, um danach zu trocknen und drei Wochen lang zu ruhen. Die meisten schwer beschädigten Bücher bleiben mindestens ein Jahr in Gabányis Werkstatt.
Und es gibt den Tintenfraß, so nennt man es, wenn alte Eisengallustinte unleserlich wird. Einzelne Buchstaben oder ganze Zeilen brechen regelrecht weg, wenn Säure und Eisen in der Tinte aus dem Gleichgewicht geraten und Fasern zerstört werden. Verblasste Eisengallusschriften können mittels einer Lösung von Kaliumhexacyanoferrat mit überschüssiger Salzsäure wieder sichtbar gemacht werden. Gabányi behandelt sie aber lieber mit hauchdünnem, beschichtetem Japanpapier, das mit Wärme aufgebracht wird, um die Tinte und die darunterliegenden Fasern zu stabilisieren. Das macht sie auch bei Rissen und Fehlstellen so.
Japanpapier ist aufgrund seiner Faserlänge extrem dünn, zäh und haltbar. Traditionell wird es ein Jahr lang zum Trocknen aufgespannt, bevor man es benutzen kann. Michaela Gabányi bezieht es in Berlin von einem Papierhersteller, der die spezielle Fertigung einige Jahre lang in Japan gelernt hat. Auch ihr Büttenpapier für gröbere Schäden kauft sie bei einem Berliner Fachhändler, der es wie früher aus Lumpen herstellt. Noch älter als Büttenpapier: Pergament, unter Spannung gestreckte Tierhaut. Sie stammte bis in die Renaissance hinein von Schafen, später von Ziegen und Kälbern. Pergament ist reißfest, alterungsbeständig und wurde noch lange nach der Einführung von Papier für Einbände oder Urkunden benutzt. Auch für Pergament gibt es noch eigene Hersteller. Gabányi kauft die Häute vom Pergamenter, aber sie färbt sie selbst, damit sie genau weiß, wie und womit die Häute behandelt wurden. Allerdings kann sie nicht alles kontrollieren. Sie erzählt: Als ein Bauer stillschweigend aufgehört hatte, seine Kälber sechs Monate lang auf der Weide zu halten, bekam die Haut der Tiere Flecken, die die Qualität des Leders für Einbände minderten. Gabányi sagt, sie habe lange gebraucht, um herauszufinden, warum das gelieferte Leder plötzlich schlechter war.
Mäuse sind leidenschaftliche Bücherfresser.
Ein häufiger Schaden ist ein abgestoßener Buchrücken, weil man Bücher meistens mit dem Zeigefinger am oberen Rand aus dem Regal zieht. Michaela Gabányi repariert solche Stellen, aber sie mag es, wenn man einem Buch ansieht, dass es gelesen wurde. Sie erneuert die Papierleimung und versucht, alte Heftbünde zu erhalten, die alle Bogen eines Buches mit Hanffäden halten. Seiten werden mit Japanpapier stabilisiert, einzelne Fehlstellen ersetzt, aber fehlende Buchstaben oder Wörter niemals ergänzt: »Wir retuschieren nicht, so wie man das vielleicht bei einem Gemälde oder Fresko machen würde«, sagt Gabányi. Grundsätzlich will sie möglichst nah am Original bleiben. Nicht zu viel machen, nicht überrestaurieren. In Europa ist das schon seit 15 Jahren der Trend, in den USA wird immer noch der Bestzustand angestrebt: Ein Buch soll da nach der Restaurierung wie neu aussehen.
Jedes Papier macht ein spezielles Geräusch. Das Schneiden, das Reißen. Wie es riecht, wie es raschelt. »Ich mag Papier total gern«, sagt Gabányi. Das sei schon immer so gewesen. Die Arbeit mit Papier ist lebendig. Dabei ist sie schwer zu fassen: »Man tut drei Minuten lang etwas, und dann steht es drei Tage zum Trocknen herum.«
Büchersammler sterben aus. In den Neunzigerjahren gab es noch Leute wie den Mann, der 2000 mittelalterliche Handschriften besaß, zu Hause im Wohnzimmerschrank. Einige Nachlässe sind an Bibliotheken gegangen, viele Sammlungen wurden aufgelöst. Der nachfolgenden Generation fehlt häufig der Sinn für Bücher. Sie ziehen auch zu oft um, als dass sie sich so eine Liebhaberei leisten.
Michaela Gabányi sammelt nicht. Mit Bedacht. Sie sagt, sie habe nie in die Verlegenheit kommen wollen, neidisch auf ihre Auftraggeber zu werden. Sie dürfe den ganzen Tag mit schönen Dingen aus Papier verbringen, das müsse genügen. Mit Büchern verbringe sie ohnehin viel mehr Zeit als mit jedem Menschen, auch ihrem Ehemann, einem bekannten Münchner Barkeeper. Eine selbstständige Restauratorin arbeitet nicht nur am Objekt, sie muss Material einkaufen, Museen, Ausstellungen, Vernissagen besuchen – oder Pappobjekte montieren, wie bei der Ausstellung über Ludwig II. in München. Ein einziges Hobby hat Michaela Gabányi, das nichts mit Büchern im weitesten Sinne zu tun hat: Sie tanzt Ballett.
Kein Kaffee und kein Keks darf ins Atelier.
Sicherlich, früher war sie eine Leseratte, aber sie hat ihren Beruf nicht aus bloßer Leidenschaft, sondern nach reiflicher Überlegung gewählt. Sie findet immer noch faszinierend, dass in ihrem Berufsalltag so verschiedene Disziplinen wie Chemie und Geschichte ineinandergreifen. Ihr gefiel auch, dass das Vorpraktikum länger dauert als in anderen Berufen: drei Jahre nach der Buchbinderlehre. Anschließend Studium an der Fachakademie zur Ausbildung von Restauratoren für Archiv- und Bibliotheksgut, sie schloss mit dem Bayerischen Meisterpreis ab. Die Fachakademie hatte einen ausgezeichneten Ruf, dennoch gibt es sie nicht mehr. 36 Menschen haben sie insgesamt nur abgeschlossen, alle gut im Geschäft.
Seit 2003 arbeitet Michaela Gabányi selbstständig. Im Februar ist sie mit ihrem Atelier umgezogen und hat endlich perfektes Licht: LED-Tageslicht, portionierbar in Röhren, die sich einzeln anschalten lassen. Ein Architekt, Matthias Castorph, hat es ihr im Pac-Man-Muster entworfen. Kein Kaffee, kein Keks darf ins weiß gehaltene Atelier. Zum Rauchen gehen sie und ihre Mitarbeiter in den Hinterhof. Sie beschäftigt eine Handvoll Leute, viele projektbezogen.
Jedes Stück Papier ist besonders und muss anders behandelt werden. Gabányis Beruf erfordert technische Kreativität und immer wieder einen frischen Blick. »Je größer der Schaden, desto größer die Freude, es wieder hinzubekommen«, sagt sie. Ihre Arbeit werde ihr nie langweilig.
Einmal, erzählt sie, wurde sie einem streng orthodoxen Auftraggeber in New York empfohlen, der einen Talmud restaurieren lassen wollte, eine sogenannte Bomberg-Ausgabe, 58 Bände, in Venedig gedruckt, die erste christliche Druckerei, die eine hebräische Ausgabe druckte. Ein Mittelsmann hielt den Kontakt zum Auftraggeber. Sie kann kein Hebräisch, musste sich regelmäßig mit einem Kunsthistoriker und einem Dolmetscher zusammensetzen. Durfte nicht am Sabbat arbeiten, musste eigene Werkzeuge benutzen und durfte keine christlichen Schriften im selben Schrank aufbewahren. Von ihrem Auftraggeber selbst hörte sie nur ein einziges Mal, als sie den Talmud nach fünf Jahren fertigstellte. Der Mann ließ sich mit Michaela Gabányi verbinden und sagte nur zwei Worte: »Excellent work.« Dann legte er auf.