»Jeans ist in Ordnung, aber kommen Sie bitte nicht im T-Shirt«, sagte ein Richter zu unserem Autoren, der froh ist, dass er nicht wie Richter oder Anwälte eine schwarze Robe vor Gericht tragen muss. Foto: Robert Brembeck
Der 12. April, mein vorerst letzter Verhandlungstag
Am Vormittag verurteile ich, gemeinsam mit einer anderen Schöffin und dem Berufsrichter, einen Familienvater wegen Betrugs - zu dreieinhalb Jahren Gefängnis. Als ihm der Justizvollzugsbeamte im Gerichtssaal die Handschellen anlegt, dreht er sich noch einmal zur Richterbank um, unsere Blicke treffen sich, ich sehe in seine rot geweinten Augen. Dann holen sich der Richter und ich eine belegte Semmel. Der nächste Angeklagte wartet schon. Er sitzt seit vier Monaten wegen Diebstahls in Untersuchungshaft, ihm drohen bis zu drei Jahre, nervös und bleich erwartet er den Urteilsspruch, wir geben ihm aber nur eine Bewährungsstrafe, er darf nach Hause. Der Mann geht vor mir aus dem Gerichtsgebäude in den stärker werdenden Regen, er bleibt stehen, breitet die Arme aus, schaut zum Himmel und lässt die Tropfen auf sein Gesicht fallen. Er lächelt.
Wie man Schöffe wird
Ich habe nie »ja« gesagt, ich habe nur »vielleicht« gesagt und später ausdrücklich »nein« und »bitte nicht«, aber da war es schon zu spät: So wurde ich Schöffe. Als ich 2008 meinen Personalausweis verlängern wollte, fragte der Beamte, ob ich mir vorstellen könne, Schöffe zu werden. »Vielleicht«, antwortete ich, »ich wüsste gern genauer, was man als Schöffe macht.« Ich würde mehr Informationen zugeschickt bekommen, hieß es, stattdessen kam ein Brief, in dem man mir mitteilte, dass ich für fünf Jahre, von Januar 2009 bis Dezember 2013, zum Schöffen gewählt wurde. Insgesamt 65 Gerichtstermine, ganztägig. Wie bitte? Ich habe versucht, das Schöffenamt wieder loszuwerden. Beim zuständigen Amtsgericht habe ich mich beschwert (»Nein, das will ich nicht und sicher nicht bis 2013!«) und sogar gebettelt (»Bitte nicht, mir fehlt die Zeit, ich arbeite«), vergeblich.
Der Staat braucht Schöffen, weil das Gesetz vorschreibt, dass an Amts- und Landgerichten Berufsrichter von je zwei Schöffen, also Laienrichtern, unterstützt werden, als Volkes Stimme. Wenn es zu wenige Freiwillige gibt, kann man zum Schöffen zwangsbestimmt werden, jeder Deutsche zwischen 25 und 70 Jahren. Aus einem Merkblatt für ehrenamtliche Richter lerne ich: Schöffengerichte gab es schon im Mittelalter; zwei Schöffen können einen Berufsrichter überstimmen; ich bekomme Verdienstausfall (20 Euro die Stunde); der Arbeitgeber muss mir freigeben; mir drohen bis zu tausend Euro Geldstrafe, wenn ich einen Termin unentschuldigt versäume. Meine Aufgabe in den kommenden fünf Jahren: aufpassen, dass »die Strafjustiz die Bodenhaftung nicht verliert«, wie es im Schöffen-Leitfaden heißt, und »in der Bevölkerung das Verständnis wecken für die Schwierigkeiten, unter denen die Strafjustiz ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nachzukommen hat«. Darum schreibe ich übrigens diesen Artikel.
Wenig Zeit und wenig Ahnung
Meine erste Verhandlung: Es geht um gefälschte Arbeitsverträge und offene Rechnungen, Streitwert mehr als 100 000 Euro, das Verfahren füllte bereits mehrere Aktenordner. Als Schöffe bekomme ich vorab keine Akteneinsicht, alle Schriftstücke zu lesen würde zwei Tage dauern, der Richter fasst den Fall in fünf Minuten zusammen. Kurz darauf sitze ich auf der Richterbank und verstehe die Hälfte nicht. Schöffen dürfen Fragen stellen im Prozess, aber ich hätte nicht nur eine Frage, sondern 20. Ich habe es bei einer späteren Verhandlung erlebt, dass eine Richterin bei meiner zweiten Nachfrage genervt zischte: »Das haben wir doch schon längst besprochen!« Danach war ich sauer – und still. Für sie war ich lediglich Statist. Gute Richter, und sie sind die Mehrzahl, nehmen sich Zeit für ihre Schöffen. Trotzdem: In den meisten Verhandlungen habe ich am Ende noch offene Fragen, für die ich gern mehr Zeugen vorladen würde, den Tatort besichtigen, im Gesetzbuch nachlesen. Mir ist aber klar, dass die Zeit drängt und dass sich beim Richter die Fälle stapeln. Mein erster Prozess wird vertagt, weil das entscheidende Beweisstück bei der Akteneinlagerung verloren gegangen ist, wie der Richter verärgert feststellt.
Gute und schlechte Schöffen
Mitte März 2012 musste in München ein Mordprozess neu angesetzt werden, weil ein Schöffe nicht genug Deutsch verstand. Im Archiv der Süddeutschen Zeitung finde ich Artikel über Schöffen, die betrunken zur Verhandlung kamen, T-Shirts mit »Pitbull Germany«-Schriftzug trugen oder während des Prozesses einschliefen. »80 Prozent der Schöffen sagen vor Gericht nie ein Wort und sitzen einfach nur stumm neben dem Richter«, sagt Hans Holzhaider, langjähriger Gerichtsreporter dieser Zeitung.
Ob ich mich überhaupt zum Schöffen eigne, wurde niemals geprüft. Mein Vater war Jurist bei einer Versicherung, mein Bruder ist Anwalt, ich fand ein Jurastudium zu trocken. Vor meiner Schöffenzeit stand ich nur einmal vor Gericht, diese Erfahrung hat mir gereicht: Ich hatte einen Hausmeister angezeigt, der seinen Schäferhund auf mich gehetzt hatte, weil ich auf einem leeren Obi-Parkplatz sonntags Skateboard fuhr. Der erste Richter war kurz vor der Rente und sprach den ebenfalls grauhaarigen Hausmeister - der Adolf hieß und betonte, dass sein Hund reinrassig sei - frei. Mit der Begründung, mein Skateboard sei eine Gefahr für andere gewesen. Mein Anwalt legte Einspruch ein, die zweite Verhandlung ging dann zu meinen Gunsten aus, der neue Richter, Ende 40, verurteilte den Hausmeister zu etwa 300 Mark Strafe. Ich war 19 und beschloss für mich: Recht ist, was der Richter richtig findet. Mit 32 wurde ich Schöffe.
Mein bisher schlimmster Moment als ehrenamtlicher Richter: einen Familienvater wegen Sozialhilfebetrugs zu vier Jahren Haft zu verurteilen. Zu sehen, wie er um Fassung ringt, wie schwer er schnauft, wie die Hände zittern. Der Familienvater hatte eine offene Bewährung wegen Steuerhinterziehung, es gab für Juristen genug Gründe, die für eine lange Haftstrafe sprachen. Für mich als Nichtjuristen gab es auch ein Argument dagegen: sein Motiv. Der Vater, der viele Jobs hatte, aber niemals Erfolg damit, hatte es nicht übers Herz gebracht, der Tochter zu sagen, dass die Familie von Hartz IV leben muss. Darum ließ er seinem Kind ein letztes, teures Hobby: Reitstunden. Um die zu bezahlen, arbeitete er nebenbei schwarz. Ich habe auch eine Tochter - für sie würde ich auch schwarzarbeiten. Einige Monate später habe ich die Ehefrau angerufen und ihr gesagt, dass es mir leid tut. Wir wollten uns treffen, aber am Tag davor schrieb mir ihr Mann eine wütende SMS: Ich solle die Finger von seiner Familie lassen.
Vier Jahre Haftstrafe bedeuten nicht, dass er die volle Zeit eingesperrt ist, das letzte Drittel wird oft erlassen und einen Teil verbringt er im offenen Vollzug - aber jetzt im Moment sitzt er. Der Mann hatte Pech: Er ist an eine strenge Richterin geraten. Und an mich.
Der Gerichtssaal - eine Festung
Der Gerichtssaal – eine Festung
Wer mein Amtsgericht betreten möchte, muss vor bewaffneten Justizbeamten durch einen Metalldetektor. Im Januar wurde am Amtsgericht Dachau ein Staatsanwalt von einem Angeklagten erschossen, der Richter konnte sich unter den Tisch retten. Hätte der Mann auf die Schöffen geschossen, wenn es ein Schöffenprozess gewesen wäre? Ich stelle die Frage einer Freundin, die bald Staatsanwältin wird, sie meint: »Sei nicht so eine Memme!« Tatsächlich sind Angriffe auf Richter die absolute Ausnahme. Ich bin trotzdem froh, dass am Amtsgericht nur Straftaten bis zu vier Jahren Gefängnis verhandelt werden.
Mein Amtsgericht ist so alt wie ich, Jahrgang 1977. Es war die Zeit der Terrorismus-Prozesse gegen die RAF, darum wurden Gerichtsgebäude wie Festungen gebaut. Wenn Angeklagte heute aus dem Fenster sehen, blicken sie durch vergilbte Gardinen. Die deprimierende Stimmung bestraft zumindest alle gleich: uns Richter wie die Täter. Letzten Sommer hat sich ein Anwalt offiziell über die »Hygienezustände im Strafjustizzentrum« beschwert. Ein Neubau ist geplant. Wie soll ein modernes Gericht aussehen? Nicht wie ein Gefängnis, klar, aber wie ein Wellness-Hotel ebenso wenig. Kleiner Reisetipp: Mit die schönsten Gerichtsgebäude in Deutschland sind das Landgericht in Bremen von 1895 und das auf einer Insel gelegene Amtsgericht in Lindau.
Die Angeklagten
Nie habe ich einen Angeklagten erlebt, der aggressiv oder empört auf ein Urteil reagiert hat, die meisten sitzen in der Verhandlung zusammengesunken da und schauen zu Boden. Vor dem Richter fühlt man sich klein, das bewirkt schon die Architektur des Saals: Schöffen und Richter sitzen erhöht, alle im Saal blicken zu uns herauf. Die größte Distanz schafft aber die Sprache, die Richter und Staatsanwälte benutzen: Juristendeutsch. Formulierungen, denen weder der Beschuldigte noch das Publikum noch ich folgen können (»gemäß Paragraf 333, Absatz 1«), voller Abkürzungen (»StPO«, »BtMG«) und Fachausdrücke (»Strafzumessungserwägung«).
In meinen bald dreieinhalb Jahren als Schöffe war der typische Angeklagte: männlich, vorbestraft, arbeitslos oder geringfügig beschäftigt, verschuldet, mit Drogen- oder Alkoholproblem, getrennt von der Mutter seiner Kinder. Nur in drei Verhandlungen saßen Akademiker auf der Anklagebank. Wie der Ingenieur, beschuldigt der sexuellen Belästigung seiner Chefin, der wortgewandt von seinen Therapieerfolgen erzählte. Ich bin immer dankbar, wenn Angeklagte nicht jede Aussage verweigern, sondern aus ihrem Leben erzählen. Etwa M., vorbestrafter Kleindealer Anfang 20, erwischt beim Kiffen mit minderjährigen Mädchen. »So ein Depp«, denke ich. Bis M. erzählt, dass seine Mutter die Familie verlassen hat, als er fünf Jahre alt war. Vielleicht bin ich zu rührselig für das Schöffenamt, aber mit jeder traurigen Existenz, die wir verurteilen, verstärkt sich mein Gefühl, dass hier die, die im Leben Glück hatten - gute Eltern, gute Ausbildung –, die bestrafen, die Pech hatten. Kein Grund, Drogenbesitz nicht zu ahnden, aber wenn einer wie M. zum x-ten Mal vor dem Richter steht, scheint Wegsperren allein so ein Leben nicht verbessern zu können. Vor dem Amtsgericht treffen sich Mittel- und Unterschicht, aber sie nehmen selten in der gleichen Reihe Platz.
Vorverurteilungen
Justitia, die als Statue oft vor Gerichtsgebäuden steht, wird mit einem Richtschwert in der rechten Hand und einer Waage in der linken Hand dargestellt, die Augen verbunden. Sie soll sich in ihrem Urteil nicht von Äußerlichkeiten leiten lassen. Im Schöffen-Leitfaden steht: »Schöffen dürfen sich bei der Ausübung ihres Amtes nicht von Regungen der Zuneigung oder der Abneigung gegenüber den Angeklagten beeinflussen lassen.« Aber geht das überhaupt? Jeder Mensch beurteilt sein Gegenüber, unterbewusst und binnen Sekunden, ob er will oder nicht, das liegt in unserer Natur. Der Ehemann, der wegen Misshandlung seiner Ehefrau angeklagt ist, ist mir unsympathisch, bevor ich ihn überhaupt gesehen habe - geschweige denn weiß, ob er schuldig ist. Einen Dieb, der seine Freundin zu Einbrüchen überredet hat, beschreibe ich in meinen Notizen am Rande als »unsympathisches Mausgesicht« (am Ende des Zettels aber auch als »ganz smart«). Und welchen Einfluss hat die eigene Stimmung auf meine Urteile? Wenn ich mich morgens mit meiner Freundin gestritten habe oder in der Arbeit noch dringend etwas erledigen muss und darum das Prozessende herbeisehne? Ich vermute, dass es Berufsrichtern ähnlich geht. Einer wissenschaftlichen Studie zufolge, die über tausend Verhandlungen analysiert hat, urteilen Richter vor dem Mittagessen härter als danach.
Ich weiß, dass es falsch ist, aber wer sympathisch, seriös oder verletzlich wirkt, punktet bei mir beim ersten Eindruck. Doch ich kann meine Meinung ändern, wie im Fall des Altenpflegers, der Demenzkranke misshandelt haben soll. Als er den Gerichtssaal betritt, wirkt er angesichts der Vorwürfe gegen ihn unpassend gockelhaft und arrogant. Drei Stunden später glaube ich, dass er die Überheblichkeit als Schutzschild benutzt - als letzten Wall gegen einen Gerichtssaal, in dem jeder inklusive des Bild-Gerichtsreporters gegen ihn zu sein scheint.
Nach dem Urteil gehe ich als Schöffe oft direkt neben den Angeklagten den Flur entlang nach draußen. Dann erkennt man die Schauspieler, die im Gerichtssaal ein herzerweichendes Häufchen Elend waren – und nach der Verhandlung vor dem Gebäude spottend ins Handy sagen: »War nicht so schlimm, Alter, Bewährung!«
Gute und schlechte Verteidiger
Der erste Anwalt, der mich beeindruckt hat, war Matlock, Hauptfigur der gleichnamigen Fernsehserie der frühen Neunzigerjahre, der in jeder Folge einen Unschuldigen verteidigte und in einem Showdown im Gerichtssaal den eigentlichen Täter entlarvte. Matlock und die Anwälte an meinem Amtsgericht haben wenig gemein. Bis auf die Aktentasche. Aber ein guter Anwalt kann auch ohne fernsehreifes Plädoyer den Unterschied ausmachen zwischen »noch Bewährungsstrafe« oder »schon Haftstrafe«, zwischen zwei oder vier Jahren Bewährung. Gute Verteidiger stellen dem Gericht glaubhaft dar, dass »strafmildernde Umstände« für ihren Mandanten vorliegen: etwa die sogenannte positive Sozialprognose, durch Heirat, ein Baby, einen neuen Arbeitgeber. Schlechte Anwälte, wie ich sie erlebt habe, betonen vor Gericht, dass ihr Mandant »ganz von sich aus« eine Therapie begonnen habe - und müssen dann kleinlaut einräumen, dass der Angeklagte genau einmal beim Therapeuten war, und zwar vorletzte Woche. In einer Verhandlung wegen Sozialhilfebetrugs zog der Anwalt Parallelen zwischen dem Angeklagten und dem Ex-Postchef Klaus Zumwinkel: Beide hätten den Staat um Geld betrogen, Zumwinkel aber um eine vielfach höhere Summe, und der habe nur zwei Jahre zur Bewährung bekommen. Ein gutes Argument, der Angeklagte wird zum kleinen Mann von der Straße, der büßen soll, wo man die dicken Fische davonkommen lässt. Auch mein Mitschöffe nickte verständnisvoll, nur die Richterin blieb hart - der Anwalt hatte uns Schöffen überzeugt, aber er gab auf und akzeptierte das härtere Urteil, es steckte zu wenig Matlock in ihm.
Streng geheim: das Richterzimmer
Gerichtsverfahren können lang werden – und langweilig. Wenn zehn Zeugen geladen sind, die alle dasselbe sagen. Oder der Richter mehrseitige Gutachten Zeile für Zeile vorliest. Dann wird mein Notizblock zum Malblock, der letzte Zuschauer schleicht sich aus dem Saal, und die Justizvollzugsbeamten dösen ein. Die spannenden Momente einer Verhandlung finden oft nicht im Gerichtssaal statt, sondern eine Tür weiter, im Richterzimmer. Dorthin bittet der Richter zum »Rechtsgespräch«: ein karger Raum mit Tisch, an dem Schöffen, Staatsanwalt, Anwalt unter sich sind. Die Zuschauer und der Beschuldigte draußen vor der Tür bekommen nichts mit, darum kann man hier Klartext reden und mit einem Scherz die Stimmung lockern. Was gesprochen wird, ist vertraulich. Da sagt der Anwalt schon mal: »Angenommen, mein Mandant würde alle Anklagepunkte einräumen, kriegt er dann Bewährung? Sonst bestreiten wir alles.« Absprachen im Hinterzimmer heißen auch »Deals«, klingt verboten, aber sie sind erlaubt, solange sie im Protokoll vermerkt werden. Ohne Deals würden manche Gerichtstage weit nach Mitternacht enden. In guten Momenten liefern sich Anwalt und Staatsanwalt im Richterzimmer spannende Rededuelle. Wenn sie so lebendig im Gerichtssaal streiten würden, wären die Zuschauerreihen besser besucht.
Haft oder Hoffnung: das Urteil
Haft oder Hoffnung: das Urteil
Ich habe Urteile mitgetragen, die mir im Gerichtssaal vernünftig vorkamen, die ich aber eine halbe Stunde später, daheim vor meiner Freundin, kaum mehr rechtfertigen konnte. Etwa der Fall, in dem eine junge osteuropäische Ehefrau mutig ihren viel älteren deutschen Mann wegen sexueller Nötigung angezeigt hatte. Der kam mit Bewährung auf freien Fuß. »Spinnst du?«, fragte meine Freundin. Wie sie habe ich mich beim Zeitunglesen oft über zu geringe Strafen für Sexualverbrecher geärgert. »Er hat sie nicht brutal vergewaltigt, sie musste ihm einen runterholen. Und die Frau wollte einfach nur, dass er sie und das Kind künftig in Ruhe lässt.« Was ich meiner Freundin verschwiegen habe: Der Mann stand schon mal vor Gericht, wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener. Er wurde freigesprochen, darum durften wir ihm das nicht vorhalten. Gefühlt hatte er eine Haftstrafe verdient, aber Wut im Bauch reicht für ein rechtskräftiges Urteil eben nicht aus.
Zwischen meiner Vorstellung von gerechter Strafe und dem, was der Richter für sinnvoll hält, liegen manchmal Jahre. Wer urteilt besser? Bauch oder Bundesgesetzbuch? Im Zweifel habe ich dem ausgebildeten Juristen vertraut - auch wenn ich danach schlecht schlafen konnte. Das richtige Strafmaß zu finden ist schwer, manchmal scheint es mir unmöglich. Wie hart soll ein Arbeitsloser bestraft werden, der immer wieder in Hotels Zimmer mietet, ohne die Rechnung zu zahlen, der dafür eine Vorstrafe bekam und doch weitermachte? Ändert es etwas, dass er mit dem Familienbetrieb unverschuldet Insolvenz anmelden musste, ihn dann Frau und Kinder verließen und er die Kontrolle über sein Leben verlor? Wie viele Gefängnistage entsprechen offenen Hotelrechnungen über 9000 Euro? Für mich wäre schon eine Woche Haft ein Albtraum, der Mann hat dreieinhalb Jahre bekommen.
Schöffen stimmen gern für strenge Bewährungsauflagen als Alternative zur Haft. Geldstrafen zugunsten von Hilfswerken oder für gemeinnützige Arbeitsstunden. Eine junge Mutter mit Drogenproblem? Verurteilten wir dazu, zwei Jahre monatlich Haarproben abzugeben. Dem Baby zuliebe. Therapie und Begleitung statt Wegsperren: Klingt toll, fand ich, bis mir ein Richter sagte, dass »etwa die Hälfte ihre Bewährungsauflagen nicht einhalten«. Und den Verurteilten nicht mal Haft droht, wenn sie die Auflagen zu spät oder unvollständig erfüllen, solange sie immer mal wieder etwas dafür tun. Als Schöffe stehe ich vor einem Dilemma: Bewährung ist als Urteil zu milde – und Gefängnis zu hart. Aber man muss nur in andere Länder schauen, um das deutsche Justizsystem wieder zu schätzen. Oder wie ein Angeklagter aus Erfahrung sagte: »Lieber zehn Jahre Stadelheim als noch mal zehn Monate Knast in den USA.«
Am Ende doch nur Statist
Hans Holzhaider, der SZ-Gerichtsreporter, hat es in all den Jahren nur einmal erlebt, dass Schöffen einen Richter überstimmten. Das Urteil war ungültig, der Richter hatte einen Verfahrensfehler begangen. Bestimmt aus Versehen. »Ich mache den Schöffen meine Sicht schon überzeugend klar«, haben mir Richter gesagt, oder: »Wenn ich überstimmt werde, wird das Verfahren an anderer Stelle mit anderen Schöffen neu aufgerollt.« Für manche sind wir nur schmückendes Beiwerk. Gute Richter fragen uns am Ende einer kniffligen Beweisaufnahme: »Was machen wir jetzt?« Sie diktieren das Urteil nicht, sie wollen es mit uns finden. Ich habe großen Respekt vor Richtern, sie tragen enorme Verantwortung. Schöffen können dabei helfen. Wenn man sie lässt.
Foto: Robert Brembeck