SZ-Magazin: Herr E., Sie haben 14 Monate lang an der Uniklinik Erlangen in der Gefäß-chirurgie gearbeitet, obwohl Sie weder Abitur noch ein abgeschlossenes Studium hatten. Waren Sie ein guter Assistenzarzt?
Christian E.: Meine Arbeit war okay, da gibt es nichts zu mäkeln. Ich habe jedenfalls nie etwas anderes gehört. Auch die Patienten waren mit mir zufrieden: wohl auch deshalb, weil ich sie alle mit Namen kannte und mich nicht nur für die Diagnosen interessierte wie die meisten Kollegen.
Sie mit Namen zu kennen ist eine Sache, sie zu operieren, obwohl Sie kein Arzt waren, eine andere. Ist denn bei Ihren 190 Operationen nie etwas schiefgegangen?
190 Eingriffe klingt so dramatisch. Aber mindestens 170 Mal war ich nur der dritte Mann. Im OP-Saal gibt es eine klare Hierarchie: Oberarzt, Facharzt, Assistenzarzt. Meine Aufgabe bestand vor allem darin, die OP-Haken zu halten oder mal eine Wunde zuzunähen. Aber ich habe nie einen Patienten aufgeschnitten. Aufschneiden ist Chefsache. Selbst operieren darf man sowieso erst nach sechs Jahren, als Facharzt. Ich habe mich zwar vor jeder OP gründlich in die Materie eingelesen, aber Theorie allein reicht eben nicht. Eine Zeitung hat sogar geschrieben, ich hätte eine Leber transplantiert. Da muss ich wirklich lachen: Das ist ein zwölfstündiger Eingriff, den ausschließlich Spezialisten vornehmen.
Warum zieht es einen gelernten Bankkaufmann in die Medizin?
Noch dazu, wenn er kein Blut sehen kann! Ich habe mit 16 Jahren meine Bankausbildung begonnen, mit 18 das Wertpapiergeschäft von Firmenkunden betreut. Das lief alles gut. Doch dann kam der Zivildienst. Und der hat Ihre Karriere unterbrochen?
So empfand ich das anfangs. Deshalb habe ich morgens von sechs bis zwölf Uhr »Essen auf Rädern« beim Malteser Hilfsdienst koordiniert. Und ab eins war ich in der Bank.
Klingt nach einem ziemlichen Spagat.
Oh ja. Mein Chef in der Bank sagte immer: Ein Tag ist nur ein guter Tag, wenn du mindestens einen Kunden über den Tisch gezogen hast. Doch auf einmal habe ich im Altersheim Leute gesehen, die Tag für Tag dort arbeiteten, ohne einen Cent zu kriegen. Das hat mir wahnsinnig imponiert. Irgendwann habe ich, mehr aus Spaß, zu meiner Mutter gesagt: Ich werde Rettungsassistent. Sie hat sich halb totgelacht und gemeint: Das schaffst du nie! Da war für mich klar: jetzt erst recht. Also habe ich nach dem Zivildienst bei den Maltesern eine Ausbildung begonnen.
Da haben Sie bei der Bank gekündigt?
Nein. Abends um sieben fing die Nachtschicht bei den Maltesern an, ich bin Rettungsdienst gefahren. Morgens war ich wieder in der Bank. In diesen 18 Monaten habe ich 4000 Stunden ehrenamtlich gearbeitet.
Aber Sie konnten doch kein Blut sehen.
Während der Ausbildung hatte ich schon Schwierigkeiten, nur PowerPoint-Folien mit Verwundeten anzugucken. In der vorletzten Stunde sagte der Ausbilder: Heute schauen wir bei einer Operation zu. Ich habe mir nur gedacht: Scheiße! Wir standen anderthalb Stunden hinter einer Scheibe, Hüftoperation. Das ist so ziemlich das Blutigste, was es gibt. Ich war schweißnass, Blutdruck 80, und musste aufpassen, dass ich nicht umkippe. Auf der anderen Seite war ich fasziniert. Seitdem hatte ich nie wieder Probleme, die OP war wie eine Schocktherapie.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Je länger ich als Rettungsassistent gearbeitet und gesehen habe, was die Notärzte leisten, umso größer wurde mein Wunsch, einen medizinischen Beruf zu ergreifen.")
Morgens in der Bank, nachts im Rettungsdienst. Warum haben Sie so geschuftet?
Ich war damals verheiratet, meine Frau hat studiert und ich musste unsere Eigentumswohnung abbezahlen. Eines Tages erklärte ich ihr, dass ich das Abitur nachmachen möchte, um Medizin zu studieren. Geht nicht, sagte sie, ich studiere
doch schon. Aber je länger ich als Rettungsassistent gearbeitet und gesehen habe, was die Notärzte leisten, umso größer wurde mein Wunsch, einen medizinischen Beruf zu ergreifen.
War das der Moment, wo Sie bei der Bank gekündigt haben?
Nein. Ich habe so lang weitergemacht, bis meine Ehe zerbrach. Dann war mir klar: So geht es nicht weiter. Ich muss mich für einen der beiden Jobs entscheiden.
Begann damit Ihr großer Schwindel?
Ja, aber unabsichtlich: Ich wollte im Internet nachschauen, wie man das Abitur nachholen kann. Da bin ich auf eine Webseite mit Blanko-Abiturzeugnissen gestoßen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es die Seite einer Druckerei. Beim Ausdrucken dachte ich: Das muss ein Witz sein! Ich habe den Bogen mit der Schreibmaschine ausgefüllt. Nach zehn Minuten hatte ich mein Abitur.
Und keiner hat die Fälschung erkannt?
Nein. Ich habe meine Unterlagen an die ZVS geschickt, die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Die wollten nur Kopien der Zeugnisse. Zwei Wochen später lag der Bescheid für einen Studienplatz in Erlangen im Briefkasten.
Waren Sie sehr euphorisch?
Nein, mein erster Gedanke war: Ich lebe in Deutschland, das kann doch nicht funktionieren. Zwei Tage lang habe ich den Bescheid angeschaut und mir gesagt: Du hast eine Eigentumswohnung und einen Job, du kannst doch nicht studieren. Ich habe damals 3500 Euro netto verdient. Trotzdem habe ich bei der Bank gekündigt und mich an der Uni eingeschrieben. Als ich in der Schlange stand, habe ich leise vor mich hin gejubelt: Mein Gott, Medizin. Medizin!
War Ihre Familie sehr stolz auf Sie?
Ich habe es einige Tage später bei einem Geburtstagsfest erzählt: Übrigens, ich studiere jetzt. Mein Vater sagte: Überleg dir das doch noch mal. Ich antwortete: Ich habe schon bei der Bank gekündigt. Da brach ein heilloses Theater aus: Wie ich nur mein ganzes Leben wegschmeißen könne? Mein Vater hat ein halbes Jahr nicht mehr mit mir geredet.
Warum hat niemand nachgebohrt, wie Sie ohne Abitur studieren konnten?
Meine Familie wusste nicht, wie man das Abi nachholt und ob ich vielleicht an der Abendschule war. Ich war immer sehr selbstständig und bin mit 16 von daheim ausgezogen. Auch später haben sich meine Eltern nicht gewundert, als ich so schnell Arzt wurde. Sie hatten keine Ahnung, wie lange ein Medizinstudium dauert.
Wieso wollte Ihr Vater eigentlich partout nicht, dass Sie Arzt werden?
Mein Weg war immer vorbestimmt: Bruder bei der Bank, Schwester bei der Bank, Vater bei der Bank. Sein idealer Berufsweg sah so aus: Ausbildung, dreißig Jahre bei der Bank, Rente und fertig. Doch mein innigster Wunsch nach fünf Jahren Dienst bei den Maltesern war es nun mal, Medizin zu studieren. In der ersten Vorlesung an der Uni fragte der Professor: Bitte mal alle melden, die aus einer Arztfamilie kommen. Zwei Drittel der Hände gingen hoch. Ich hatte immer wieder mit Leuten zu tun, die gar nicht Medizin studieren wollten, aber sagten: Mein Vater hat eben eine Praxis. Ich habe nie verstanden, wie jemand so was studieren kann, wenn er es nicht unbedingt will.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Nichts gegen das Abitur. Aber wenn man fünf Jahre im medizinischen Rettungsdienst arbeitet, hat man sicher mehr Ahnung als jemand, der lateinische Texte rezitieren kann.")
Haben Sie sich das auch deshalb gedacht, um sich Ihren Betrug etwas schönzureden?
Na ja, nichts gegen das Abitur. Aber wenn man fünf Jahre im medizinischen Rettungsdienst arbeitet, hat man sicher mehr Ahnung als jemand, der lateinische Texte rezitieren kann. Ich habe im Studium auch alle Scheine und Prüfungen mitgemacht und war bei den Noten immer im mittleren oder oberen Drittel.
Wie haben Sie Ihr Leben und Ihre Eigentumswohnung neben dem Studium finanziert?
Die Eigentumswohnung habe ich gleich verkauft, bin aber auf 20 000 Euro Schulden sitzen geblieben. Darum habe ich mir fünf Nebenjobs besorgt: bei den Maltesern, beim Ambulanzflugdienst des ADAC, in einer Allgemeinarztpraxis, als Tutor in der Anatomie und organisatorischer Leiter im Rettungsdienst. Ich war immer auf Bereitschaft. 24 Stunden, sieben Tage die Woche.
Nach acht Semestern haben Sie aufgehört, Medizin zu studieren. Warum?
Mein älterer Bruder wurde von heute auf morgen krank. Er war mein großes Vorbild. Wir hatten am Tag zuvor noch telefoniert, er klagte über Kopfschmerzen. Am nächsten Tag lag er in der Klinik: Gehirntumor. Er lag zwei Monate im Koma. Meine Familie ist zusammengebrochen und ich selbst war am Ende: fünf Jobs und trotzdem pleite. Ich habe nie jemanden um Hilfe gebeten, dachte immer, ich muss es allein schaffen. Und jetzt war die ganze Familie mit meinem Bruder beschäftigt, da konnte ich nicht auch noch kommen und sie um Geld bitten. Aber es kam noch etwas hinzu: Mein Professor, bei dem ich meine Doktorarbeit schrieb, fragte mich ständig, wann ich mit dem Studium fertig sei. Er habe eine Stelle für mich.
Und da konnten Sie nicht widerstehen.
Mir fiel ein, wie das mit dem Abiturzeugnis gelaufen war. Es schien alles so einfach: Ich hätte einen Job, alle Sorgen und Probleme wären weg. Also bin ich wieder ins Internet gegangen und habe nach Zulassungsurkunden für Ärzte gesucht. Die sind noch einfacher zu finden als Abiturzeugnisse. Jeder Mediziner meint wohl, seine online stellen zu müssen. Als mich mein Professor das nächste Mal ansprach, sagte ich: Ich bin jetzt fertig. Das Bewerbungsgespräch beim Klinikchef dauerte drei Minuten. Mein Professor hatte ihm vorher einen Brief geschrieben, dass er mich unbedingt haben wollte. Meine Unterlagen hat sich der Klinikchef gar nicht erst angesehen.
Hatten Sie erwartet, dass Sie stärker unter die Lupe genommen werden?
Klar. Ich habe mir schon ausgemalt, dass ich das Zimmer betrete und der Klinikchef fragt: Wollen Sie mich veräppeln? Andererseits kann den man Leuten keinen Vorwurf machen. Ich war ja bekannt an der Klinik, arbeitete schon lange für meinen Professor, hatte Zutritt zu allen Forschungseinheiten.
Warum haben Sie eigentlich so maßlos übertrieben? Ihre Bewerbungsmappe enthielt auch einen Doktortitel für Wirtschaft aus Frankfurt und einen für Medizin aus Oxford.
Mir hat mal jemand während des Studiums gesagt: Um hier an der Uni eine Stelle zu bekommen, muss man entweder einen guten Namen haben – etwa die Hälfte aller Assistenzärzte hat einen Chefarzt als Vater – oder man sticht mit seinen Zeugnissen heraus. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass ich es unterbewusst wohl darauf angelegt habe, erwischt zu werden.
Wieso glauben Sie das?
Ich habe das auch mit meinem Anwalt diskutiert. Kriminalistisch gesehen war meine Aktion so blöd, wie man es nur machen kann: Wenn ich schon in Erlangen studiere, dann suche ich mir doch besser eine Stelle in Hamburg. Auf jeden Fall so weit weg wie nur möglich, wo mich wirklich niemand kennt.
Wurden Sie nicht irgendwann übermütig? Sie konnten tricksen und lügen, wie Sie wollten, und nichts passierte.
Ach was, ich hatte vom ersten Tag an Angst. Sie wurde immer größer. Ich habe mich vor dem Tag gefürchtet, an dem alles auffliegt. Und ich wusste, dass der Tag kommt.
Wie hat es sich mit dieser Angst gelebt?
Um nichts falsch zu machen, habe ich jeden Handgriff doppelt und dreifach kontrolliert. Ich wollte mir nichts zuschulden kommen lassen. Schlimm war auch, wenn mir Studenten, mit denen ich ein paar Wochen zuvor noch im Hörsaal saß, auf dem Flur begegneten. Da habe ich sofort das Revers meines Kittels umgeschlagen, damit niemand auf meinem Namensschild sehen konnte, dass ich schon Arzt war.
Gab es in der ganzen Zeit niemanden, dem Sie sich anvertrauen konnten?
Nein. Deshalb bin ich abends oft auf den Schweinauer Berg in Nürnberg gefahren und habe allein vor mich hin gebrabbelt.
Im Februar 2007, nach 14 Monaten als Assistenzarzt, war Ihr Spiel aus.
Mein Funker piepste während der Visite – der leitende Oberarzt. In seinem Büro meinte er, es gebe gewisse Ungereimtheiten. Er hielt ein Schreiben der Ärztekammer in der Hand und sagte, er wisse zwar noch nichts Genaueres, aber ich sei erst mal beurlaubt. Eine halbe Stunde später war ich daheim und schluckte zwanzig Schlaftabletten. Gott sei Dank hat mich meine Freundin gefunden.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Wer immer mich hat auffliegen lassen, ich bin ihm sehr dankbar. Er hat mir die Entscheidung abgenommen.")
Wer hat Sie auffliegen lassen?
Keine Ahnung. Irgendjemand hat sich wohl gedacht: Mit dem stimmt was nicht, der saß noch vor Kurzem im Hörsaal. Wer immer es war, ich bin ihm sehr dankbar. Er hat mir die Entscheidung abgenommen. Lange hätte ich den Druck eh nicht mehr ausgehalten. Die erste Nacht in Untersuchungshaft war auch die erste Nacht, in der ich wieder richtig geschlafen habe. Ich dachte: endlich Ruhe! Seit Jahren rennst du vor etwas weg und hast immer nur Sorgen. Jetzt wirst du bestraft, aber musst vor niemandem mehr sein, was du nicht bist.
Wie hat Ihre Familie reagiert?
Meine Freundin und meine Eltern stehen jetzt voll hinter mir. Nachdem ich ihnen
die Wahrheit erzählt hatte, kamen sie ziemlich ins Grübeln. Vor allem mein Vater unterstützt mich seitdem sehr.
Bereuen Sie, was Sie getan haben?
Jeden Tag. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Vor allem tut es mir gegenüber meinem ehemaligen Chef leid. Er hat mir vertraut und mich ernst genommen. Ich durfte meine Forschungsarbeit sogar auf einem Kongress vorstellen, wo die besten Gefäßchirurgen der Welt saßen. Ich habe ihm einen Entschuldigungsbrief geschrieben. Aber natürlich verstehe ich, dass die Leute von der Klinik nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.
Können Sie eigentlich die allgemeinen Vorbehalte gegen Krankenhäuser bestätigen?
Ich habe in erster Linie einen riesigen Respekt vor der Arbeit meiner Kollegen. Und ein enorm schlechtes Gewissen, dass ich sie so lange getäuscht habe.
Haben Sie nicht trotzdem ab und zu den Kopf geschüttelt über Ihre Kollegen?
Am ehesten über die Hierarchiekämpfe: Die Bauchchirurgen schweben zehn Zentimeter über dem Boden, die Herzchirurgen noch etwas höher, dann die Hirnchirurgen – die müssen den Kopf einziehen, sonst stoßen sie an der Decke an. Aber alle Chirurgen belächeln die Internisten, weil die nur den ganzen Tag reden und vielleicht mal Tabletten verabreichen. Für einen Chirurgen bedeutet Therapie etwas anderes: dass er mit dem Skalpell etwas herausschneidet.
Sie waren bereits sechs Monate in Haft und müssen im nächsten Frühling möglicherweise noch mal ein Jahr einrücken. Wie stellen Sie sich Ihr weiteres Leben vor?
Ich bin jetzt dreißig, das Leben ist noch lange nicht vorbei. Seit einem halben Jahr mache ich mein Abitur nach, um später Medizin zu studieren. Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Das ist ein anstrengender Weg, aber auch wenn er zehn Jahre dauert: Ich werde es schaffen. Ansonsten wünsche ich mir ein ruhiges Leben mit Familie, ohne vor etwas davonlaufen zu müssen. Ich will abends nach Hause kommen und den Kopf frei haben.
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Zwei Stunden sprachen Julia Rothhaas und Rainer Stadler mit dem Hochstapler Christian E. Und fanden, dass sich mancher Arzt ruhig eine Scheibe abschneiden könnte von dem gelernten Bankkaufmann, der gut mit Patienten umgehen kann und auch die Fachwelt überzeugte, als er über „Kombinierte gefäßchirurgisch-plastische Rekonstruktionen zum Extremitätenerhalt bei ausgedehnten Gewebedefekten“ referierte.
Christan E. hat inzwischen auch eine eigene Webseite und hat ein Buch über seine Geschichte geschrieben, das bald erscheinen soll: www.wahnsinn-in-weiss.de
Ralf Zimmermann (Foto)