Liebe zukünftige Lieblingsfrau,
mir fällt auf, dass ich nicht weiß, wie alt du bist. Aber ich nehme mal vorsichtig an, du bist nicht viel jünger als ich, deshalb hast du es vielleicht auch schon erlebt: Auf eine Art ist es einfacher, mit rund 40 Jahren Single zu sein als mit 20. Es sind ein paar Dinge entspannter. Irgendwas hat man vielleicht doch gelernt, über sich und andere, darüber, was man will und braucht, was man auf keinen Fall erträgt und dass man nackt nicht so unerträglich aussieht, wie man immer dachte. Vieles ist einfacher. Anderes nicht.
Es war noch ziemlich früh nach der Explosion in meinem Leben, zu einer Zeit, als ich nur dachte, ich wäre schon so weit, rauszugehen und wieder vorwärts zu fühlen, da saß ich einer Frau gegenüber auf der Terrasse einer Bar am Wasser. Der Sommer hatte begonnen und die Tage waren schon lang. Die Sonne ging gerade erst unter, obwohl wir schon beim zweiten Gin Tonic waren, und meine Hoffnungen gingen gerade erst wieder auf. Wir hatten schnell getrunken, wahrscheinlich ein bisschen nervös, wir kannten uns ja nicht, und diese merkwürdige Institution des »Datens« kann sich anfühlen wie eine lebenslang zu wiederholende mündliche Abiturprüfung, bei der man nicht gesagt bekommt, um welches Fach es gerade geht. Aber wir lachten. Dann sagte sie mir unvermittelt einen Satz, von dem ich damals nicht verstanden habe, was er wirklich bedeutet, und er traf mich merkwürdig unvorbereitet. Sie sagte: »Ich bin nicht für One-Night-Stands zu haben, und auch nicht für etwas Nichtexklusives.«
Es war nicht der Inhalt, den ich nicht verstand, eindeutiger geht es ja nicht, es war der Moment. Mir kam es viel zu früh vor, fast schon aufdringlich, Regeln für Sex aufzustellen, bevor Sex überhaupt ein Thema war. Und mehr als das: Ich lebte in der Illusion, es gäbe so etwas wie allgemeine Regeln. Es gab in meinem Leben bis dahin nur Sex in Beziehungen, selbst wenn es kurze waren, und eine überschaubare Reihe von One-Night-Stands, einmal Sex mit der Ex, was zu einem emotionalen Desaster führte, und natürlich wusste selbst ich, dass Menschen Affären haben oder reine Sex-Beziehungen, selbst wenn ich das selbst nie erlebt hatte. Oder irgendwie offene Beziehungen, in denen jede denkbare Variation möglich ist, aber das war es für mich nie. Jedenfalls war Sex, dieses wilde, scheue, ungezähmte Wesen mit all den Unsicherheiten, die es verbreitet, immer gebunden an ein Konzept, an etwas, dem man einen Namen geben konnte, das Regeln hatte, nach denen man sich richten konnte bei dem Versuch, gemeinsam am Feuer zu tanzen, ohne dass jemand sich verbrennt.
Heute weiß ich, dass es keine Regeln gibt außer denen, die man sich selbst macht, und dass sie im Zweifel ungefähr so hilfreich sind wie wenn man einen Vulkan kontrolliert, indem man einmal im Jahr einen Feuerlöscher hineinwirft. Die Frau hatte einfach recht: Sie hatte ihre eigenen Regeln gefunden, und sie hat sie sofort und unmissverständlich klargemacht. Das ist schlau. Und gleichzeitig hilft sie, wie jede Regel, nur dann, wenn man erklären will, warum etwas nicht funktioniert hat.
Ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn wir uns treffen. Ob mit einem Schlag alles klar ist und keine Fragen offen, weil wir zusammen ein einziger Vulkan sind, und der Rest der Welt nur noch ein Ort, in dem man von jedem Punkt aus das Leuchten sieht, egal wo man steht. Ob wir ein One-Night-Stand sind, der einfach nicht endet, bis wir uns eines Tages fragen, ob es je ein Leben ohne den anderen gegeben hat, und vor allem, warum? Oder ob wir wie alle Sterblichen unseren Weg finden müssen, während wir gehen, und jeder Plan nur so lange gültig ist, wie die Realität ihn lässt. Verbunden mit der einzigen Regel, von der ich für mich glaube, dass sie ewige Gültigkeit hat: Dass der einzige Schutz in der Welt die Freiheit ist, sich zu entscheiden, und jeden Morgen aufzuwachen, auf das bettwarm verschlafene Gesicht neben sich zu blicken und zu sagen: Ja, ich will.
Das ist mein Plan: Ich will. Und morgen wieder.
Foto: Stephanie Pfaender