Politik der Verschiebung

Spätestens mit der Katastrophe von Fukushima und dem Konflikt in Libyen ist der Live-Ticker zum Pulsmesser der Gegenwart geworden. Doch die Frage ist, ob sich diese Form der permanenten Kurzberichterstattung überhaupt noch mit den Ereignissen, die sie dokumentieren soll, verträgt.

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An der Wortschöpfung „Live-Ticker“ fällt zunächst eine eigentümliche Verdoppelung auf. Wo bereits das Bild des „Tickers“, also des Fernschreibers, auf die Übermittlung von Daten in Echtzeit verweist, soll die Vorsilbe „Live“ denselben Prozess ein zweites Mal unterstreichen. Eine Tautologie der Präsenz: Vermutlich muss das Format seine Unmittelbarkeit deshalb so übermäßig betonen, weil der Live-Ticker eben genau keine Übertragung in Echtzeit ist. Die simultane Verschriftlichung des Geschehens benötigt zumindest ein paar Sekunden und sorgt immer wieder für Momente der Verzögerung; jeder weiß das, der am Samstagnachmittag die Bundesliga-Konferenz im Radio hört und parallel den Live-Ticker einer Website mitverfolgt.

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Lange Zeit war dieses journalistische Format nur im Bereich des Sports bekannt (das Initialereignis offenbar die WM 2002); vor vier, fünf Jahren tauchte es sporadisch auch in anderen Zusammenhängen auf, etwa am Tag von politischen Wahlen, bei Aufsehen erregenden Gerichtsverfahren oder als eine Art Countdown vor Großereignissen wie der Obama-Rede in Berlin. Seit drei Wochen nun ist der Live-Ticker allgegenwärtig und hat sich mit der Berichterstattung über Japan und Libyen ganz neue Ereignisfelder erschlossen. In der Präsentationsform telegraphischer Nachrichten, die auch im 21. Jahrhundert noch höchste Aktualität garantieren soll – mit den drei Kreuzen vor und nach jeder Überschrift –, informiert der Ticker über die neuesten Entwicklungen im Kampf gegen Gaddafi oder die nukleare Bedrohung. Die Online-Ausgaben aller großen Zeitungen und Magazine bilden das Weltgeschehen mittlerweile auf diese Weise ab, und Tag für Tag erreicht das Format die höchsten Klickzahlen auf den Websites.

Dennoch ruft der neue Einsatz des Live-Tickers Irritationen hervor. Kann man über Unfälle oder Kriegseinsätze im Modus des Sports schreiben? Der Live Ticker nivelliert die Ereignisformen: Meldungen wie „08.53 Uhr +++ Druck im Reaktorblock 3 hoch, aber stabil +++“ oder „13.54 Uhr +++ 97 Lufteinsätze in 24 Stunden +++“ sind formal und erzählerisch so nah an dem vertrauten Eintrag „17.14 Uhr +++ 89. Minute: Thomas Müller schießt das 3:2 für den FC Bayern +++“, dass der semantische Unterschied zwischen Fußball und Katastrophen, Tor und Tod in den Hintergrund rückt. Der Live-Ticker sportifiziert die Tragödie.

Dieses Unbehagen trifft das Problem des Formats allerdings nicht im Zentrum; zudem wirkt es ein wenig wie jenes kulturkritische Rauschen, das bei der Etablierung eines neuen Medienangebots immer zu vernehmen ist. Genauer lässt sich das Befremden am Siegeszug des Live-Tickers vielleicht fassen, indem man die Ereignisformen vergleicht, die er inzwischen begleitet. Denn die Zäsur seiner Anwendung liegt nicht, wie vereinzelt geschrieben wurde, im Übergang von der sportlichen zur politischen Veranstaltung. Die Ereignisstruktur eines Fußballspiels, einer Landtagswahl oder eines Gerichtsprozesses ist verwandt; immer geht es um einen eingegrenzten Zeitraum, dessen Verlauf linear darstellbar ist und an dessen Ende ein Ergebnis steht. Der Live-Ticker, mit seiner auf Spannungsaufbau und Entwicklung berechneten Dramaturgie, bietet sich überall dort an, wo die Dinge auf Ergebnis und Urteilsspruch hinauslaufen.

Ein Militäreinsatz oder ein Reaktorunfall stellen aber ganz andere Ereignistypen dar. Es stellt sich daher die Frage, ob die ständig aktualisierte Simultanerzählung das richtige Format in diesem Zusammenhang ist. Denn alles, worauf sich das lineare, von Eintrag zu Eintrag näher auf den Fluchtpunkt des Resultats zusteuernde Protokoll des Tickers beziehen muss, fehlt. Der Kriegseinsatz oder der Unfall haben keinen zeitlichen Rahmen, kein datierbares Ende; im Lauf der Stunden und Tage findet keine Zuspitzung statt, wie die Schlussphase des Spiels oder die erste Hochrechnung, sondern eher Zerfaserung, Fragmentierung und Vielstimmigkeit.

Das anschaulichste Beispiel für diesen Prozess ist die Berichterstattung über Fukushima in den letzten 20 Tagen: eine Abfolge von vagen, einmal panischen, einmal beschwichtigenden, dann wieder erratischen Zwischenmeldungen. Nicht einmal im gröbsten Rahmen hat sich bislang so etwas wie eine gültige Version des Ereignisses und seiner Gefahren geformt. Und in Erinnerung an Tschernobyl bestehen berechtigte Zweifel daran, ob eine solche Erzählung jemals zur Verfügung stehen wird. Genau vor diesem Hintergrund muss man noch einmal die Live-Ticker der letzten Wochen lesen, die ja, aufgrund ihrer eingespielten Erzählmuster, ständig eine Tendenz, eine Mikrodramaturgie herausspüren müssen. Zwischen den drei Kreuzen haben sich dort die folgenden Aussagen angesammelt: „In Fukushima steht eine nukleare Katastrophe bevor. – Die Situation ist ernst, aber unter Kontrolle. – Ob eine Kernschmelze eingetreten ist, entscheidet sich definitiv am kommenden Samstag. – Am Montag. – Am Mittwoch. – Die Wetterbehörde gibt Entwarnung für Tokio. – Japans Metropole vielleicht für immer unbewohnbar.“ In der Rückschau, eine dem Format natürlich unliebsame Lektüre, stellt sich der Live-Ticker eher als Stakkato leerer Prognosen dar.

Jede noch so fleißige Aktualisierung verpufft im Angesicht eines Unfalls, dessen zeitliche Logik bei der Aufarbeitung nur in Kategorien wie Verzögerung, Verschleppung und Nachträglichkeit beschrieben werden kann. Was an den Reaktionen auf die Explosion der Reaktoren ja vor allem befremdet, ist die ständige Verschiebung der Schwelle, welche die noch beherrschbare Situation von der absoluten Katastrophe trennt. Sind es die offen liegenden Brennstäbe? Ist es das versickernde Plutonium? Ist es die längst eingetretene oder doch noch abzuwendende „Kernschmelze“ (ein Begriff, der in den letzten drei Wochen immer wieder seine Semantik und Funktion geändert hat)? Die Informationspolitik aus Japan funktioniert im Modus des unendlichen Aufschubs. Eine Aussage über die wahre Bedeutung, das wahre Ausmaß des Vorfalls wird in Aussicht gestellt und dann wieder relativiert oder vergessen. Allenfalls im Rückblick könnte sich irgendwann eine verlässliche Erzählung über das Ereignis legen und die strategische Bedeutung der früheren Nachrichten offenbaren.

Mit dem Live-Ticker, mit ständigen Updates ist dieser Politik der Verschiebung nicht beizukommen. Diese Ahnung muss inzwischen auch bei den aufopferungsvoll mitschreibenden Online-Redakteuren einen gewissen Zustand der Müdigkeit hervorgerufen haben. Doch im Medium des Internets, das Nachrichten ohne Verzögerung, ohne Reibungsverlust verspricht, prosperiert ein Format wie der Live-Ticker, weil er den Anspruch und die Sehnsucht der Nutzer nach Informationen in Echtzeit zu erfüllen versucht. Aktualität und schnelles Reaktionsvermögen sind die unwidersprochenen Qualitäten des Online-Journalismus. Die Lage in Fukushima bestärkt allerdings den Verdacht, dass das größtmögliche Tempo der Übermittlung auch ein falsches Narrativ über die Ereignisse legen kann. Die Titelzeile eines großen Online-Portals machte dieses Dilemma vor wenigen Tagen anschaulich. „Angst vor dem schleichenden Super-GAU – Alles über Japan im Live-Ticker“, hieß es dort. Die Kollision der Geschwindigkeiten in den beiden Sätzen wirkte wie ein Eingeständnis, dass das neue Format an seine Grenzen gestoßen ist.