Viele Titel hat man Anna Wintour, Chefin der US-amerikanischen Vogue schon gegeben – "Icy Queen", "nuclear Wintour" oder "Stalin auf Stilettos". Sie zeigen die Hassliebe, die einer der berühmtesten Chefinnen der Welt entgegenschlägt. Nun gibt es wieder ein Gerücht: Nach 20 Supererfolgsjahren an der Spitze der Vogue soll Wintour wegen sinkender Auflage angeblich hinausgeworfen werden, zugunsten ihrer langjährigen Rivalin Carine Roitfeld, Chefin der französischen Vogue. Und schon greifen alle Magazine, Zeitungen und Internetseiten tief in die Kiste des Wintour-Modewelt-Mythos und erzählen mal wieder die gleichen Geschichten: dass sie immer ihre große dunkle Sonnenbrille trägt, niemals Hosen oder flache Schuhe; dass die wichtigen Modenschauen mit Verspätung beginnen, weil alle noch auf SIE warten. Oder diese Geschichte: Anna Wintours Vorgängerin hieß Grace Mirabella. Als sich Wintour vor über 20 Jahren bei ihr vorstellte, fragte Mirabella, welchen Job sie wolle. Wintour antwortete kühl: "Ihren". Als Tierschützer der überzeugten Pelzträgerin im Restaurant einen toten Waschbär auf den Teller warfen, bedeckte sie das Tier mit ihrer Serviette und bestellte seelenruhig Espresso. Und spätestens seit dem Buch und dem Film Der Teufel trägt Prada, für die Anna Wintour Vorbild war, ist ihre Kaltblütigkeit und Härte endgültig zum Mythos geworden.
Anna Wintour fasziniert die Menschen, weil sich in ihrer Person Topmanagement und Glamourwelt vereinen. Sie ist eine knallharte Macherin in einem milliardenschweren Wirtschaftszweig, der Modeindustrie. Mit Gespür und Entschlossenheit hat sie die US-Vogue zum erfolgreichsten Modemagazin der Welt gemacht; während die Kollegen aus Paris Avantgarde zeigten, schaffte sie es, mit ihrem Mainstream deluxe die Massen zu begeistern. Sie hat junge, amerikanische Designer gefördert wie Proenza Schouler oder Marc Jacobs. Anna Wintour hat sich ein perfektes Netzwerk aufgebaut – wie alle, die schon früh wissen, dass sie einmal an die Spitze eines großen Unternehmens wollen. Auf dieses Netzwerk kann sie sich verlassen; wer hier nach ihren Regeln spielt, den unterstützt sie, wer nicht, den serviert sie ab. Sie redet nicht über ihr Privatleben, zeigt der Öffentlichkeit nur die Chefredakteurin, diszipliniert, ehrgeizig, ernst. Für all das bewundert man sie. Doch mächtige Frauen, die undurchschaubar und hart wirken, sind der Gesellschaft auch unheimlich. Und Anna Wintour arbeitet auch noch in der Modebranche, dort hält man sowieso alle für zickig, oberflächlich und intrigant. Die ewig wiedergekäuten Wintour-Geschichten sind der Versuch, eine Frau zu begreifen, die unmenschlich perfekt wirkt, die einen der begehrtesten Jobs der Welt hat und die niemand wirklich kennt. Und diese Geschichten handeln auch von einer Welt, die die Öffentlichkeit oft abstößt und gleichzeitig fasziniert. Anna Wintour weiß das. Seit sie 15 Jahre alt ist, trägt sie ihre Pagenkopf-Frisur wie ein Markenzeichen. Sie kleidet sich in Pelz, gleichgültig ob dafür Tiere sterben und Eier nach ihr geworfen werden – sie folgt ihren eigenen Regeln. Sie versucht nicht, die Gerüchte über sich zu widerlegen, schirmt sich ab, gibt kaum Interviews: Sie hat an ihrem Mythos der kaltblütigen, harten Modekönigin fleißig mitgebastelt.
Wann immer Anna Wintour von der Modebühne abtritt, jetzt, bald oder irgendwann, werden die Menschen sich verlassen fühlen. Nicht, weil sie ratlos in den Geschäften stehen und nicht wissen, welche Farbe dieses Frühjahr Trend ist. Sondern weil sie sich eine neue Figur suchen müssen, auf die sie ihre Vorstellungen der bösen und doch so faszinierenden Modewelt projizieren können.
Doch bevor es so weit ist, muss schnell noch eine Gerücht geklärt werden: Die Modenschauen beginnen nicht später, weil alles auf Anna Wintour wartet. Die sitzt nämlich meist als eine der Ersten auf ihrem Platz.