In der Münchner Fußgängerzone, vielleicht hundert Meter vom Stammsitz der Süddeutschen Zeitung entfernt, steht seit zehn Jahren eine kleine Statue des Journalisten Siegfried Sommer. Sie zeigt den berühmten Autor der Süddeutschen und der benachbarten Abendzeitung bei der Arbeit, flanierend in den Straßen der Innenstadt. Der Richtung seiner Schritte nach zu schließen, ist er gerade auf dem Weg in die Redaktion, vielleicht um eine Kolumne abzugeben.
Wenn der Süddeutsche Verlag nun nach einem Beschluss der früheren Gesellschafter in ein neues Bürohochhaus umzieht, nach Steinhausen an den östlichen Münchner Stadtrand, ist die Statue ihrer Perspektive beraubt. Siegfried Sommer geht fortan ins Leere, und in ein paar Jahren, wenn aus dem Redaktionsareal zwischen Sendlinger- und Hotterstraße Wohngebäude und Einkaufspassagen geworden sind, wird die kleine Figur einen letzten Hinweis darauf geben, dass hier mehr als sechzig Jahre lang ein großes Zeitungshaus stand. Womöglich ist bei den Umzugsvorbereitungen einmal der Gedanke aufgekommen, die Statue in die neue Konzernzentrale mitzunehmen. Die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens muss aber sofort ins Auge gesprungen sein. Denn der Standort der Figur trägt ja gerade jener schönen Einheit Rechnung, dass Recherchegebiet und Redaktionsadresse für einen Münchner Lokalkolumnisten praktisch dasselbe waren. Im Gewerbegebiet von Steinhausen da-gegen stünde der Spaziergänger Sommer ziemlich verloren da.
»Die Themen liegen auf der Straße«, heißt es im Journalismus gern. Für die Süddeutsche Zeitung traf diese leicht überstrapazierte Weisheit sogar zu, denn der Sitz der Redaktion im Zentrum Münchens, in unmittelbarer Nähe zum Marienplatz, zum Viktualienmarkt, brachte tatsächlich oft Geschichten hervor, die den Lesern lange in Erinnerung blieben. Als das SZ-Magazin etwa japanischen Touristen ihre Filme abkaufte und die entwickelten Fotos im Heft veröffentlichte, konnte diese Idee nur entstehen, weil man den unentwegt knipsenden Reisegruppen in jeder Mittagspause begegnete.
Welche Themen werden künftig in Steinhausen auf der Straße liegen, wenn man nicht gerade an einer Geschichte über Gebrauchtwagenhändler oder Prostituierte schreibt? Die Zeitung droht jene Fülle an Inspiration einzubüßen, die das Zentrum Münchens Tag für Tag zur Verfügung gestellt hat – ganz direkt, durch eine unverhoffte Begegnung vor der Türe, oder indirekt, nicht genau messbar, durch einen Einfall, der sich mittags im »Weinhaus Neuner« ergab, beim Kaiserschmarrn im »Sedlmayr« oder beim Espresso in der »Segafredo-Bar« am Rindermarkt. In Steinhausen gibt es, eine Viertelstunde Fußweg von der Redaktion entfernt, eine Dönerbude und einen »Burger King«.
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Jeder SZ-Redakteur könnte eine Reihe von Geschichten darüber erzählen, wie die zentrale Lage der Redaktion in seine Arbeit eingeflossen ist. Von den prägenden Autoren der vergangenen Jahrzehnte weiß man etwa, dass sie fast alle ihre angestammten Lokale und Cafés hatten, in denen sie ihre Artikel vorbereiteten, Herbert Riehl-Heyse die »Scheck-Alm«, ein längst verschwundenes Bistro neben der Redaktion, Hans Ulrich Kempski das »Hacker-Haus« in der Sendlinger Straße. Axel Hacke erinnert sich vor allem daran, wie oft ihn die großen Buchhandlungen am Marienplatz aus einer Notlage gerettet haben: »Manchmal waren es noch zwei, drei Stunden bis zum Redaktionsschluss, und ich bin panisch durch den Hugendubel gelaufen, um in einem der Bücher eine Anregung zu finden.«
Und Joachim Kaiser, der auf seinem schwer bepackten Fahrrad fast schon zum vertrauten Stadtbild zwischen Schwabing und Marienplatz gehört, entnahm die aktuellen Konzertaufführungen, wie er sagt, seit je den Litfaßsäulen in der Ludwigstraße, auf dem Weg zur Arbeit. »Eines Morgens traf ich an der Münchner Freiheit Christian Ude, der gerade mit dem Fahrrad unterwegs ins Rathaus war. Wir wetterten gegen den unsinnigen neuen Busbahnhof, der dort den Radweg behindert, und Ude war ganz angetan, dass ich nicht nur über Musik und Literatur so leidenschaftlich sprechen kann, sondern auch über solche handfesten Themen. Von Kollegen erfuhr ich noch am selben Tag, dass er den Wunsch geäußert hatte, ich solle in der SZ doch einmal einen Artikel über Verkehrspolitik schreiben. Das habe ich dann gleich gemacht.«
So unmittelbar hat sich eine zufällige Begegnung vielleicht selten auf das Entstehen eines Textes in der Süddeutschen Zeitung ausgewirkt. Doch auf diskretere, beiläufigere Weise muss es in jeder Ausgabe unzählige Artikel gegeben haben, die sich der Lage mitten in der Stadt verdankten.
Der Standort greift aber nicht nur in ganz praktischer, alltäglicher Hinsicht in das Erscheinungsbild einer Tageszeitung ein. Vom Redaktionssitz der Süddeutschen ging in München auch eine Art symbolische Kraft aus. »Wenn man mitten im Zentrum arbeitet, hat man viel eher das Gefühl, etwas für die Stadt zu tun«, sagt Joachim Kaiser. Und wenn er behauptet, dass »das Verschwinden der größten Zeitung aus der Innenstadt ungefähr so seltsam ist, als würde das Rathaus an die Peripherie ziehen«, dann ist das nicht nur eine polemische Übertreibung. Denn man kann diese beiden Institutionen tatsächlich miteinander vergleichen. Die eine repräsentiert die Stadt im politischen, die andere im journalistischen Sinne: In der Sendlinger Straße 8 lag das »publizistische Rathaus« Münchens. Für einen jungen Autor, der bei der Süddeutschen anfing, war dieser Zusammenhang zwischen Lage und Bedeutung der Zeitung sofort fühlbar.
Axel Hacke, als Journalistenschüler von Braunschweig nach München gekommen, erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch in der SZ-Kantine, im fünften Stock, mit dem Blick auf die zum Greifen nahe Frauenkirche: »Da tat sich plötzlich eine ganze Welt für mich auf!« Man befand sich im doppelten Verständnis im Kern der Großstadt.
Dass sich auch der Süddeutsche Verlag dieser symbolischen Bedeutung immer bewusst war, wird sofort anschaulich, wenn man sich alte Werbekampagnen für die Zeitung ansieht. Die Lage des Redaktionssitzes ist eines der durchgängigen Motive der Außendarstellung.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »In München geboren – in der Welt zu Hause«.)
In der Hauszeitschrift des Verlages, Aviso, die zwischen den Fünfziger- und Achtzigerjahren erschien, sind regelmäßig Eigenanzeigen abgedruckt, die darauf hinweisen, dass die SZ »im Herzen Münchens« produziert werde, »mitten im pulsierenden Leben der Metropole«. Ein Titelbild des Magazins zeigt etwa einen SZ-Straßenverkäufer vor der Frauenkirche, und darunter steht die Zeile: »Frauentürme und Süddeutsche – zwei Wahrzeichen Münchens«. Auf dem jährlichen Oktoberfest-Umzug war der Wagen der SZ eine Zeit lang sogar als Frauenkirche gestaltet, mit dem damaligen Slogan »In München geboren – in der Welt zu Hause« als Plakat zwischen den beiden Türmen.
All diese Bilder der Eigenwerbung formulieren den Anspruch, die Süddeutsche Zeitung, nur einen Steinwurf vom größten Wahrzeichen Münchens entfernt, möge mit ebensolcher Strahlkraft ihre Stadt vertreten. Es scheint sogar (niemand lebt mehr, der es bestätigen könnte), als sei jener Grünton, in dem die Werbekampagnen der Zeitung von Anfang an gehalten waren, dem Grün der Kuppeln auf der Frauenkirche nachempfunden. Und zeigt sich in dieser tiefen Verbundenheit mit dem Herkunftsort nicht auch die wichtigste Abgrenzung zur zweiten großen deutschen Tageszeitung?
Die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine: Ihr Unterschied besteht nicht allein in einer abweichenden politischen Grundtendenz. Die FAZ – bestens vernetzt in der außen-politischen Berichterstattung, eine Autorität in internationalen Wirtschaftsfragen – legt keinen Wert darauf, dass man erkennen könnte, wo sie produziert wird. Es hätte sogar etwas Befremdliches, wenn in der überregionalen Ausgabe dieser Zeitung Spuren lokaler Berichterstattung enthalten wären. Ihr wichtigstes Markenzeichen ist globale Informiertheit – doch aus der Perspektive langjähriger SZ-Leser wirkt das Blatt immer auch etwas blutleer, anonym, wie eine »Bürozeitung« ohne Leben. Dass die FAZ in einem eher tristen Frankfurter Gewerbegebiet gemacht wird, überrascht nicht.
Die Leser der Süddeutschen dagegen schätzen an ihrer Zeitung vor allem wohl das ebenso Verortete wie Weltläufige, ihre Lebensnähe und Lebensfülle, die gleichbedeutend damit ist, dass ihr Ursprung jederzeit erkennbar bleibt. Die Liebe zu München, das Durchdrungensein von dieser Stadt ist der SZ fast auf jeder Seite anzumerken. Die Frage ist, ob sich dieser liebvolle, sorgfältige Blick von einem Hochhaus am Stadtrand aus aufrechterhalten lässt.
Zweifellos folgt der Umzug der Süddeutschen einem internationalen Trend. In London haben in den letzten zwanzig Jahren sämtliche Redaktionen die ehrwürdige Fleet Street Richtung Umland verlassen. In Deutschland fügt sich die SZ in eine Reihe anderer Tageszeitungen ein – Augsburger Allgemeine, Stuttgarter Zeitung, Frankfurter Rundschau –, die ihren Redaktionssitz in der Vergangenheit vom Zentrum an die Peripherie verlegt haben oder ihn bald dorthin verlegen werden. Und es sprechen natürlich auch etliche pragmatische Gründe für diese Maßnahme: die Vereinigung aller Abteilungen unter einem Dach, zeitgemäß ausgestattete Büros, die lang ersehnte Überwindung jenes Raumproblems, das auf dem alten Redaktionsgelände zu immer größeren Improvisationen geführt hatte.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Helmut Schmidt war in der Leitung: Er sei gerade in München, habe in einer Stunde einen Termin und wisse nicht, was er bis dahin machen solle.)
Vielleicht gibt das neue Gebäude der Zeitung sogar einen Ruck. Die altvertrauten Abläufe, die eingespielten Kooperationen und Distanzen zwischen den Abteilungen könnten sich mit der neuen Raumverteilung auflösen; womöglich ergeben sich im Hochhaus neue Arbeitszusammenhänge, die auf dem versprengten alten Gelände niemals zustande gekommen wären. Das ist zumindest die Hoffnung. Ein wenig ernüchternd wirken allerdings die Erinnerungen derer, die von früheren Redaktionsumzügen an den Stadtrand betroffen waren.
»Als die Stuttgarter Zeitung, mit dem besten Feuilleton der deutschsprachigen Presse ausgestattet, in den Sechzigerjahren nach Echterdingen hinausging«, so Joachim Kaiser, »hatte sie schnell nur noch die Ausstrahlung eines Regionalblattes.« Damalige Redakteure des Feuilletons, wie Hellmuth Karasek oder Oliver Storz, bestätigen diesen Eindruck. Die Kommunikation mit der Außenwelt ließ von einem auf den anderen Tag nach: Schriftsteller, die eine Lesung in Stuttgart hatten, kamen nicht mehr wie früher in der Redaktion vorbei; die anregenden Diskussionen bei jenem »fabelhaften Italiener, in dem das Blatt eigentlich gemacht wurde« (Oliver Storz), fanden am Stadtrand keinen entsprechenden Ort mehr.
Auch die Süddeutsche Zeitung profitierte häufig von überraschenden Besuchen – manche davon so spektakulär wie der, an den sich Gernot Sittner, langjähriges Mitglied der SZ-Chefredaktion, erinnert. An einem Vormittag im Jahr 1974, kurz vor dem Rücktritt Willy Brandts, klingelte mitten in der Morgenkonferenz das Telefon. Helmut Schmidt war in der Leitung: Er sei gerade in München, habe in einer Stunde einen Termin und wisse nicht, was er bis dahin machen solle; ob er nicht kurz hinaufkommen dürfe. Und dann setzte er sich einfach in die Konferenz und ließ gegenüber den SZ-Redakteuren seinem Ärger über den Kanzler freien Lauf. Noch heute, trotz Internet und Handy, gehören diese unverhofften Besuche zum Redaktionsalltag: Jürgen Habermas, der ein Manuskript persönlich vorbeibringt, oder Slavoj Zizek, der auf dem Weg von Berlin zurück nach Ljubljana zwei Stunden Aufenthalt in München hat und vom Bahnhof kurz hinüber in die Feuilleton-Redaktion kommt, um in irrwitzigem Tempo Gedanken für eine Handvoll Artikel auszubreiten.
Eine Tageszeitung lebt auch im Zeitalter von Entourage, GMX und Google von solchen Begegnungen und Eindrücken, von einer bestimmten Durchlässigkeit zwischen der Redaktion und der Welt draußen. Das alte SZ-Gebäude war porös genug; die Geräusche und Gerüche der Großstadt drangen vor allem im Sommer, bei geöffneten Fenstern, hinauf in die Büros und einen Tag später ins Blatt: Wie viele Artikel sind allein über jenen Straßenmusiker Send-linger Straße Ecke Rosental geschrieben worden, dessen beschränktes Repertoire die Nerven strapazierte und der von SZ-Redakteuren nach dem siebten Mal Blowin’ In The Wind gern mit Papierfliegern beschossen wurde.
Das Hochhaus in Steinhausen macht mit dieser Durchlässigkeit schon von seiner technischen Beschaffenheit her Schluss. Die Außenfenster der Büros lassen sich aus Sicherheits- und Lüftungsgründen nur einen Spaltbreit öffnen.
Mit der neuen Peripherie der Lage ist also auch eine neue Hermetik des Arbeitsraums verbunden. Es wird sich erweisen, wie stark all diese Veränderungen auf den Charakter der Süddeutschen abfärben, ob den Artikeln die Ortlosigkeit des neuen Redaktionssitzes irgendwann anzumerken ist.
»Die Zeitung«, sagt Axel Hacke, »wird wahrscheinlich nicht schlechter werden, aber man muss aufpassen, dass sie nicht beliebiger wird.« Für ihre Mitarbeiter beginnt nun eine schwierige Eingewöhnungsphase. Nicht einmal die korrekte Aussprache der Redaktionsadresse ist bisher geklärt. Das Hochhaus liegt an der »Hultschiner Straße«, nach einer Kleinstadt in Nordmähren, betont offenbar auf der zweiten Silbe. Es wird einige Zeit dauern, bis dieser neue Straßenname so geläufig von der Zunge geht wie der alte.