Die Stadt ist vergesslich

München und seine Kultur: ein ewiges Drama? Ein Gespräch mit dem Künstler Stephan Huber und dem Musiker Mathias Modica

SZ-Magazin: Herr Huber, Sie haben in den Siebzigern an der Münchner Kunstakademie studiert und sind heute selbst Professor dort. Wie hat sich die Arbeit für Künstler in dieser Stadt seit damals verändert?
Stephan Huber: Damals wurde tatsächlich noch an Visionen gearbeitet. Wenn ich die Studenten heute angucke, sind sie in der pragmatischen Realität angekommen. Die haben das Problem: Wie bezahlen sie ihre Wohnung? Wie kriegen sie einigermaßen vernünftige Jobs? Und wie viel Zeit haben sie überhaupt noch, um Kunst zu machen?

Was ist gleich geblieben?

Huber: Damals wie heute war und ist vieles so weichgespült. Nehmen Sie dagegen das alte Berlin, Kreuzberg, da war fast ein ganzer Stadtteil subkulturell! In München war Subkultur immer nur light. In Berlin gab es Teufel, Kunzelmann und Dutschke – in München Langhans und Uschi Obermaier. Also damals schon eher Lifestyle als Politik.

Mathias Modica: Aber es gab in den Siebzigerjahren immerhin auch so etwas wie den deutschen Film, da spielte doch München eine wichtige Rolle. Ich habe immer wieder internationale Gäste hier, DJs, Musiker – die wollen erst mal alle Fassbinder-Plätze sehen. Wo ist die »Deutsche Eiche«? Wo ist die Sendlinger Straße? Bier und Berge interessieren die gar nicht. Huber: Es gab hier viel Großes. Aber das wird in der Stadt selbst gar nicht genug wahrgenommen. Die Kulturmenschen und Intellektuellen sind hier immer schlecht behandelt worden. Nehmen Sie Hans-Jürgen Syberberg mit seinen wunderbaren Filmen – Michel Foucault und Susan Sontag schrieben darüber Hymnen! In München hört man da bestenfalls so was wie »Na ja, ganz interessant«. Die Stadt geht mit ihrem Erbe und mit ihrer Energie unglaublich schlecht um. Die Stadt ist vergesslich.

Modica: Das gilt aber auch für die Gegenwart. Die Münchner Grafik- und Design-szene zum Beispiel wird gerade weltweit gefeiert – aber kriegt das in München irgendwer mit? Hier denken doch alle, aufregendes Design muss aus Berlin-Mitte kommen.

Woran liegt das? Hat sich München zu sehr an das ewige Klischee von der gemütlichen, leicht hinterherhängenden Stadt gewöhnt?

Modica: Dieses Klischee wurde ja lange vor allem von Leuten verbreitet, die gar nicht hier wohnen – oder selten rauskommen. Aber in den letzten Jahren hat sich das mit dem Hinterherhängen in einigen Bereichen geändert. Mit Festivals wie der Musiktheater-Biennale und der A*Devantgarde und Komponisten wie Jörg Widmann ist das Münchner Musikszenario das vielleicht interessanteste Deutschlands. Und die elektronische Musikszene zwischen Notwist, Funkstörung und DJ Hell wird schon seit den späten Neunzigern international gefeiert. Man kann diesen neuen Vibe auch gut an der Veränderung des Nachtlebens beobachten. Seit ein paar Jahren explodiert die alternative Bar- und Clubkultur. Nach 20 Jahren »P1«-Verschleimung hat München inzwischen, neben Berlin, die vielseitigste Clubszene des Landes. Das generelle Problem ist nur: Die Münchner schimpfen trotzdem. Sie haben die Vorurteile der anderen einfach übernommen und zelebrieren sie weiter – während im Ausland München längst wieder als innovativ und modern wahrgenommen wird.

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Huber: Der Witz ist, dass München im Ausland plötzlich gehyped wird. Die New York Times oder Libération schreiben, München sei superhip, die Stadt mit der hohen Lebensqualität. Dieser Malus, der München immer vorgeworfen wird – hier seien alle nur hedonistisch und an nichts interessiert außer am Jetzt –, ist auf einmal westlicher Standard. Und plötzlich ist aus dem ewigen Münchenmalus ein Bonus geworden.

Dann hat die Stadt ja alles richtig gemacht, oder?

Huber: Na, da geht es eigentlich um die falschen Aspekte. Nicht um Kultur, sondern eben um Hedonismus.

Herr Huber, Sie organisieren zurzeit eine Reihe von Konzerten und Vorträgen rund um den 200. Geburtstag der Kunstakademie. Mehrere Podiumsdiskussionen befassen sich da mit Schlagworten wie »Oase der Beschaulichkeit« oder »Gemütlichkeitsmaschine München«. Ist die Gemütlichkeit das Grundproblem der Stadt?
Huber: Es gibt diesen typischen Münchner Satz, den auch Helmut Dietl im Monaco Franze verwendet hat: »A bisserl was geht immer.« Das ist zwar irgendwie sympathisch – aber da steckt natürlich auch die völlige Wurschtigkeit drin.

Im Sinne von: A bisserl was langt dann halt auch?
Huber: Genau.

Modica: Aber liegt das nicht vor allem an dieser extrem großen Mittelschicht, die die Stadt ausmacht? Gibt es überhaupt eine Stadt in Deutschland, die mehr Bürger-tum hat als München? Hier existiert so eine Riesenmasse von A-bisserl-was-geht-immer-Leuten, die, weil alles so wunderbar funktioniert, keinen Ansporn mehr haben, eine Subkultur zu bewegen, sich abseits des Mainstreams zu bewegen oder sich für mehr als das zu interessieren, was sie eh schon haben. Das Problem der besseren Arzttochter aus Germering, die dann vielleicht sogar mal schön ein bisschen Kunst studiert. Oder am Konservatorium ihr Klavierspiel perfektioniert. Aber mehr eben auch nicht.

Huber: Die kulturelle Verflachung dieser Stadt können Sie gut ablesen an der Geschichte des alten »Café Roma« an der Maximilianstraße. Das war so ein Relikt aus den Fünfzigerjahren, wenn große Leute nach München kamen, ob George Tabori, Joseph Beuys oder David Bowie, jeder war irgendwann mal im »Roma«. Dann wurde das verkauft, rein kam die globalisierte Designscheiße des Iris-Berben-Café-Imperiums, in diesem neuen »Roma« verkehrten nur noch die sogenannten Prominenten und irgendwelche gelifteten Illustriertenschönheiten. Und nicht mal das konnte sich halten. Das ist jetzt ein Gucci-Laden! Die ganze Umwandlung der Maximilianstraße, in der früher mit die wichtigsten Galerien Deutschlands waren, in ein Oberschichtshopping-paradies ist eine traurige Metapher für die Stadt. Und was sagt der Münchner dazu? »Ja mei, mit Schwund musst rechnen!«

Modica: Aber dagegen steht diese neue alternative Musik- und Clubszene. Weit weg von jeder Iris-Berbenisierung, die ja gerade mehr in Berlin-Mitte stattfindet. Ist eh sehr lustig, dass Helmut Dietl den Schickimickismus jetzt dort abfilmt. Seitdem die Sperrstunde gefallen ist, bildet man sich manchmal ein, es herrsche ein neuer Geist in der Stadt. Konkretes Beispiel: Ich veranstalte mit Freunden Happenings in leer stehenden Läden. Das erste Mal gab es noch Probleme mit den Nachbarn. Das letzte Mal, vor vier Monaten, schon nicht mehr. Es war saulaut, es ging fünf Abende lang bis um sechs Uhr morgens – aber es kam nur einmal die Polizei! Die kamen kurz rein, haben eine Runde gedreht und sind wieder rausmarschiert. Ich habe das Gefühl, da herrscht eine neue Toleranz.

Huber: Klingt gut. Aber doch mal eine grundsätzliche Frage. Dieses ewige entspannte Feiern – ich frage jetzt mal spielverderberisch: Ist das nicht nur hedonistisches Halligalli? Früher gehörten zu einer lebendigen Kulturstadt doch auch Spitzen, Ausbrüche, die ärgern, die stören!

Können Sie Beispiele nennen?
Huber: Nehmen Sie Günter Saree. Ein Konzeptkünstler, der poetische und subversive Arbeiten gemacht hat – alle hier in München, zwischen 1968 und 1972. Der wollte die Olympischen Spiele eröffnen mit einer verstörenden Aktion… Als Vorbemerkung muss man sagen, dass er Hodenkrebs hatte und ihm ein Hoden abgenommen wurde – den hatte er immer in einem Gläschen Formalin bei sich. Und bei jedem Gespräch hat er den auf den Tisch gestellt.

Modica: Oha…

Huber: Nun ja, es war eine härtere Zeit als heute. Und er hat dem Olympia-Chef Willi Daume vorgeschlagen, dass alle Polizei-orchester Bayerns eine Hymne aufnehmen, die dann durch den größtmöglichen Lautsprecher in der Mitte des Olympiastadions gespielt wird. Dann wäre er gekommen und hätte in der Mitte des neuen Stadions seinen Hoden 1,6 Meter in die Höhe geworfen, und damit wären die Olympischen Spiele eröffnet gewesen.

Ja, das wäre eine ungewöhnliche Party geworden. Aber was sollte es bedeuten?
Huber: Da wird doch bedrückend viel thematisiert, die körperlichen Höchstleistungen der Spiele kollidieren mit Krankheit und möglichem Tod. Daume schrieb sogar zurück, er finde das Konzept bedenkenswert, aber… Es wurde nichts draus, und Saree fand überhaupt viel zu wenig Resonanz. Nur einer von vielen Künstlern, die in ihrer Radikalität nicht richtig nach München passen – und deshalb einfach ignoriert werden.

Und woran liegt’s?
Huber: Die Stadt wird kaum über ihre eigentliche Kultur wahrgenommen, immer nur touristisch. Sogar die Münchner selbst haben eine rein touristische Sicht auf ihre Stadt. Schöne Häuser, schöne Menschen, schönes Grün, schöne Berge, schönes Bier und fertig.

Geben Sie der Stadt ein paar Ratschläge: Was müsste man tun?
Huber:
Schwierig. Diese Stadt ist wie eine riesige Amöbe, die alles sofort aufsaugt, sofort zum netten, ungefährlichen Mainstream macht. Sperrige Highlights wie zum Beispiel die Gruppe Spur oder die Achternbusch-Filme werden mit zu wenig Stolz gesehen.

Welchen Einfluss hat die Stadt München auf Ihr Schaffen?

Modica: Das Schöne ist, man kann hier relativ unaufgeregt arbeiten und hat nie das Gefühl, man müsste dringend Teil von etwas sein, man kann völlig autonom an seinen Sachen feilen. Das scheint mir in großen Städten das Risiko zu sein, dort gibt es immer irgendeinen Zwang, einen Druck, mitzumachen, Teil einer Szene zu sein. Hier kann ich machen, was ich will.

Inwiefern bremst die Stadt München ihre Kreativen?
Huber:
Da gibt es natürlich die gewaltigen ökonomischen Probleme. Viele Künstler gehen nach Berlin, nicht weil die jetzt so auf die Stadt stehen, sondern weil sie sich dort einfach die Ateliers leisten können. Das Problem an München ist, dass die ganze Innenstadt kulturell ausblutet, weil nichts mehr bezahlbar ist.

Modica: Und dann gibt es eben – egal, was man macht – immer diese Gegenblase von gesättigten Bürgerkindern, die weder den Anspruch haben noch das Interesse, aus dem bequemen Status quo auszubrechen. Davon kann man sich sehr leicht erwischen lassen und wird dann quasi mit runtergezogen. Andererseits kann genau das der Ansporn sein. Mein Partner Jonas Imbery und ich haben unser Label gegründet, weil wir das Gefühl hatten, wir brauchen jetzt was Neues, Frisches. Das war eine Reaktion auf diese ewige Münchner Achtzigerjahre-Gefälligkeit.

Ist das typisch münchnerisch? Erst granteln, alles fad finden, und dann stur das eigene Ding durchziehen. Wenn schon nicht eine Räterepublik, dann wenigstens ein Plattenlabel.
Modica: Ja, vielleicht würde der Stadtpsychologe das als typische Münchner Querköpfigkeit diagnostizieren.Huber: Es gibt hier immer beides: Querköpfigkeit – und Biederkeit. Die Stadt lebt von diesen Brüchen.

Welche Impulse bräuchte München?

Huber: Bezahlbaren Wohnraum. Viele Ateliers. Studios für Musiker. Und jenseits des Materiellen: weniger Selbstzweifel. Weniger Angst. Mehr Energie nach außen. Einfach ein stärkeres Selbstbewusstsein.

Also – was tun?
Huber: Eigentlich müsste man die Stadt in Therapie schicken: Aufbaukurs kulturelles Selbstbewusstsein. Dann käme auch die Widerständigkeit wieder stärker zur Geltung.

Modica: Die Stadt soll mal ein bisschen aufwachen. Auch die Stadtverwaltung. Nicht weil wir Subventionen brauchen, sondern weil die Stadt einfach mehr aus sich machen könnte. So wie das Barcelona oder Kopenhagen sehr schlau gemacht haben. Der Münchner selber soll gar nicht unbedingt aufwachen, um zu begreifen, was für ein tolles kreatives Potenzial er um sich rum hat. Aber er soll auch nicht nur – wohlgebräunt bei der vierten Maß im Englischen Garten sitzend – schimpfen, dass nix los ist, während er im Kunstverein die gefeierte Ausstellung, im »Cafe King« die Performance der Zombo Combo, im »Atomic Café« das einzige Deutschland-Konzert einer neuen schottischen Art School Band und im »Soda« die Präsentation eines neuen Münchner Fanzines verpasst.

• »Föhn Form Ferstand«, die Veranstaltungsreihe zum 200.Geburtstag der Kunstakademie, läuft noch bis zum 20. Juni, das Programm gibt’s unter www.200-jahre-kunstakademie-muenchen.de.
• »Cloudbuster«, das neue Album von Mathias Modicas Projekt Munk, ist vor wenigen Tagen erschienen.

(Interview); Illustration: Dirk Schmidt