»Ein Pausenknopf für das Leben«

Der britische Komponist Max Richter steht vor einer besonderen Uraufführung: Sein neuestes Werk »Sleep« dauert acht Stunden, im Zuschauerraum stehen 500 Feldbetten. Denn es ist zum Einschlafen.


SZ-Magazin: Herr Richter, die meisten Komponisten werden sauer, wenn man über ihre Musik sagt, sie sei zum Einschlafen. Sie wollen genau das.

Max Richter: Ich finde es auch bei anderen Stücken nicht schlimm, wenn jemand einschläft.  Hautsache, man reagiert auf das Stück. Hunderte Jahre lang sind Menschen in Opernhäusern eingeschlafen. Ist ja gemütlich, warm und dunkel, warum nicht? Mein Stück ist natürlich anders, denn es ist nicht zum bewussten Hören gedacht, sondern zielt auf das Bewusstsein als Ganzes ab.

Sie nennen das Stück »ein Manifest für eine langsamere Gangart des Lebens.« Was soll das sein?
»Sleep« ist eine Provokation, sich für einen längeren Zeitraum mit einem einzigen Objekt zu beschäftigen. Wir haben heute eine Vorliebe für Massen. Massen von Daten, Massen von Veranstaltungen, Massen von Stimulationen. Unser Umgang mit Ideen und Konzepten ist häufig eindimensional.

Und dem soll »Sleep« entgegen wirken?
Ich wollte ein Stück machen, dem man Zeit geben muss. Das ist außergewöhnlich – weil wir keine Zeit haben oder das zumindest glauben. Mein Projekt fordert aber viel davon. Es soll zum Einschlafen gehört werden, über Nacht. Für mich ist das Projekt ein großer Pause-Knopf für das tägliche Leben.

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Das Stück wird im Berliner »Kraftwerk« uraufgeführt, Ihre Zuhörer liegen auf 500 Feldbetten. Worauf werden Sie sich mehr konzentrieren: auf die Musik oder darauf, das Publikum zu beobachten?
Die Veranstaltung an sich ist eine Art Versuchslabor. Ich will sehen, wie das Publikum auf das Stück reagiert und was sie davon mitnehmen. So viel Unterschied zu einem normalen Konzert gibt es nicht. Gut, wir haben viel Platz und 500 Betten, die Leute werden sich schlafen legen und dann beginnen wir mit dem Stück. Das Stück ist logischerweise sehr leise, weil wir ja wollen, dass die Leute schlafen. Ob das Publikum das tatsächlich tut oder versuchen wird, wach zu bleiben, wird interessant zu beobachten sein. Wenn jemand die ganze Zeit wach bleiben will, übt er ja nur seine Menschenrechte aus. Das ist ok. Auch wenn die Absicht natürlich ist, dass geschlafen wird.

Wie sind Sie auf die Idee zu »Sleep« gekommen?
Ich habe Glück, da ich sehr gut schlafen kann. Aber ich bin mir bewusst, dass das viele andere nicht schaffen. Sie grübeln, sie kommen nicht zur Ruhe. Und darum wollte ich eine musikalische Landschaft erschaffen, der man nicht direkt zuhört, aber die man einnehmen kann, in der man sich zu Hause fühlt. Diese Umgebung soll den Prozess des Schlafens unterstützen.

Hatten Sie eine bestimmte Inspiration?
Bachs »Goldberg-Variationen«. Die Schöpfungsgeschichte dieses Werks ist, dass ein Fürst nicht schlafen konnte und darum ein längeres Stück bestellte, das quasi langweilig ist und ihm zum Schlafen bringen sollte. Das ist eine gute Geschichte, wir wissen nicht, ob sie wahr ist. Aber das Prinzip der »Goldberg-Variationen« gefällt mir. Ich arbeite sehr häufig damit, in »Sleep« variiere ich auch traditionelle, auf Noten basierende Musik und elektronische Ambient-Klänge.

Um den Prozess des Schlafens besser zu verstehen, haben Sie sich auch mit dem Neurowissenschaftler David Eagleman über das Thema ausgetauscht. Was haben Sie gelernt?
Schlaf ist kein aktiver Prozess; es ist nicht so, dass unser Gehirn einfach ausgeschaltet wird. Man sagt ja häufig, dass man über eine Entscheidung schlafen muss, weil man die Dinge am nächsten Tag besser beurteilen kann. Das liegt an der Tiefschlafphase, die ungefähr alle 90 Minuten einsetzt. In dieser Phase setzten wir Information zusammen, die wir den Tag über aufgenommen haben, und bauen Strukturen. Zum anderen kann man auch ästhetische Entscheidungen im Schlaf treffen, zum Beispiel, ob man etwas mag oder nicht mag. Auch musikalisch. Manche Töne stören den Schlaf, manche nicht. Dabei geht es nicht nur um Lautstärke, sondern auch um den Charakter. Geschmack hat man auch, wenn man schläft.

Haben Sie das musikalisch umgesetzt?

Nicht direkt. Ich habe verschiedene Frequenzbereiche genutzt, zum Beispiel sehr viele tiefe Bassklänge. Die sollen die Tiefschlafphase fördern. Es ist aber mehr das Ziel, eine gemütliche Landschaft zu schaffen, um den Schlaf zu unterstützen. Natürlich ist das Stück insgesamt sehr ruhig. Es spielen Klavier, Streicher, Elektronik und Gesangsstimme, aber ohne Text.

Was fasziniert Sie am Schlaf?
Es ist eins der interessantesten Dinge, die wir tun. Wir verbringen ungefähr ein Drittel unseres Lebens in diesem Zustand. Und es ist komisch, dass wir uns nicht häufiger damit beschäftigen. Ich habe immer den Eindruck, dass dort alle wichtigen Dinge stattfinden. Vielleicht bilde ich mir das ein. Aber ich glaube, dass auch die Neurowissenschaft die wissenschaftliche Basis für diese Vermutung sucht. Für mich gehören Musik und Schlaf natürlich zusammen. Musik ist ja eigentlich eine Art Tagtraum. Sie besteht aus Geschichten und man hat den Eindruck, dass man irgendetwas verfolgt, vielleicht eine Landschaft, ein Ort, oder eine Zusammensetzung von Gefühlen und Ideen.

Sie haben mal gesagt, das Umfeld präge das eigene Schaffen. Inwiefern hat sie Berlin zu »Sleep« animiert? Widerspricht ein achtstündiges Wiegenlied nicht komplett dem Stadtgefühl?
Ich weiß nicht, ob es eine direkte Verbindung gibt. Berlin hat ein sehr lebendiges Nachtleben. Jemand hat mir das Stück neulich als anti-rave beschrieben. Es gibt kein treibendes Schlagzeug. Es ist das Gegenteil, ein Stück Antimaterie zur nächtlichen Techno-Show. Also ja, dieser Gegensatz ist auch eine Verbindung zu Berlin, zu dieser Art von Nachtleben und elektronischer Musik.

Als Teenager waren Sie großer Punk-Fan. Hat diese Phase heute noch Einfluss auf Ihr Schaffen?
Die Ästhetik von Punk ist Teil der Musik. Es geht um den Impuls, aus vorgefertigten Konzepten auszubrechen, gegen Regeln zu verstoßen und neue Dinge zu versuchen. Diesen Entdeckergeist hatte schon Beethoven. Es ist also nicht auf The Clash und anderen Bands begrenzt. Der Impuls steckt in vielen Musikrichtungen und er bringt sie auch weiter.

Wie ist aus dem Punk-Teenager der Komponist geworden?
Ich habe eine klassische Musikausbildung genossen, war an der Universität und am Konservatorium, Abschlüsse und das ganze Zeug. Aber ich bin schon Komponist gewesen, bevor ich wusste, was das eigentlich ist. Schon als kleines Kind hatte ich immer Melodien im Kopf. Ich habe mich mental durch diese Melodien gearbeitet, sie zusammengesetzt, verändert und erweitert. Erst später wurde mir bewusst, dass man Musik auch aufschreiben kann. Dann bin ich einfach meinem Enthusiasmus gefolgt. Als Teenager hatte ich dann großes Glück: Ich spielte Klavier, und der Milchmann hörte mich spielen. Zu dieser Zeit war Milchmann einer dieser Jobs, die man machen konnte, wenn man eigentlich Künstler war.

Welche Musik brachte dieser Milchmann Ihnen näher?
Er war fasziniert von der experimentellen Musik, die aus dem New York der 70er-Jahre kam, die frühen Sachen von Philip Glass zum Beispiel. Mit der Milch brachte er mir immer Vinyl-Alben mit. So lernte ich diese experimentelle Avantgarde-Musik kennen, mit der ich sonst nie in Berührung gekommen wäre.

Sie komponieren bis zu 18 Stunden am Tag. Sind Sie gefangen in dieser Welt?
Ziemlich, ja. Es ist eine Besessenheit. Aber eine Besessenheit, die ich gerne habe.

Foto: Mike Terry