"Ich wollte mich noch ein paar Jahre durchs Leben mogeln"

Aber dann kam der Krebs. Seitdem ist vieles anders bei Ralph Siegel. Ein Gespräch über Musik und den Tod.



SZ-Magazin: Herr Siegel, vor ein paar Monaten sind Sie mit der Nachricht, dass Sie Prostatakrebs haben, an die Öffentlichkeit gegangen. Wie geht es Ihnen?
Ralph Siegel:
Im Moment ganz gut. Ich fühle mich zwar ziemlich schwach, aber kein Vergleich zu der Zeit nach der Operation im Sommer 2008. Damals ging es mir sehr schlecht.

Hatten Sie Schmerzen?
Nein, bis auf die Wochen nach der Operation hat man bei Krebs keine Schmerzen. Erst im Endstadium. Nein, das Schlimme waren die Schläuche, an denen ich hing. Ich musste Windeln tragen und bewegte mich wochenlang wie in Zeitlupe. Niemand außer Ihrer Frau wusste von dem Eingriff.
Ja, nicht mal meine drei Töchter. Ich hatte ihn als Bandscheiben-OP getarnt. Aber jetzt konnte ich meine Krankheit nicht mehr länger geheim halten.

Warum?
Weil im Herbst 2009 auf einmal mein PSA-Wert wieder zu steigen anfing, also die Konzentration des sogenannten prostataspezifischen Antigens. Ich musste über Wochen täglich ins Klinikum rechts der Isar zur Bestrahlung. Die Leute dort fingen an, mir Fragen zu stellen. »Herr Siegel, was machen Sie denn schon wieder hier?« Am Anfang versuchte ich noch mich rauszureden und sagte, ich würde einen guten Freund besuchen, aber irgendwann glaubt einem das keiner mehr. Also gab ich der Bild ein Interview. Am Tag danach lauerte schon ein Paparazzo vor dem Hintereingang der Klinik.

Helfen die Bestrahlungen?

Bisher wurde ich 32 Mal bestrahlt, das ist sehr viel, dafür war die Dosis etwas niedriger. Das Ergebnis liegt aber erst in ein paar Wochen vor.

Und wenn es gut ist?

Freue ich mich, aber die Angst ist nie weg. Ich muss weiter ständig meinen PSA-Wert prüfen lassen, mal steigt er, dann raufe ich mir die Haare, dann fällt er wieder. Ich bin nicht naiv, ganz vorbei ist so eine Sache nie. Ich sitze auf einem Pulverfass. Wenn du einmal Krebs hast, hast du Krebs, wenn du Pech hast, bis du tot bist. Aber man kann auch alt damit werden, und das wünsche ich mir.

Müssen Sie viele Medikamente nehmen?

Mein Blutdruck ist zu hoch. Jetzt ist wieder eine Tablette mehr auf dem Tisch. Insgesamt nehme ich zwei verschiedene Blutdruckmittel, außerdem täglich was für den Magen und gegen meine Knochenschmerzen auch noch zwei Voltaren.

Was war schlimmer, die Angst vor oder die Zeit nach der Operation?

Die Wochen, bevor der OP-Termin feststand. Ich saß nächtelang am Computer, googelte »Prostatakrebs« und las mich in das Thema ein. Ich bin fast verrückt geworden, so viele Fragen gingen mir durch den Kopf. Wann soll der Eingriff gemacht werden? Welcher Arzt ist der richtige? Welche Methode? Ich wollte ja meine Potenz erhalten. Ich war fix und fertig.

Haben Sie Ihr Leben Revue passieren lassen?

So weit ging es nicht. Ich bin kein theatralischer Mensch.

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Denkt man als Musiker darüber nach, welches Lied auf der eigenen Beerdigung gespielt werden soll?
Sie werden lachen – ich habe tatsächlich über solchen Quatsch nachgedacht. Am Ende war es mir doch zu makaber. Ich habe eine Frau mit viel Stil und Würde, sie weiß, was zu tun ist, wenn es so weit ist.

Gab es einen Moment, in dem Sie ganz konkret Angst vor dem Tod hatten?
Ja, ganz am Anfang, als der Arzt zu mir sagte: »Herr Siegel, Sie sind sieben Jahre zu spät gekommen. Wenn Sie sich nicht operieren lassen, haben Sie noch sechs bis neun Monate.« Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Eigentlich hatte ich mich noch ein paar Jahre so durchmogeln wollen.

Irgendwas gelernt durch die Krankheit?

Es ist doch immer das Gleiche. Wer meldet sich, wer meldet sich nicht? Zum Beispiel bekam ich nach meinem Bild-Interview stapelweise Briefe von Leuten, die ich kaum kenne, dafür haben sich andere gar nicht gemeldet, und zwar auch solche, von denen ich es eigentlich erwartet oder mir gewünscht hätte. Es gibt schon ein paar, da denke ich mir: Mensch, du hättest wenigstens eine SMS schicken können. Aber was soll’s, richtig böse bin ich niemandem.

(Was Ralph Siegel über Lena Meyer-Landrut denkt und was ihn an ihrer Teilnahme beim Euroviosion Song Contest ärgert, lesen Sie auf der nächsten Seite.)

Hören oder machen Sie lieber Musik, wenn Sie niedergeschlagen sind?
Wenn ich richtig down bin, sind meine Hände so schwach, dass ich nicht mal die Tasten am Klavier drücken kann.

Aber vielleicht die Play-Taste des CD-Spielers?

Das schon, aber im Moment bin ich körperlich so ausgelaugt wie nie zuvor. Das muss von den Bestrahlungen kommen.

Kann Musik in solchen Extremsituationen Trost spenden?
Ich gehe nicht stündlich zum CD-Spieler und lege ein fröhliches Lied auf, nur weil ich Krebs habe. Aber wissen Sie, was mir Kraft gibt? Dass ich wieder ein paar Titel beim Grand Prix eingereicht habe. Ich habe sieben Titel komponiert und produziert, auch ein paar für Deutschland, jeder kostet im Schnitt für Künstler, Hotels und Reisen 8000 Euro, das ist total unsinnig, aber ich kann nicht anders, und es macht mir Spaß. Ich weiß, ein paar Leute nehmen mir das übel, manche machen sich lustig über mich, aber ich verstehe nicht, warum. Musik ist mein Leben. Franz Beckenbauer ist doch auch noch im Fußballgeschäft.

Aber der steht nicht auf dem Platz.
Und ich nicht auf der Bühne. Aber ich möchte da gern noch mitmischen. Sonst werden wieder nur Amateure geholt, die nicht wissen, wie es geht.

Was heißt hier Amateure? Lena Meyer-Landrut hat mit Satellite beste Chancen.
Warten Sie mal ab. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich ein paar Wochen lang bei einer ProSieben-Sendung gewinne, wo ein paar tausend Facebook-Kids anrufen, oder ob ich auf einer internationalen Bühne beim Grand Prix stehe. Der Grand Prix ist die Weltmeisterschaft der Musik, das ist eine ganz andere Nummer.

Stefan Raab hat es immerhin geschafft, Begeisterung für den etwas betulichen Wettbewerb zu wecken.
Das stimmt, seine Sendung Unser Star für Oslo war gut gemacht, aber sie hatte einen großen Fehler.

Welchen?
Die Macher haben vorher die Parole ausgegeben: Was international passiert, interessiert uns nicht. Das haben die wörtlich gesagt! Die wollten Erfolg mit der Sendung und anschließend möglichst viele CDs verkaufen. Der Grand Prix ist denen komplett egal. Was ist denn das für eine Einstellung? Zu so einer Veranstaltung fahre ich doch nicht, um Zehnter zu werden. Jogi Löw fährt doch auch nicht nur nach Südafrika, um in der Vorrunde unterzugehen.

So eine Parole könnte auch Understatement sein.

Glaube ich nicht. Die wissen einfach nicht, worum es geht. Die Plattenindustrie sagt doch seit dreißig Jahren: Der Grand Prix ist uns egal. Man will mit Lena Meyer-Landrut CDs verkaufen, ProSieben will gute Quoten und einen Star, der sich wochenlang vermarkten lässt. Es geht nur ums Geld. Oder warum hat Stefan Raab, der immerhin Jurypräsident war, auch noch zusammen mit der Siegerin ein Lied für sie geschrieben? In dieser Logik wird der Grand Prix nicht ernst genommen. Dagegen habe ich immer angestunken. Ich will nicht nur Platten verkaufen, ich will gewinnen, weil es eine Ehre ist.

In der FAZ stand vor ein paar Jahren, Stefan Raab habe für den Grand Prix mehr geleistet als Ralph Siegel.

Es gibt Journalisten, die schreiben seit Jahren schlecht über ich.

Trotzdem muss es wehtun.
Ach was, einer von denen scheint sogar einen richtigen Siegel-Komplex zu haben. Ich habe überhaupt nichts gegen Stefan Raab. Im Gegenteil, Raab tut auf seine Weise viel Gutes, für sich, aber auch für die Musik. Andererseits muss man auch sagen: Dafür, dass er seit zehn Jahren vier Sendungen pro Woche hat, ist nicht viel rausgekommen: Ein bisschen Maschen-Draht-Zaun, ein bisschen Guildo Horn, ein bisschen Stefanie Heinzmann. Raab ist ein toller Entertainer, aber beim Grand Prix ist er eben nur Fünfter, Achter und Zwölfter geworden.

Sie sind doch gekränkt.

Ach was, Herr Raab ist ein hochbegabter Mann, aber ich finde es unprofessionell, in einer Jury zu sitzen und mit der geplanten Siegerin ein Lied zu schreiben. Den anderen Song hat er auch noch von seinem Freund Max Mutzke schreiben lassen. Das ist nicht fair. So was gehört sich nicht im Sinne der Chancengleichheit.

Das Lied wurde dann nicht einmal gewählt.

Stimmt. Jetzt geht ein Beitrag von einem Amerikaner und einer Dänin für uns an den Start – wieder kein Lied von einem deutschen Autor, das ist doch ein Witz bei 40 000 deutschen Komponisten. Ralph Siegel und Bernd Meinunger werden also die einzigen deutschen Grand-Prix-Sieger bleiben.

( "Ein White Christmas habe ich nie geschrieben", gibt Ralph Siegel zu. Warum er sich dennoch für zeitlos hält, erfahren Sie auf der nächsten Seite.)

Uns erstaunt, wie ernst Sie den Grand Prix noch nehmen. Viele sehen diesen Wettbewerb nur noch durch die ironische Brille.
Ich verstehe Sie nicht. Das ist meine Arbeit. Sie nehmen Ihre Arbeit doch auch ernst. Außerdem, das Publikum muss den Grand Prix ja nicht ernst nehmen, aber ich muss es. Wenn ich Deutschland trainieren soll, ist es nicht meine Aufgabe, spaßig zu sein, sondern das Beste für mein Land zu geben.

Und warum tun Sie sich den Ärger noch an?

Weil es meine Leidenschaft ist. Wenn es mir ums Geld ginge, hätte ich mit vierzig aufhören müssen, ich habe seit zehn Jahren kein Geld mehr verdient. Auf ARD und ZDF läuft fast nur noch Volksmusik, die ZDF-Hitparade gibt es nicht mehr, MTV spielt fast nur internationale Sachen, uns fehlt die Plattform für moderne Schlager und schöne Melodien.

Aber Herr Siegel, das Internet ist die größte Plattform, die es je gab. Vielleicht ist Ihr Fehler, dass Sie das Geschäft wie vor zwanzig Jahren betreiben.
Ich sehe schon die Möglichkeiten des Netzes, aber es hat ein großer Kulturbruch stattgefunden. Das Musikgeschäft ist international, Videos sind viel wichtiger geworden, die Kids laden sich den ganzen Tag Klingeltöne runter.

Jetzt wissen wir immer noch nicht, wie Sie Lena Meyer-Landrut finden.

Ach, wissen Sie, das Lied ist nett, das Mädchen süß, leider trifft sie selten den Ton. Dem Dilettantismus sind keine Grenzen mehr gesetzt. Kann schon sein, dass viele Kids aus Deutschland den Song lieben und runterladen, aber in Oslo laufen 24 Künstler auf, und zwar die besten des Landes. Jeder hat drei Minuten. Da hilft kein nationaler Hype, da zählt nur das Lied. Und das muss beim ersten Mal überzeugen, eine zweite Chance gibt es nicht.

Der deutsche Beitrag wird also wieder mal in der hinteren Hälfte des Feldes landen?

Vielleicht wählen ein paar Leute dieses süße Mädchen, das da auf der Bühne rumspringt. Ich würde es ihr wünschen, aber bei der Eurovision muss man etwas machen, was exorbitant gut ist. Das Lied muss ans Herz gehen, an die Seele. Es muss dich treffen und du musst sagen: Ach, dieses Lied kommt aus Deutschland? Scheißegal, ich wähle es trotzdem! Ich wünsche Lena trotzdem viel Glück.

Herr Siegel, kann es sein, dass Sie manchmal das Gefühl haben, Ihre musikalische Leistung als Schlagerkomponist wird zu wenig gewürdigt?
Ich bin ich kein Schlagerkomponist.

Sondern?
Komponist und Songwriter. Ich mag diese Schubladen nicht besonders. Und was Ihre Frage angeht: Ich habe 2000 Lieder komponiert und über hundert bekannte Schlager. Die Leute freuen sich, wenn sie mich sehen, und manchmal werden auch meine Lieder noch gespielt, Moskau ist ein Welthit, Dschinghis Khan wurde erst vor Kurzem zum schönsten Eurovisions-Lied aller Zeiten gewählt. Darüber habe ich mich riesig gefreut.

Trotzdem waren Sie in den letzten Jahren mehr wegen Beziehungsgeschichten und Krankheit in den Schlagzeilen als mit großen Hits.
Let’s face it – ich hatte mal 87 Angestellte und war vierzig Jahre lang jeden Tag im Büro und in drei verschiedenen Studios. Damals habe ich 16 bis 18 Stunden am Tag gearbeitet, heute sitze ich allein mit einem Tonmeister im Studio. Klar leide ich darunter. Dazu kommt, dass mein Musical Clowntown immer noch nicht auf der Bühne zu sehen ist …

… an dem Sie seit 25 Jahren arbeiten. Warum geben Sie das Projekt nicht endlich auf, immerhin gab es schon elf verschiedene Versionen?
Weil ich glaube, dass es das Beste ist, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich will dieses Stück auf dem Broadway sehen. Dafür kämpfe ich. Der letzte deutsche Komponist, der auf dem Broadway aufgeführt wurde, war Kurt Weill, ich glaube, 1938 mit Mahagonny.

Wollen Sie es damit Ihren Kritikern noch mal zeigen?
Das sicher auch. Es gibt so viele Leute, die sich nie mit mir beschäftigt haben. Die schauen auf mein Leben und stecken mich in eine Schublade, nach dem Motto: Was hat er gehabt? Schöne Weiber, schöne Häuser, ein schönes Leben! Diese Betrachtung ist bodenlos unfair.

Vielleicht sind Sie auch zu eitel, um loslassen zu können?
Wenn ich aufhöre zu arbeiten, falle ich tot um. Ohne meine Arbeit hätte ich die letzten drei Jahre nicht überstanden. Nein, ich ergebe mich nicht in mein Schicksal.

Welcher Siegel-Song wird auch in fünfzig Jahren noch am Lagerfeuer gesungen?
Moskau wird ewig bleiben. Ein bisschen Frieden auch. Aber ich gebe zu: Ein White Christmas habe ich noch nicht geschrieben. Das werde ich nie schaffen.