Ein Klaviergeschäft im Kölner Viertel Neustadt-Süd. Hier lässt Chilly Gonzales seine Klaviere stimmen, er selbst wohnt um die Ecke. Nach Jahren in Berlin und zuletzt Paris, nun also Köln. Der Liebe wegen. Der erste Eindruck: Er wirkt noch größer und wuchtiger als auf der Bühne. Auch seine Hände: keine zartgliedrigen Klavierfinger, sondern behaarte, kräftige Männerhände. Gleich zweimal tourte er in den vergangenen zwölf Monaten durch Deutschlands ehrwürdigste Konzertsäle, als Pianist, Rapper, Rampensau - begleitet von einem kleinen Kammerorchester. Hipster saßen neben Fliegeträgern. Alle Shows waren ausverkauft - und endeten im Triumph: stehende Ovationen, rhythmisches Füßetrommeln, das ganze Programm. Chilly Gonzales hat eine Replik des original Glenn-Gould-Stuhls mitgebracht. Fürs Interview allerdings fläzt er sich auf ein Sofa.
SZ-Magazin: Herr Gonzales, wie wichtig ist der Klavierstuhl für einen Pianisten?
Chilly Gonzales: Sehr wichtig! Ein Klavier kann Macken haben, so lange es nicht totaler Schrott ist, wirst du einen Weg finden, darauf zu spielen. Keith Jarrett hätte sein berühmtes Köln-Konzert fast nicht angetreten, weil auf der Bühne ein Klavier stand, das er hasste. Er ließ sich ein neues bringen, dann wieder das erste. Er wollte hinschmeißen. Schließlich spielte er doch noch und gab eines der umwerfendsten Konzerte der Musikgeschichte. Eben weil er gegen das Klavier ankämpfen musste, sagte er hinterher. Gegen einen falschen Stuhl hingegen, könnte ich nicht anspielen. Ich kann Stunden damit verbringen, den richtigen für ein Konzert auszuwählen.
Warum soll der Stuhl wichtiger sein als das Instrument?
Der Stuhl ist deine Verbindung zum Boden, zur Erde. Er verbindet die physische Welt in Form deines Körpers mit der spirituellen Welt der Musik. Die Haltung hat einen enormen Einfluss auf das Spiel. Da zählt jeder Zentimeter. Je tiefer Pianisten sitzen, desto weicher spielen sie. Große, kräftige Pianisten sitzen meist hoch und spielen aggressiver. Von weiter oben schlägt man die Tasten automatisch stärker an.
Sie sind geschätzte 1,90 Meter, trotzdem sitzen Sie immer knapp über dem Boden, gebeugt wie Glenn Gould. Ist das nicht unbequem?
Je niedriger man sitzt, desto mehr Spielraum bleibt für Feinheiten, Nuancen. Man kann das sogar bei Komponisten hören: Maurice Ravel saß sehr niedrig. Ihm ging es nicht um Wirkung, eher um die Million Schattierungen zwischen hart und weich. So spiele ich auch am liebsten, vor allem bei Studioaufnahmen.
Auf Ihren Konzerten hingegen hauen Sie ganz schön in die Tasten.
Das liegt daran, dass ich als Erstes Schlagzeug gelernt habe. Das Perkussive in mir kriege ich nicht mehr weg. Trotzdem sitze ich lieber niedrig. Damit zeigt man auch den Respekt gegenüber dem Instrument und seiner Macht. Die Demut vor dieser wundersamen Maschine.
Es geht beim Klavierspielen auch um Macht?
Ja, natürlich. Ich denke, jeder, der hoch sitzt, maßt sich an, das Instrument zu beherrschen, zu besiegen. Man sollte nie versuchen, das Klavier zu besiegen, weil das Klavier immer gewinnt. Du bist immer der Sklave, nie der Meister. Wer denkt, er müsse über dem Klavier sitzen, der hat vermutlich ein Problem mit Autorität im Allgemeinen.
Es gibt Musiker, die spielen im Stehen Klavier.
Richtig, Jerry Lee Lewis zum Beispiel, aber bei ihm ging es auch nicht um Nuancen. Er war Rock ’n’ Roll. Ich spiele auch manchmal im Stehen, aber nur bei Zugaben. Das Problem: Man erreicht die Pedale schlecht. Die Pedale sind der eigentliche Grund, warum man beim Klavierspielen sitzt. Wenn es die nicht gäbe, würden wahrscheinlich mehr Klavierspieler stehen.
Sie sitzen manchmal auch auf dem Klavier oder stehen auf den Tasten bei Ihren Auftritten.
Ich war auch schon in einem Klavier, während ich spielte. Ich habe alles ausprobiert. Das Bad in der Menge, Tanzen auf dem Flügel, aber seit ich einmal mit dem Kopf auf eine Stuhllehne gekracht bin, mache ich das nicht mehr. Die ultimative Unterwerfung ist es, unter dem Klavier zu spielen, ohne die Tasten und die Noten zu sehen. Aber das mache ich nicht mehr: Mein Nacken spielt da nicht mehr mit.
Dinge zu betrachten wie jemand aus der entfernten Zukunft.
»Ich will auch immer anders sein als alle anderen«
Der »General Dynamic Chair« aus lackiertem Fiberglas von Julian Mayor ist natürlich kein Klavierstuhl. Für leichte Fingerübungen taugt er aber allemal; über closer-gallery.com
Krummer Rücken, steifer Nacken, sind das so die Berufskrankheiten eines Pianisten?
Nicht nur das: Der kanadische Jazzpianist Oscar Peterson hatte so stark Arthrose, dass er in seinen letzten drei Lebensjahren Konzerte nur noch mit seiner linken Hand spielen konnte. Auch ich muss regelmäßig zum Osteopathen, um an meiner Beweglichkeit zu arbeiten.
Hat das auch mit dem Klavierstuhl zu tun?
Eher mit dem Alter. Ich hatte jahrelang kein Problem damit, 150 Konzerte pro Jahr zu geben. Jetzt fängt es an. Ich kann mir gut vorstellen, dass Pianisten bestimmte Stühle bevorzugen, weil sie Rückenprobleme haben oder Ähnliches. Viele versuchen, mit geradem Rücken zu spielen, was sich natürlich auch wieder auf ihr Spiel überträgt.
Sie besitzen eine Replik des original Glenn-Gould-Stuhls. Was hat der, was andere nicht haben?
Glenn Gould war ein besonderer Mensch. Seine Suche nach dem perfekten Klavierstuhl war zwanghaft. Er hätte einfach herumprobieren können, bis er einen passenden findet, aber er wollte etwas Eigenes, Unverwechselbares. So war seine Persönlichkeit. Sein Vater baute schließlich einen alten gepolsterten Klappstuhl für ihn so um, dass er in der Höhe verstellbar war. Goulds narzisstische Ader ist mir nicht fremd, ich will auch immer anders sein als alle anderen.
Ist das der Grund für den Morgenmantel, in dem Sie auftreten?
Genau, und für Gould war es eben sein Stuhl. Für ihn hatte sein Stuhl eine spirituelle, fast religiöse Dimension. Er benutzte nie einen anderen, weder zu Konzerten noch im Studio. Er spielte auf ihm mehr als 30 Jahre lang und wollte auch keinen neuen, als das Polster komplett hinüber war. Er wollte eben auch hart sitzen, da war er ganz mönchisch, vielleicht sogar ein wenig masochistisch. In den letzten fünf Jahren seines Lebens saß er nur noch auf dem Skelett seines Stuhls, auf den blanken Holzleisten und man fragt sich: Hat ihm sein Arsch nicht wehgetan beim Spielen?
Was macht einen guten Klavierstuhl für Sie aus?
Es gibt fixe und welche zum Verstellen. Als ich Klavierspielen lernte, waren die Stühle noch fix. Ich hatte einen einfachen Holzblock ohne Polster, den man aufklappen konnte, um die Noten darin zu verstauen. Dann kamen die neuen mit Lederpolstern und Höhenverstellung. Es gibt Stühle und Bänke. Bei Auftritten benutze ich Bänke, weil ich gerne mit Leuten aus dem Publikum spiele. Es muss also noch jemand neben mir sitzen können.
Wie wichtig ist Stabilität?
Nicht zu unterschätzen. Einmal gab ich in einer Londoner Werbeagentur ein Konzert; als ich mein letztes Stück anspielte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Der Stuhl begann zu schwanken, war aber noch so stabil, dass ich mir ausrechnen konnte, wann er zusammenbricht. Ich konnte den Zeitpunkt praktisch mit meinem Hintern fühlen. Also hielt ich ihn mit meinem Gewicht in Balance, bis das Stück vorbei war, um dann mit dem letzten Akkord aufzuspringen, damit er zusammenkracht. Und genau das ist passiert.
»Richard Wagner und Michael Jackson: In meiner Welt sind beide gleich wichtig.«
Jahrelang trat Chilly Gonzales nur im Morgenmantel auf, in letzter Zeit aber auch gern mal im Anzug.
Die Nummer mit dem kollabierenden Klavierstuhl haben Sie doch schon öfter gebracht.
Das ist wahr. Die Idee wurde aber in London geboren. So was kann man sich nicht ausdenken. Danach habe ich mir eine Klavierbank bauen lassen mit einer Vorrichtung, die sie auf Knopfdruck zusammenfallen lässt. Ein guter Entertainer nutzt solch spontane Ereignisse, um sie später nachzubilden. Im besten Fall kommt es wieder so rüber, als wäre alles Zufall.
Wie lange sitzen Sie am Klavier, um zu üben?
Wenn ich keine Auftritte habe, übe ich etwa eine Dreiviertelstunde Technik am Tag. Vor Auftritten mehr. Das ist der Luxus, wenn man selbst komponiert: Man kann es locker angehen und trotzdem überzeugend sein. Woody Allen schreibt seine Filme für sich selbst, deshalb ist er in diesen auch die perfekte Besetzung. Das sähe in einem Shakespeare-Stück schon ganz anders aus. Ich bin kein Virtuose, aber man denkt, ich wäre einer, weil meine Stücke perfekt auf meine Fähigkeiten und Technik zugeschnitten sind. Geben Sie mir ein Stück von Liszt, und ich werde verzweifeln an seiner Kunst.
Hatten Sie nie den Ehrgeiz ein ganz seriöser, klassischer Pianist zu werden?
Die Idee von Ernsthaftigkeit, wie es sie im Klassikbetrieb gibt, ist nicht meine Welt. Sie wird auch viel zu leicht akzeptiert. Mir macht es keine Mühe, das Publikum einzubeziehen, reinzuholen. Viele ernsthafte Musiker denken, sie müssten sich diese Mühe nicht mehr machen. Das ist mir unsympathisch. Diese Aura der Ernsthaftigkeit hemmt auch das Publikum. Darf ich hier klatschen? Muss ich jetzt aufstehen? Eigentlich bin ich gelangweilt, aber wahrscheinlich verstehe ich’s einfach nicht. Gegen all das trete ich an.
Der klassische Pianist würde einwenden: Es geht nicht um Show, es geht um Konzentration.
Für mich geht es bei Musik um Kommunikation. Der klassische E-Musiker ist immer eifersüchtig auf die Popmusiker, weil sie ein echtes Publikum haben. Sie blicken herab auf die Popmusik. Aber sie könnten das gleiche Publikum haben, wenn sie etwas mehr investieren würden in Kommunikation. Diese Arroganz hat mich immer abgestoßen, da hört Musik zu leben auf. Ich liebe die Popmusik, damit bin ich groß geworden. Während mir mein Großvater Richard Wagner eingetrichert hat, habe ich Michael Jackson auf MTV gesehen. Ich möchte Musik meiner Zeit machen, in meiner Zeit leben, dazu muss ich die Popmusik reinlassen und sie weitertreiben. Richard Wagner und Michael Jackson: In meiner Welt sind beide gleich wichtig.
Fällt Ihnen das Komponieren leicht oder schwer?
Weder noch. Ich komponiere fast jeden Tag. Wenn man das mit zu viel Brimborium auflädt, wird es kompliziert, weil man nicht mehr unterscheiden kann zwischen seiner persönlichen Befangenheit und der tatsächlichen Qualität. Am Ende muss das Publikum entscheiden, was funktioniert und was nicht. Ich will das nicht selbst entscheiden.
Halten Sie immer noch den Guinness-Weltrekord im Dauer-Pianospielen?
Sie meinen das 27-Stunden-Konzert? Nein, der Rekord wurde ein paar Jahre später gebrochen von einem jungen Franzosen, der doppelt so lange spielte.
Wie hält man das durch? Tut einem da, mit Verlaub, nicht der Arsch weh?
Meine Ärzte rieten mir damals, mindestes sechs verschiedene Stühle mitzubringen und sie alle paar Stunden durchzuwechseln: Ich spielte auf Bürostühlen, Gesundheitsstühlen, Klavierstühlen und anderen. So verharrt man nicht ständig in einer Sitzposition, bewegt nicht immer die gleichen Muskeln.
Was schätzen Sie, wie viel Zeit im Leben haben Sie auf Klavierstühlen verbracht?
Man sagt ja, um ein Meister in etwas zu werden, muss man mindestens 10 000 Stunden geübt haben. Ich würde sagen, gefühlt ein Viertel meines Lebens. Aber wenn man’s mal durchrechnet: Mit Konzerten müssten es so an die 5000 Stunden sein. Allein als Teenager habe ich vier oder fünf Stunden am Tag geübt, jahrelang. Ich konnte einfach nicht aufhören.
Haben Sie nie gedacht, ich verpasse da draußen vielleicht was?
Es war eine schöne Flucht für mich.
Warum Flucht?
Flucht vor dem normalen Leben. Als andere ausgingen, Mädchen kennenlernten, bin ich am liebsten am Klavier gehockt. Vielleicht hatte ich einfach Angst. Das Klavier hat einfach immer gewonnen.
»Beethoven würde niemals auf einem Festival spielen.«
Gonzales sitzt gern niedrig beim Spielen, da kommt ihm der Hocker »Tembo« von Note entgegen; über lachance.fr
Sie rappen und lassen sich dabei von einem Kammerorchester begleiten. Ist das noch Experimentierlust oder schon Ironie?
Oh, ich hoffe, es kommt nicht wie Ironie rüber, denn ich meine es ernst. Im Gegenteil, es wäre doch ein Fake, wenn ich jetzt versuchen würde, den original Sound des Hip-Hop zu imitieren. Rap ist ja nur ein Stilmittel, Hip-Hop ist eine Kultur. In dieser Kultur habe ich nichts zu suchen. Ich kleide mich anders, bewege mich anders und habe ein anderes Frauenbild. Ich komme aus einer bürgerlichen, jüdischen Familie aus Kanada, habe klassische Musik gelernt. Rap ist für mich ein Stilmittel und Stilmittel sind dazu da, benutzt zu werden. Purismus ist gefährlich und führt immer in eine Sackgasse.
Gibt es Musik, die man nur im Sitzen anhören sollte?
Es gibt Musik zum Tanzen und Musik zum Anhören. Wenn man steht, kann man sich nicht so gut auf die Musik konzentrieren, man nimmt sie auch anders wahr. Sitzen fördert die Konzentration. Ich habe viel mehr Kontrolle über ein Publikum, wenn es sitzt, man kann eine Show dramaturgisch viel langsamer aufbauen. Vom Sitzen ist es ja nicht mehr weit zum Liegen, manchmal fühlt sich Musik auch mehr an, wie wenn man beim Therapeuten auf der Couch liegt. Neulich wollte ich Leslie Feist sehen auf einem Festival, die Leute standen im Regen, tanzten im Schlamm. So kann man doch keine Musik anhören! Wenn Beethoven wiederauferstehen würde und auf einem Open-Air-Festival spielen würde – ich würde nicht hingehen.
Würden Sie doch.
Beethoven würde niemals auf einem Festival spielen.
Brian Wilson hat sich zu Hause Sand unter seinen Steinway-Flügel schütten lassen, damit ihn die Muse küsst. Haben Sie auch irgendwelche Marotten?
Meinen Glenn-Gould-Stuhl benutze ich zu Hause nie, wenn Sie das meinen. Er ist mir einfach zu unbequem. Ich benutze ein relativ traditionelles Modell, verstellbar, aber harte Sitzfläche. Er ist braun und passt farblich gut zu meinem Bechstein-Klavier daheim.
Gould badete seine Arme und Hände in warmem Wasser vor einem Konzert. Was machen Sie?
Wenn es kalt ist, mache ich das auch. Das hat sich bewährt. Aber eigentlich lehne ich es ab, so ein großes Ritual aus dem Spielen zu machen.
Woran sitzen Sie gerade?
Ich schreibe an etwas Neuem, einer Mischung aus Oper und Musical, die ich vielleicht demnächst in München uraufführen werde. Es geht um John McEnroe und Björn Borg und ihr episches Tennismatch in Wimbledon 1980. Das Stück heißt Tiebreak und begibt sich tief in die Psyche beider Spieler während des legendären Tiebreaks. Wie sie sich belauern, was ihnen durch den Kopf geht.
Welchen Pianisten bewundern Sie mehr: Rubinstein oder Horowitz?
Rubinstein ist der James Bond unter den Pianisten. Er schwitzte nie, ist extrem charismatisch, hatte tausend Frauengeschichten. Aber mich zieht es viel mehr zu Horowitz. Sein Leben war kompliziert, er war neurotisch, wischte sich nach jedem Stück den Schweiß von der Stirn. So wie ich. Rubinstein hingegen: zwinkerte nach jedem Stück jungen Mädchen im Publikum zu. Alle Pianisten wollen so sein wie Rubinstein, aber die meisten von uns sind wie Horowitz.
Der Pianist
Chilly Gonzales, der mit bürgerlichem Namen Jason Beck heißt, hat Jazzpiano in Montreal studiert, ehe er 1998 nach Berlin zog und sich einen Namen machte: als Electro-Star, Rapper, Bühnenattraktion und Klaviervirtuose. Weltweit bekannt wurde er mit seinen beiden Alben »Solo Piano« (2004) und »Solo Piano II« (2012), verspielten Klavierminiaturen, die man am besten entspannt in einem gemütlichen Ohrensessel anhört. Er ist 41 Jahre alt und lebt in Köln.
Der echte Glenn-Gould-Stuhl samt Goulds Steinway-Flügel ist Teil der Sammlung des National Arts Centre in Ottawa.
Fotos: Jonas Unger