Selma
Dieses Jahr stand unser Weihnachtsbaum bis Mitte Januar im Wohnzimmer. Eine wunderschöne Nordmanntanne, die wir selbst auf einer Plantage geschlagen haben. Der Baum nadelte kaum und pikste nicht. Den Schmuck haben wir auch selbst gebastelt. Ich finde, ein Weihnachtsbaum verleiht dem Zimmer so ein gemütliches und festliches Ambiente.
Markus
Selma feiert Weihnachten vollauf begeistert. Mein Bruder kommt mit Frau und Kindern aus Italien, bei meinen Eltern gibt es dann ein großes Fest und jede Menge Halligalli. Und Selma ist diejenige, die am lautesten »Oh Tannenbaum« schmettert.
Selma
Ich singe auch gerne »Stille Nacht«. Mich stört es nicht, dass dabei ein Gott gepriesen wird, der nicht meiner ist. Mir gefällt die Tradition dahinter. Leider kann ich noch nicht alle Texte auswendig, aber vor Weihnachten üben Fares und ich immer fleißig. Unsere Kinder bekommen nicht nur an den christlichen Feiertagen Geschenke, sondern auch an den islamischen, wie an Mawlid an-Nabi, dem Geburtstag des Propheten. Das ist in Algerien eigentlich nicht üblich, aber weil wir hier in unserem Dorf sowieso wenig Kontakt zu den islamischen Traditionen haben, möchte ich, dass die Kinder auch mit diesen Festen etwas Positives verbinden. Meinen Schwiegereltern legen viel Wert darauf, dass wir Feiertage wie Ostern und Weihnachten gemeinsam feiern. Meine Schwiegermutter geht an Weihnachten immer in die Kirche, ich unterstelle ihr ein bisschen, dass sie es tut, weil sie von der Dorfgemeinschaft gesehen werden will. Sie fragt jedes Mal, ob sie Fares mitnehmen kann. Und ich sage jedes Mal Nein. Ich will nicht, dass er so präsentiert wird.
Markus
Selma bringt den christlichen Ritualen unglaublich viel Respekt entgegen. Denselben Respekt gegenüber ihrer Religion wünscht sie sich von meinen Eltern. Das kann man aber nicht von ihnen erwarten. Sie stammen aus einer anderen Generation, sie sind auf dem Dorf aufgewachsen und es fällt ihnen schwer, sich auf eine fremde Religion, auf die fremden Gebräuche einzulassen.
Selma
Für mich ist es anstrengend, meine Religion hier so zu leben, wie ich es mir wünsche. Vom Ramadan hält mein Schwiegervater gar nichts – er findet es geradezu gefährlich, den ganzen Tag nichts zu essen und zu trinken.
Markus
Wir haben von Anfang an entschieden, dass wir gemeinsam fasten. Selma passt sich ja schon das ganze Jahr über dem Leben in Deutschland an, da finde ich es schön, wenn wir uns mal einen Monat lang intensiv um ihre Religion zu kümmern, die ja jetzt auch meine ist. Als wir bei meinen Eltern gewohnt haben, haben sie die Fastenzeit hautnah mitgekriegt. Wie oft hörten wir: »Iss doch was, dann fühlst du dich besser!« Selma findet solche Aussagen abwertend und verletzend. Dabei meinen meine Eltern das nicht böse. Mein Vater ist über 70, dem bringt man nichts mehr bei. Für ihn ist unser Glauben eine fremde Welt. Islamische Sitten in seinem Haus werden ihm einfach schnell zu viel. Das haben meine Eltern uns deutlich gezeigt – wenn wir an Ramadan so spät gegessen haben, waren sie immer schon fertig und saßen vor dem Fernseher.
Selma
In Deutschland verstehen die Menschen den Grundgedanken vom Ramadan nicht. Es geht ja nicht nur um Verbote. Es geht darum, wie man sich in dieser Zeit verhält, Nächstenliebe zu beweisen, nicht zu lügen, nicht zu beleidigen, geduldig und hilfsbereit zu sein. In Algerien helfen wir unseren Nachbarn, kümmern uns um alte Leute, sorgen dafür, dass es allen gut geht. Wenn ich das hier versuche, geht das immer schief. Manchmal will ich unseren Nachbarn zum Ramadan etwas zu essen zu bringen, da heißt es immer: »Nee, nee, wir kochen gerade.« Oder: »Wir haben schon gegessen.« Dann bin ich enttäuscht, fühle mich zurückgewiesen. Neben dem Haus meiner Eltern in Algerien stehen immer Polizisten auf der Straße, tagein, tagaus, bei Hitze und bei Kälte. Meine Mutter bringt ihnen im Ramadan leckere selbst gekochte Mahlzeiten vorbei. Was wäre wohl los, wenn ich hier versuchen würde, einem Polizisten einen Topf Suppe zu bringen! Er würde wahrscheinlich denken, ich wolle ihn vergiften.
Zuhause habe ich mich immer auf den Ramadan gefreut, das ist eine ganz besondere Zeit für alle. In Deutschland bin ich froh, wenn ich ihn hinter mir habe. Ich erzähle auch niemandem mehr davon, ich faste und bete einfach still für mich. Ständig kommen dieselben Fragen: »Wie schafft ihr es bloß, den ganzen Tag nichts zu trinken, das ist doch wahnsinnig ungesund!« Ich sage dann nur genervt: »Wir leben alle noch.«
Markus
Ganz ehrlich, ich bin auch froh, wenn der Ramadan vorbei ist. Leider rasseln Selma und ich in diesen Wochen häufig aneinander. Sie wünscht sich, dass wir zusammen den Koran lesen, darauf habe ich oft keine Lust. An Ramadan ist ja auch so wenig Zeit: Auf leeren Magen habe ich keinen Nerv dazu, und wenn wir endlich gegessen haben, ist es so spät, dann will ich schlafen. Und ja, wenn ich den ganzen Tag nichts esse, werde ich eben grantig! Selma behauptet immer, sie sei im Gegensatz zu mir gar nicht grantig, aber dann streiten wir uns unterzuckerbedingt doch jedes Mal.
Selma
Die ersten Tage sind für alle hart, auch für mich.
Markus
Was haben wir uns im ersten Jahr an Ramadan gefetzt! Unsere erste richtige Krise. Wenn ich mich mal beklagt und gesagt habe, ich will nicht mehr, was wurde sie da unwirsch.
Selma
Ich zwinge ihn ja nicht dazu. Aber wenn Markus den ganzen Tag herummotzt und immer wieder den Hunger für seine schlechte Laune verantwortlich macht, sorgt er dafür, dass der Ramadan nur noch von diesem einen Thema bestimmt wird – und das ist nicht der religiöse Gedanke dahinter.
Markus
In Algerien kann man an Ramadan tagsüber schlafen, aber ich muss halt arbeiten. Mich bekümmert außerdem, dass ich zum Eigenbrötler werde, der nur vor sich hinschafft und noch nicht mal einen Kaffee mit den Kollegen trinken kann…
Selma
So ganz stimmt das nicht. Wir treffen in dieser Zeit auch Freunde oder gehen auf Partys. In meinem ersten Ramadan hier war gerade Fußball-WM, da saßen wir oft daneben und haben zugeschaut, wie die anderen futterten…
Markus
Boah, das war hart. Was die alles vor unserer Nase in sich reingestopft haben. Die essen und essen, ich schaue auf die Uhr, bin kurz davor, dass ich auch etwas essen darf – und dann schnappt mir einer das letzte Burgerbrötchen weg! Und ständig diese Sprüche wie: »Hier, trink mal einen Schluck Bier!« Unsere Freunde nehmen unser Fasten leider auch nicht so ernst.
Selma
Wenn sie sich darüber lustig machen, ist das okay für mich. Nur wenn Leute, die ich nicht so gut kenne, blöde Kommentare raushauen, werde ich sauer.
Markus
Aber es ist ja nicht so, als ob wir gar nichts zu essen bekommen. Theoretisch könnte Ramadan sogar sehr gesund sein, wenn man mal weniger isst und vielleicht ein bisschen Gewicht verliert. Das funktioniert bei uns allerdings nicht. Das Wichtigste am Fasten ist das Essen! Das hat Selma von ihrer Mutter gelernt. An Ramadan steht meine Frau von morgens bis abends in der Küche und kocht. Und zwar unglaublich gut …
Selma
Mal sehen, wie das wird, wenn Fares und Samy alt genug sind. Frauen fasten ab dem Jahr, in dem sie ihre Tage bekommen, Männer, sobald sie einen Adamsapfel haben. Zum Fastenbrechen, dem Zuckerfest, gebe ich Fares immer Zuckerplätzchen mit in den Kindergarten – da freuen sich alle Kinder. In der Schule wird es für Fares sicher schwierig, wenn er fasten muss.
Markus
Das wird hart für ihn, soll er das wirklich durchziehen?
Selma
Ich finde es wichtig, dass er das macht. Wenn die Jungs größer sind, möchte ich den Ramadan gerne auch mal mit ihnen in Algerien verbringen. Damit sie diese Zeit genauso intensiv erleben wie hier die Weihnachtszeit. Und damit sie sehen: Das ist ganz normal, das macht jeder.