»Mir gefällt die deutsche Erziehung besser«

Wie alle Eltern orientieren sich Selma und Markus bei ihren Kindern daran, wie sie selbst erzogen wurden. Meist sind sie sich einig. Kompliziert wird es, wenn KindergärtnerInnen, Nachbarn oder die Schwiegereltern übernehmen.

Die Nachbarn meinen es oft gut, aber Fares soll aus religiösen Gründen nur Fleisch essen, das halal ist.

Selma
Fares ist jetzt vier, Samy ein halbes Jahr. Ich glaube, dass die beiden es als Männer leichter haben werden. Als Frauen stünden sie irgendwann vor demselben Problem wie ich: dass sie einen Muslim heiraten müssen. Und ich als Mutter stünde vor dem Problem, dass ich ihnen das verbieten müsste, egal, wie verliebt sie sind. Als Männer dürfen sie auch andersgläubige Frauen heiraten, das ist ein großer Vorteil.

Fares und Samy haben die deutsche wie auch die algerische Staatsbürgerschaft. Als Fares ein Jahr alt war, haben wir ihn beschneiden lassen – ganz ohne Zeremonie, wir sind einfach zu einem Arzt gegangen. Der darf eigentlich keine Beschneidung ohne medizinische Indikation ausführen, darum hat er offiziell die Diagnose Phimose, also Vorhautverengung, gestellt. Ich weiß, dass dieser Eingriff in Deutschland stark debattiert wird, dass manche ihn sogar als Körperverletzung des Kindes empfinden. In Algerien steht die Beschneidung aber außer Frage. Wie den allermeisten Muslimen ist es mir sehr wichtig, dass meine Söhne beschnitten sind. Und dass das professionell von einem Mediziner gemacht wird.

Markus
Ich war sofort damit einverstanden. Beschnitten zu sein, hat ja auch ganz praktische hygienische Vorteile. Ob die Jungs später in der Umkleide Kommentare abbekommen, darüber habe ich mir anfangs schon Gedanken gemacht. Aber irgendwas ist ja immer: Der eine hat einen Pickel am Po, der andere ist eben beschnitten. Ich selbst bin nicht beschnitten. Es wird zwar erwünscht von Konvertiten, aber nicht zwingend erwartet.

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Selma
Worum ich sehr kämpfen musste: Wenn wir auf die Toilette gehen, waschen wir uns hinterher im Intimbereich, das ist im Islam ein Muss. Nur Toilettenpapier reicht nicht. Das hat religiöse Gründe – vor dem Beten sollte man sich überall waschen, damit man wieder rein ist. Markus hat das verstanden, aber meine Schwiegereltern haben sich bei unseren Kindern zunächst verweigert. Dabei muss man gerade in Fares' Alter darauf achten, dass er sich an solche Dinge von Anfang an gewöhnt. Inzwischen habe ich meine Schwiegereltern dazu gebracht, dass sie ihn auch waschen. Im Waldkindergarten macht er einfach in die Büsche, das ist eben so. Aber neulich hat unsere Nachbarin auf ihn aufgepasst, danach kam er zu mir und meinte: »Mama, die Nachbarin hat mich nicht gewaschen, kannst du das mal noch machen?« Von der Nachbarin würde ich das nie erwarten, aber mich hat es gerührt, dass Fares es sofort als fehlend empfunden hat.

Markus
Natürlich ist bei uns manches anders als in der typischen schwäbischen Familie. So sind wir heilfroh, dass Fares ein schlechter Esser ist und den anderen Kindern auf Geburtstagen nicht ihre Würstchen wegisst. Viele Menschen vergessen, dass wir nicht nur kein Schweinefleisch essen, sondern das Fleisch auch halal sein muss. Die wollen Fares was Gutes tun und legen ihm extra feines Rindfleisch auf den Teller…

Selma
Ich bin da mit der Zeit etwas lockerer geworden, weil ich merke: Die Leute finden es komisch, wenn man ständig Nein sagt. Im Kindergarten wissen aber alle Erzieher und die anderen Eltern Bescheid. Ich bringe ja auch zu islamischen Festen immer irgendwas Besonderes zu essen für alle Kinder mit. Im Kindergarten spricht Fares natürlich Deutsch, zuhause spreche ich mit ihm Französisch – nur geschimpft wird er auf Algerisch! Das ist nicht Hocharabisch, sondern ein Dialekt, eine Art Mischmasch aus Arabisch und Französisch. Unsere Familiensprache ist Deutsch. Fares versteht alles auf Französisch, aber traut sich oft nicht zu sprechen – wie sein Vater!

Markus
Dafür tu ich Fares scho so bissle Schwäbisch beibringen. Wenn die Kinder Schwäbisch schwätze, finde ich das cool. Ist ja auch nicht so schwer, man muss beim Sprechen einfach nur a bissle fauler sein …

Selma
Mit der Erziehung sind wir uns ansonsten sehr einig. Wir sind beide eher streng erzogen worden. Meine Eltern haben mir alles verboten – und ich habe trotzdem alles gemacht. Das möchte ich bei meinen Kindern anders handhaben. Ich will viel mit ihnen sprechen und ihnen alles erklären, damit sie Dinge nicht heimlich tun müssen. Ich durfte zum Beispiel keinen Freund haben, ich durfte nicht rauchen, nicht trinken… Ich habe noch mit Mitte 20 Ausreden erfunden, um Männer treffen zu können. Und ich trinke, seit ich 16 bin. Darum werde ich Fares und Samy auch nicht verbieten, Alkohol zu trinken. Sonst schlägt das irgendwann nur ins Gegenteil um.

Markus
»Mach dies nicht, tu das nicht!« Bei meinen Eltern wurde immer schon im Vorfeld gemeckert. Ich musste um zehn zuhause sein und bin halt einfach wieder abgehauen. Dann gab es Hausarrest und ich bin wieder abgehauen… Ich finde: Kategorische Verbote ohne Begründung führen zu nichts. Wir lassen Fares alles machen und ausprobieren. Wir haben die Treppe im Haus nie abgezäunt, haben keine Kindersicherungen für Steckdosen. Stattdessen habe ich ihm gesagt: »Fares, das ist gefährlich.« Das versteht er. Es macht einen großen Unterschied, ob man etwas verbietet oder erklärt. Und wir wollen unsere Kinder zu eigenständig denkenden Menschen erziehen. Was ich an meiner eigenen Kindheit toll fand: Ich bin ja auch auf dem Land aufgewachsen und wir waren viel draußen, haben viel Sport gemacht, Radfahren, Skifahren, Schwimmen…

Selma
Ich bin in einer algerischen Großstadt aufgewachsen, unser Leben hat sich in der Wohnung abgespielt. Draußen zu spielen war verboten, meine Mutter hatte große Angst vor Dreck und Schmutz. Generell unterscheidet sich der Umgang mit Kindern in Algerien sehr von dem, was ich in Deutschland kennengelernt habe. Hier fällt mir auf, dass die Eltern sich intensiv mit ihren Kindern beschäftigen, ihnen viel Zeit widmen, mit ihnen rausgehen, in den Wald oder auf den Spielplatz. Das kenne ich so nicht. Wir sind damit groß geworden, dass man sich mit sich selbst beschäftigt oder mit anderen Kindern. Mir gefällt die deutsche Erziehung besser.

Markus und Selma mit ihren Kindern Samy (6 Monate) und Fares (4) heißen eigentlich anders. In einer neuen Serie erzählen sie von ihrem Eheleben in der schwäbischen Provinz: von Vorurteilen und Toleranz, von muslimischen Festen und warum sie an Weihnachten trotzdem »Stille Nacht« singen. Und wie sie es schaffen, inmitten der Debatten um Integration, Rechtsruck und Feminismus ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Hier geht es zu allen bisherigen Folgen.

Worauf ich übrigens sehr stolz bin: Vor ein paar Tagen bin ich seit mehr als dreißig Jahren mal wieder richtig Fahrrad gefahren. Das musste ich ganz neu lernen, gar nicht so leicht als Erwachsene. Als Kind lernt man in Algerien zwar Radfahren, aber es wird sehr viel weniger praktiziert als in Deutschland und in unserer Indoor-Familie ohnehin. Als ich dann vor ein paar Jahren in Deutschland mal wieder aufs Rad steigen wollte, bin ich sofort umgefallen und habe mir den Arm gebrochen. Seitdem hatte ich Panik, es nochmal zu versuchen. Markus hat aber in seiner Jugend lange Radtouren mit seinen Eltern gemacht und die schönsten Erinnerungen daran. Darum hat er sich sehr gewünscht, dass ich das Radfahren wieder lerne. Nun habe ich mich dahintergeklemmt und kann es endlich wieder!

Ich bin auch froh, dass Fares durch den Waldkindergarten viel draußen ist. Und ich finde es inzwischen komisch, wie die Algerier mit ihren Kindern umgehen. Ich schimpfe immer mit meiner Schwester oder mit einer algerischen Freundin, dass sie nie etwas mit ihren Kindern unternehmen. Meine Schwester schlägt ihre Kinder auch – das würde ich niemals machen. In unserer Kindheit war das aber ganz normal. Die Lehrer haben uns mit dem Stock auf die Finger gehauen, meine Mutter hat uns mit dem Hausschuh verprügelt, das war sehr schmerzhaft. Sie hat uns geschlagen, wenn wir gelogen haben. Aber sie hat selbst meinen Vater angelogen, behauptet, sie hätte das Haushaltsgeld nicht mehr… Wie sollen Kinder das verstehen: Wenn ich lüge, gibt es Schläge, aber die Mama lügt auch? In unserer Familie gab es immer viele Heimlichkeiten. Das war auch ein Grund, warum ich mich in Markus verliebt habe: Weil er immer ehrlich ist, weil ich weiß, dass er niemals lügt.

Markus
Meine Nichte, die Tochter meines Bruders, ist zwölf, genauso alt wie Selmas Nichte. Da gibt es riesige Unterschiede in der Erziehung. Meine Nichte darf immer noch Kind sein, frei sein, spielen. Selmas Nichte muss, seit sie sechs Jahre alt ist, viel putzen, viel im Haushalt helfen. Es gibt für sie viel mehr Regeln und Pflichten.

Selma
Meine Schwester sagt, ihre Tochter müsse das lernen und irgendwann werde sie dankbar sein. Aber meine Schwester ist auch einfach faul, die sitzt gerne auf dem Sofa und lässt ihre Tochter schuften. Wir schauen schon auch, dass Fares kleine Aufgaben erfüllt, seinen Teller in die Küche bringt oder so. Das sollten Jungen genauso lernen wie Mädchen. Aber ich möchte, dass Fares und Samy mehr Freiheiten haben als ich damals. Mein großer Wunsch ist es, dass sie später einmal studieren. Aber ich würde sie nicht zwingen – so, wie man das in Algerien macht. Dort ist das Studium gebührenfrei, es gibt keine Ausbildungen. Wer nicht studiert, ist daher beruflich sehr eingeschränkt. Ich habe fünf Jahre lang Informatik studiert, weil meine Eltern das wollten. Um genau zu sein: Ich habe gelogen und so getan, als ob ich studiere. Bis ich mich getraut habe, ihnen zu sagen, dass mich Informatik absolut nicht interessiert und ich zu BWL wechseln will.

Markus
Mir ist es völlig egal, ob meine Söhne später studieren. Wenn sie auf den Bau gehen wollen oder Schreiner werden, dann sollen sie das machen. Als Ingenieur vermittle ich Fares aber automatisch ein Interesse für Technik. Er spielt oft, dass er Autos repariert, und dann sagt er stolz: »Ich bin auch Ingenieur!«

Selma
Im Islam erwartet man viel von seinen Kindern. In Algerien zum Beispiel erwartet man auch von ihnen, dass sie sich um einen kümmern, wenn man alt ist. Das ist hier ebenfalls anders. Aber ich denke: Ich schenke meinen Kindern so viel Liebe und so viel Zeit, da sollten sie mich nicht ins Heim abschieben. Das würde ich mit meinen Schwiegereltern auch nicht tun.

Markus
Ich erwarte mal lieber gar nichts von meinen Kindern – sonst werde ich nur enttäuscht.