»Zum Glück gibt's im Islam keine Beichte, wir behalten alle Sünden für uns«

Keine Pornos, keine Selbstbefriedigung, kein Analverkehr: Im Islam gibt es strenge Vorschriften zum Thema Sex. Das hat auch Folgen für das Intimleben von Selma und Markus, wie sie in der zehnten und letzten Folge der Serie »Muslim aus Liebe« erzählen.

Aus Angst vor den Eltern bleibt algerischen jungen Erwachsenen für intime Stunden oft nur das Hotel.

Illustration: Tine Fetz

Selma
Ich habe viele Ex-Freunde. Ich kann gar nicht genau sagen, wie viele es waren, irgendwas im zweistelligen Bereich. Aber natürlich durfte ich die nur im Geheimen treffen. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass wir drei Schwestern möglichst früh einen Ehemann finden. Darum haben sie uns vieles verboten. Wir durften nach der Uni keinen Kaffee mit Freundinnen trinken gehen, durften abends nicht an den Strand, mussten immer vor Sonnenuntergang daheim sein. »Wenn du heiraten willst, darfst du dich nur mit deinen Eltern auf der Straße zeigen. Sonst gibt es Gerede und du bekommst nie einen Mann!«

In Algerien läuft das so: Man trifft sich, wenn die Eltern nicht zuhause sind – oder heimlich, wenn sie zuhause sind. Oder man geht in Hotels. Dort darf man nur als Ehepaar ein Zimmer buchen, an der Rezeption verlangen sie sogar das Stammbuch. Aber dann mietet eben einer alleine das Zimmer und der andere schleicht sich später dazu, das machen alle so. Manchmal haben wir uns auch einfach ins Auto gesetzt, da gibt es einen ganz romantischen Platz, mit Meeresblick an der Promenade. Allerdings kommt dort öfter die Polizei vorbei, weil sie schon weiß, wo sie die Pärchen erwischen kann. Mir ist das zum Glück nie passiert. Die Polizei nimmt das Paar dann mit auf die Wache und informiert die Eltern, das kann schlimme Folgen haben. Oder man muss die Polizei bestechen.

Markus
So aufregende Geschichten habe ich in meiner Jugend nicht erlebt. Ich hatte auch viel weniger Beziehungen als Selma. Aber immerhin durfte ich meine Freundinnen mit nachhause nehmen!

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Selma
Markus war der erste Mann, den ich je meinen Eltern vorgestellt habe. Das war so schön für mich, ich war unglaublich stolz und aufgeregt. Endlich eine Beziehung, mit der ich offen umgehen durfte.

Markus
Aber ihre Eltern kennen ja bis heute nicht die ganze Geschichte…

Selma
Sie denken bis heute, wir haben uns in Barcelona freundschaftlich kennengelernt und danach nur ab und zu gechattet. Sie denken, dass ich Markus zum ersten Mal wiedergesehen habe, als er nach der Konvertierung zu uns nachhause kam.

Markus
Und sie wissen nicht, dass ich in Barcelona in einer Bar gearbeitet habe!

Selma
Sie haben auch nie genauer nachgefragt. Wir reden einfach nicht über Sex und Beziehungen. Das war schon immer so. Darum hatte ich ja von Sex keine Ahnung! Heute gibt es zumindest ein wenig Sexualunterricht an den Schulen, in meiner Jugend gab es gar nichts, meine Eltern haben mich nie aufgeklärt.

Markus
So richtig toll haben meine Eltern das auch nicht gemacht. Als ich zehn war, haben mir Schulfreunde irgendeinen Quatsch erzählt und ich habe meine Eltern gefragt, was das bedeutet. Ihnen war das furchtbar peinlich, sie hatten aber schon ein entsprechendes Bilderbuch parat, das haben sie mir dann gegeben.

Selma
Learning by doing, so war das bei mir. Mit 17 habe ich einen kennengelernt, der war so hübsch und ich dachte, na gut, kuscheln wir eben ein bisschen. Ich war damals auch nicht selbstbewusst genug, um Nein zu sagen. Und so habe ich gar nicht gemerkt, dass der mich entjungfert hat. Das habe ich erst Jahre später erfahren, als ich eine feste Beziehung hatte. Mein Freund und ich wollten unser erstes Mal miteinander erleben, ganz romantisch am Valentinstag. Ich war selbst sehr schockiert und habe mich ausgenutzt gefühlt von dem anderen Mann. Ich habe ihn zur Rede gestellt, als ich ihn später nochmal auf einer Party getroffen habe. Aber der sagte nur, ich sei bekifft gewesen und könne mich wohl nicht mehr richtig erinnern.

Markus und Selma mit ihren Kindern Samy (6 Monate) und Fares (4) heißen eigentlich anders. In einer neuen Serie erzählen sie von ihrem Eheleben in der schwäbischen Provinz: von Vorurteilen und Toleranz, von muslimischen Festen und warum sie an Weihnachten trotzdem »Stille Nacht« singen. Und wie sie es schaffen, inmitten der Debatten um Integration, Rechtsruck und Feminismus ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Hier geht's zu allen bisherigen Folgen.

Illustration: Tine Fetz

Markus
In Algerien ist es immer noch wichtig, dass die Frauen Jungfrau bleiben, bis sie heiraten. Offiziell gilt das im Islam für Männer und für Frauen, inoffiziell aber nur für die Frauen. Vor der Eheschließung müssen sie ihrem Mann oft sogar ein Zertifikat vom Frauenarzt vorlegen, dass sie noch Jungfrau sind. Das sind die meisten heute natürlich nicht mehr, darum lassen sie sich das Jungfernhäutchen vor der Ehe wieder zunähen.* Das ist gängige Praxis in Algerien, die meisten Frauenärzte bieten das an. Schockiert hat mich das nicht, als ich das zum ersten Mal mitgekriegt habe. Ich weiß ja, dass viele junge Algerier lügen müssen, um ihr freizügiges Leben mit ihren Eltern, mit der Kultur und Religion zu vereinbaren. Ich finde es aber traurig und auch sehr unfair und heuchlerisch, dass nur die Frauen so etwas auf sich nehmen müssen – obwohl die meisten Männer bei ihrer Hochzeit auch keine Jungfrauen mehr sind.

Selma
Ich hatte Glück, ich habe einen Deutschen geheiratet und musste das nicht tun. Das ist so eine Doppelmoral: Die Männer, die ohne schlechtes Gewissen mit mir ins Bett gegangen sind, verbieten ihren Schwestern, einen Freund zu haben. Leider sind viele Algerier so. Mit der Treue nehmen sie es vor der Ehe auch nicht so genau, das zählt für sie nicht. Und eine Frau, mit der sie nicht verheiratet sind, sitzenzulassen, damit haben die meisten kein Problem.

Ich hatte mit Unterbrechungen über viele Jahre lang einen festen Freund. Wir waren zwischendurch immer wieder getrennt, weil er aus einem Ort kommt, in dem man nur untereinander heiratet, und seine Eltern haben ihm eingeredet, ich sei unter seinem Niveau. Erst meinte er: »Wir hauen ab, wir heiraten heimlich im Ausland.« Aber dann hat er das wieder und wieder verschoben – und irgendwann eine Frau geheiratet, die seinen Eltern genehm war.

Markus
Die Eltern haben in Algerien eben doch noch viel zu sagen, auch bei ihren erwachsenen Kindern. Das musste ich auch feststellen: Bei unserer deutschen Eheschließung durfte ich meine Frau nicht auf den Mund küssen. Der Standesbeamte sagte: »Sie dürfen die Braut jetzt küssen.« Und da habe ich Selma auf die Stirn geküsst.

Selma
Ich hätte es mir anders gewünscht. Aber ich hatte Angst, dass meine Mutter sonst meckert.

Markus
Immerhin: Bei unserer algerischen Hochzeit durfte ich Selma ja noch nicht mal sehen. Insofern war das ein Fortschritt. Anfangs mussten wir uns schon zusammenraufen, bis wir eine gemeinsame sexuelle Ebene gefunden haben. Mir war Sex früher sehr wichtig, viel wichtiger als Selma. Wir sprechen aber offen über alles, was wir wollen und was wir nicht wollen. Heute haben wir natürlich dasselbe Problem wie alle Paare mit Kindern: keine Zeit für Sex. Mindestens einer von uns ist immer zu müde. Und es gibt ein paar Dinge, die für meine Frau einfach nicht in Frage kommen. Zum Beispiel hat sie ihre Probleme mit Nacktheit – nackt schlafen ist in unserem Haus nicht erlaubt.

Selma
Analsex oder Sex während der Periode: Das sind aus religiösen Gründen Tabus für mich. Dabei würde ich mich schmutzig fühlen. Zum Glück respektiert Markus das, er würde nie versuchen, mich dazu zu überreden. Oder auch: in der Öffentlichkeit herumknutschen. Das empfinde ich als provokant, weil ich weiß, dass man in Algerien die Menschen damit brüskiert.

Markus
Inzwischen hat Selma auf mich abgefärbt. Als sie mir im Urlaub in der Türkei einen kleinen Kuss geben wollte, habe ich gesagt: »Nee, lass mal lieber.« Heute denke ich: Wir sind verheiratet, wir haben ein ganzes Haus zur Verfügung. Da brauchen wir nicht wie Teenies auf der Straße herummachen.

Selma
Es gibt im Islam einfach viele Vorschriften, was körperlichen Kontakt angeht. Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch hinter verschlossenen Türen. Keine Pornos, kein Analverkehr, kein Oralverkehr. Während Ramadan ist Sex nur nachts erlaubt und während der Periode gar nicht. Daran halten sich die meisten Muslime – und ich mich eben auch. Selbstbefriedigung ist ebenfalls verboten.

Markus
Man darf sich ja nicht einmal vorstellen, Sex mit jemandem zu haben, mit dem man nicht verheiratet ist. Allein die Phantasie ist ein Tabu! Aber alle Regeln kann ich nicht beachten. Zum Glück gibt es im Islam keine Beichte – wir behalten alle Sünden für uns.

Selma
Was hingegen erlaubt ist: Polygamie. Zumindest für Männer. Gerade reiche Männer in Algerien haben oft mehrere Familien parallel.

Markus
Selma hatte auch mal einen Millionär an der Angel. Der hat bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten, um sie zur Zweitfrau zu nehmen.

Selma
Das war einer der reichsten Männer der Stadt, eine Freundin hat ihn mir auf einer Party vorgestellt. Der fand mich toll, hat mich lange umworben, mit Klamotten, Taschen, Sonnenbrillen, und ist dann zu meinen Eltern gegangen. Er dachte wohl, er könnte mich kaufen. Ich habe die Klamotten genommen – und trotzdem Nein gesagt.

Meine Eltern hätten mich auch nie gezwungen, ganz egal, wieviel Geld ein Mann hat. Meine Mutter wurde selbst mit meinem Vater zwangsverheiratet, als sie 16 war. Mein Vater war zwölf Jahre älter, er kannte den Cousin meiner Mutter und erzählte ihm, dass er auf der Suche nach einer Frau sei. Daraufhin meinte der: »Meine Cousine kommt aus gutem Hause, wie wär's?« Meine Mutter hat erst am Tag der Eheschließung davon erfahren, ohne dass sie meinen Vater je gesehen hatte. Zuerst wollte sie sich umbringen. Zum Glück mochte sie meinen Vater sofort und sie führen bis heute eine gute Ehe. Aber obwohl es meiner Mutter wichtig war, dass meine Schwestern und ich früh heiraten, hat sie uns immer die freie Wahl gelassen. Solange der Mann ein Muslim ist.

* Anm. d. Red.: Tatsächlich lässt sich medizinisch nicht eindeutig feststellen, ob eine Frau Sex hatte oder nicht. Der Hymen, umgangssprachlich als Jungfernhäutchen bezeichnet, ist eine dünne Schleimhautfalte, die bei jeder Frau anders aussieht oder vollständig fehlen kann.