»Die Vorurteile haben sich in den Köpfen festgesetzt«

Verschleierte Frauen im Schwimmbad, Kölner Silvesternacht, Extremismus: Als muslimisches Paar in Deutschland zu leben, heißt auch, sich permanent »zum Islam« äußern zu müssen. Besonders schwierig war die Situation zwischendurch mit Markus' Vater, der auf AfD-Parolen ansprang.

Wenn Selmas Bruder zu Besuch in Schwaben ist, wird er häufig von der Polizei kontrolliert.

Markus
Algerien ist sehr divers, das finde ich angenehm und empfinde das Land in mancherlei Hinsicht sogar als toleranter als meine Heimat. Da geht die Frau im schicken Minirock mit der vollverschleierten Frau spazieren – man akzeptiert zum Beispiel die jeweilige Glaubensauslegung … Was mich aber stört: Vielen Algeriern fehlt das Bewusstsein für Alltagsrassismus. Auch wenn meine Frau bestimmt keine Rassistin ist, geht ihr manchmal jegliche Political Correctness ab, sie kennt das einfach nicht anders. Zu Beginn unserer Beziehung sind mal zwei dunkelhäutige Frauen zu uns in die Bahn gestiegen. Und Selma flüsterte mir zu: »Guck mal, die hat Gott schwarz angemalt.«

Selma
Nein, das war ein Mann und der hatte mich vorher genervt. Aber heute finde ich auch, dass das sehr unpassend von mir war. Das würde ich nicht mehr sagen.

Markus
In Algerien sind viele nicht so sensibilisiert für solche Äußerungen. Es gibt auch einige Bewegungen, die Sympathien mit Hitler zeigen. Da schlucke ich jedes Mal. Auch zum Konflikt zwischen Israel und Palästina habe ich schon öfter antisemitische Sprüche gehört. Algerier dürfen nicht nach Israel reisen, und Ausländer, die in Israel waren, bekommen kein Visum für Algerien.

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Selma
Für mich als Algerierin in Deutschland fühlt es sich manchmal so an, als ob die ganze Welt auf Seiten Israels steht – und es keinen juckt, wenn Menschen in Palästina sterben. Aber ich bin nicht antisemitisch, ich kann das trennen: Das eine ist die Politik, das andere sind die Menschen.

Als es in den Neunzigern in Algerien so gekriselt hat, gab es eine Welle der Islamisierung. Es kam zum Bürgerkrieg zwischen der Regierung und islamistischen Parteien, damals haben sich ganz viele Frauen verschleiert. Ich war damals Teenager und habe gesagt, ich mach das nicht mit. Wenn ich ein Kopftuch tragen möchte, dann aus religiösen Gründen, weil ich mich selbst bereit dafür fühle.

Viele junge Frauen werden von ihrer Familie unter Druck gesetzt, ein Kopftuch zu tragen, wenn sie in die Pubertät kommen. Meine Eltern waren zum Glück sehr liberal. Im Islam-Unterricht hat mich die Lehrerin gehasst, weil ich kein Kopftuch getragen habe und mich aus Protest im Minirock da reingesetzt habe. Meine Mutter trug bis vor sieben Jahren auch kein Kopftuch. Erst mit 55 Jahren hat sie sich dafür entschieden. Das kommt öfter vor, dass muslimische Frauen im Alter gläubiger werden. Sie hat in der Schule nie Arabisch gelernt, hat das auf einmal nachgeholt, um den Koran im Original lesen zu können, hat sich immer stärker an eine sehr konservative Moschee gebunden. Diese Gemeinde hat ein bisschen etwas von einer Sekte, und ich sehe die Hinwendung meiner Mutter dazu sehr kritisch. Als ich meiner Mutter neulich ein Parfüm geschenkt habe, meinte sie nur: »Ich benutze kein Parfüm mehr, das ist im Islam verboten.«

Markus
Ich glaube, Religion funktioniert am besten, wenn man bedenkt, dass es für jede Regel den richtigen Zeitpunkt und Ort gibt – oder auch den falschen. Das hat sogar der Imam erkannt, der mich konvertiert hat und der mich gleich ermahnt hat. Ich bin in einer Abaya in die Moschee gekommen, im traditionellen bodenlangen Gewand, und der Imam meinte sofort: »Hey, aber trag dieses Ding bloß nicht in Deutschland, was sollen die Leute denken…« Ich finde diese Haltung des Anpassens der Vorschriften an die jeweilige Umgebung sehr zeitgemäß: Der Islam will und soll ja auch gesellschaftstauglich sein.

Unser Freundeskreis ist sehr offen, aber im weiteren Bekanntenkreis binde ich nicht jedem auf die Nase, dass ich Muslim bin. Irgendwie habe ich schon ein wenig Angst, damit anzuecken und Diskussionen auszulösen. Auf Partys heißt es dann: »Ach, du bist doch der, der konvertiert ist!« Und dann geht es los mit den Kommentaren: Extremismus, Benachteiligung der Frauen, dies verboten, das verboten… Es ist schwierig für mich, eine Religion erklären und verteidigen zu müssen, in der ich selbst noch nicht ganz angekommen bin. Und ich weiß, dass andere Muslime diese Debatten ebenfalls als anstrengend empfinden.

Selma
Ich habe darauf auch keine Lust mehr. Markus’ Mutter hat immer tausend Fragen, wenn in den Medien irgendwas breitgetreten wird: Frauen, die mit Kopftuch ins Schwimmbad gehen – was sage ich dazu? Wenn eine Frau gerne schwimmen geht, ihren Körper aus religiösen Gründen nicht zeigen will und einen entsprechenden Schwimmanzug trägt, was soll daran falsch sein? Markus’ Mutter meint: »Warum muss die überhaupt schwimmen gehen, wenn sie keinen normalen Badeanzug tragen will?« Ich frage dann zurück: »Warum nicht? Frauen, die ihren Körper nicht zeigen wollen, haben doch genauso Freude am Schwimmen wie alle anderen Menschen – und genauso ein Recht auf diese Freude!«

Oft fehlen mir aber auch die Argumente, weil vieles für mich so selbstverständlich ist. So ist das mit der Religion, mit der man aufgewachsen ist, man nimmt vieles einfach hin. Ein gläubiger Katholik hinterfragt ja auch nicht, warum er sich einen blutenden Jesus übers Bett hängt. Tatsächlich hat von uns beiden oft Markus die besseren Argumente, weil er sich intensiver mit der Theorie des Islams beschäftigt hat.

In Algerien hatte ich zwar Religionsunterricht, aber da lernt man eben, um Klausuren zu bestehen, da geht es nicht um aktuelle Fragen. Das versuche ich heute nachzuholen. Wenn ich während des Ramadans den Koran lese, versuche ich, Antworten zu finden, um Vorurteile widerlegen zu können. Und auch, um gewappnet zu sein, wenn manche männliche Muslime heute den Koran ausnutzen und konservativ interpretieren, das sehe ich nämlich ebenfalls kritisch – aber das ist ein kulturelles Problem, kein religiöses. Im Koran steht so viel zum Thema Frauenrechte und Gleichberechtigung, man muss sich nur einfuchsen. Zum Beispiel war eine der Frauen Mohammeds eine erfolgreiche Unternehmerin. Laut Koran ist es durchaus erlaubt, dass Frauen arbeiten gehen. Und ich bin ja auch meinem Mann nicht untertan…

Markus
…eher im Gegenteil…

Selma
…aber die Vorurteile haben sich in den Köpfen festgesetzt. Wenn die Leute mich als moderne Frau kennenlernen, passt das nicht in ihr Weltbild. Als mich meine Schwiegermutter das erste Mal gesehen hat, trug ich einen kurzen Rock. Die war total irritiert und dachte, ich habe mein Kopftuch im Flugzeug vergessen!

Markus
Es ist aber auch kein einfaches Thema. Neulich hatten wir Besuch von einem in Schwaben aufgewachsenen türkischen Ehepaar. Sie ist eine ganz moderne Frau, sie arbeitet, sie verbringt viel Zeit im Fitnessstudio. Aber seit sie verheiratet ist, trägt sie ein Kopftuch. Ich bin da selbst verunsichert: Aus Respekt vor der Frau sollte ein anderer Mann sie nicht berühren. Aber wie ist das mit Frauen, die in Deutschland geboren sind, ist das unhöflich, ihr die Hand nicht zu geben? Ich habe abgewartet, was sie macht – sie hat mir die Hand hingehalten, da wusste ich, das ist okay.

Markus und Selma mit ihren Kindern Samy (6 Monate) und Fares (4) heißen eigentlich anders. In einer neuen Serie erzählen sie von ihrem Eheleben in der schwäbischen Provinz: von Vorurteilen und Toleranz, von muslimischen Festen und warum sie an Weihnachten trotzdem »Stille Nacht« singen. Und wie sie es schaffen, inmitten der Debatten um Integration, Rechtsruck und Feminismus ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Hier geht es zu allen bisherigen Folgen.

Selma
Viele Probleme entstehen aus den kulturellen Unterschieden. Was man in Deutschland sexuelle Belästigung nennen würde, fällt in Algerien noch unter plumpe Anmache. Sobald es allzu vulgär wird, wehren wir uns natürlich, aber meistens nehmen wir es als Kompliment. Wenn ich in Algerien nicht permanent angebaggert werde, frage ich mich: »Sehe ich heute so schrecklich aus, bin ich nicht attraktiv genug?« Körperliche Belästigung wird nicht gerne gesehen, ist aber leider noch stark verbreitet. Nach der Silvesternacht 2015 in Köln wurde ich oft angesprochen: »Hey, was machen deine Landsleute da?« Natürlich habe ich mich für sie geschämt. Oft ist das ein Problem mangelnder Integration und Bildung. Aber ich finde es unfair, alle Nordafrikaner unter Generalverdacht zu stellen. Wenn mein Bruder zu Besuch ist, wird er oft von der Polizei aufgehalten. Kürzlich wurde er am Stuttgarter Hauptbahnhof angesprochen, da haben sie ihn gefragt: »Wo kommst du her, was machst du hier?« Das war für sie Routine – er sieht nun mal nicht gerade typisch deutsch aus, da haben sie ihn eben kontrolliert. Er hat mit trauriger Miene geantwortet: »I wanna be a refugee in Germany.« Dann hat er gesagt: »Only a joke.« Und die Polizisten haben mitgelacht.

Markus
Es ist schlimm, dass sich so viele von der Welle um AfD und Pegida haben mitreißen lassen. Mein Vater ist da auch eine Weile mitgeschwommen. Er ist ein alter Bundeswehrler, war immer extrem konservativ und hat versucht, uns eher rechts zu erziehen. Bei meinem Hippie-Bruder und mir hat das absolut nicht gefruchtet und wir dachten sogar, wir hätten es geschafft, unseren Vater ein wenig umzuerziehen. Aber der Rechtsruck in Deutschland hat ihn dann eben doch erfasst. Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, er hat AfD gewählt, schließlich hat er auch entsprechende Sprüche auf Facebook gepostet.

Selma
Ich habe ihn bei Facebook entfreundet, weil ich dieses Zeug nicht mehr sehen wollte. Über Flüchtlinge und über Merkels Politik, nach dem Motto: Wer die reinlässt, darf sich nicht wundern … Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er hat nur gesagt: »Das ist meine Meinung.«

Markus
Ich glaube, er hat gar nicht kapiert, dass der Großteil seiner Familie Ausländer sind, Italiener, Algerier… wie passt das denn zusammen? Zum Glück war es nur eine Phase, inzwischen ist er wieder normal geworden oder hält sich zumindest bei diesen Themen zurück. Ich habe ihm auch deutlich gesagt, dass ich diese rechten Parolen nicht hören möchte. Für uns war es völlig abstrus zu sehen, wie er auf diese Hetze anspringt.

Selma
Er hat mir immer gesagt: »Das hat nichts mit dir zu tun.« Aber ich habe ihm erklärt, dass ich mich trotzdem angegriffen fühle.

Markus
Ich glaube, mein Vater nimmt Selma als Integrationswunder wahr. Und das ist sie ja auch. Ihr ist es gelungen, im Crashkurs Schwäbin zu werden – und trotzdem ihre eigene Kultur zu behalten.

Selma
Gerade wäre ich so gerne in Algerien! Ich wäre gerne mit auf die Straße gegangen, um zu protestieren. Ich bin stolz, Algerierin zu sein, ich finde es beeindruckend, wie das Volk demonstriert, was gerade alles passiert. Und ich habe die Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändert, die Regierung komplett ausgewechselt wird, die alten korrupten Strukturen erneuert werden. Algerien hat so viel Potenzial. Es braucht noch viel Arbeit, bis es dem Land wieder gut geht, aber die jungen Leute sind so motiviert.