Die Psychologin Amy Muise berichtet im »Journal of Personality and Social Psychology«, dass heterosexuelle Männer nicht gut darin sind, ihre sexuelle Anziehungskraft einzuschätzen. Dies dürfte niemanden überraschen, der schon einmal einen heterosexuellen Mann getroffen hat, der vor Zeugen erklärt, eine Frau, mit der er etwa drei Sekunden Blickkontakt im »Pupasch« hatte, »steht sowas von auf mich, die hält's ja kaum noch aus«.
Es gibt, sagt die Forscherin von der University of Toronto/Mississauga, eine relativ einfache Gesetzmäßigkeit: Wenn Männer Frauen zum ersten Mal treffen, neigen sie dazu, das sexuelle Interesse der Frau zu überschätzen. Über die Zeit gibt es hier jedoch keinen Lerneffekt, sondern eher einen Verlerneffekt: Wenn Männer mit einer Frau länger zusammen sind, entsteht das umgekehrte Phänomen, und sie neigen dazu, das sexuelle Interesse der Partnerin zu unterschätzen.
Es gibt erstmal keine Erklärung für diese männliche Fehlwahrnehmung. »Die Wissenschaft des sexuellen Begehrens ist kompliziert«, gibt die Autorin Melissa Dahl im Wissenschaftsblog des »New York Magazin« zu Bedenken und weist daraufhin, dass Forscher lange Zeit davon ausgegangen seien, sexuelle Erregung entstehe spontan, sie überkomme einen sozusagen, und dass man erst seit relativ kurzer Zeit wisse, dass Erregung »responsiv« ist, also stets eine Reaktion auf ein »lustvolles Szenario«.
Leider entspricht die oben beschriebene männliche Wahrnehmungsschwäche zweien der gängigsten Genderklischees. Zum einen eben der Karikatur des Aufreißertypen, der seine eigene Anwesenheit für ein „lustvolles Szenario" per se und sich selbst von Hause aus für unwiderstehlich hält. Zum anderen der Karikatur des gefühllos seditierten Ehegatten auf dem Fernsehsofa, der sich nicht dafür interessiert, dass seine Frau das Nudelholz gegen ein Negligé getauscht hat. Es ist in diesem Fall, als könnte man, statt Studien an psychologischen Fachbereichen zu machen, auch einfach die Witze-Seiten der Fachzeitschrift »Praline« aus den Sechziger Jahren durchblättern. Am Ende ist es womöglich wirklich so, dass die in langjährigen Beziehungen oft abnehmende Sexfrequenz dadurch zu erklären ist, dass Männer einfach nichts mitkriegen.
Abgesehen davon stellt sich die Frage, was Männer auch abseits der Sexualität noch alles falsch einschätzen, wenn sie bereits bei einer für das partnerschaftliche Seelenheil und den Fortbestand der Spezies so wichtigen Frage so ungeschickt sind. Forschungsaufträge wären zu vergeben zu folgenden Fragestellungen:
Männliche Flugdrohnenbesitzer bzw. Golfer bzw. Sportbootführerschein-Anwärter - Warum und wie schlecht können sie einschätzen, wie wenig ihr Gesprächspartner sich für ihr Hobby interessiert?
Männliche Paketboten - Wie unzuverlässig entwickelt ist ihre Fähigkeit, das Interesse von Postempfängern an den zuzustellenden Paketen einzuschätzen, weshalb sie diese lieber im Wagen behalten?
Männliche Erkältungsopfer - Wie differenziert ist ihre Fähigkeit ausgebildet, den Bedrohungsgrad ihrer Erkrankung und die Tiefe des eigenen Leidens einzuschätzen und wiederzugeben?
Übrigens sind auch Frauen zumindest in sexuellen Fragen nicht unbedingt gut im Schätzen, allerdings auf deutlich weniger unerfreuliche Weise. Eine Studie des »Sexual-Psychophysiologie-Labors« der University of California in Los Angeles hat ergeben, dass Frauen dazu neigen, den Penis ihres Partners deutlich länger zu schätzen, als er eigentlich ist. Vermutlich, weil sie ihn so lange nicht mehr gesehen haben.
Illustration: Eugenia Loli