Im Bett mit »Mutti«

42 Prozent aller Männer und Frauen verraten ihre Sex-Fantasien nicht mal ihrem Partner. 42 Prozent aller Wahlberechtigten würden am nächsten Sonntag CDU wählen. Es besteht kein Zusammenhang. Oder doch?

Gerade wenn es um ein so heikles Thema wie die menschliche Sexualität geht, gilt es, die Integrität der Wissenschaften zu wahren. Insbesondere in diesem Fall: die Integrität der statistischen Wissenschaft. Allzu oft werden hier von unberufener Seite unzulässige Zusammenhänge hergestellt. Es hat zum Beispiel rein statistisch keine Bedeutung, wenn repräsentativ erhobene Zahlen gleich oder zumindest sehr ähnlich sind.

Gut, rund 42 Prozent aller Männer und Frauen trauen sich nicht, mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin über ihre sexuellen Wünsche zu sprechen. Rund 42 Prozent aller Wahlberechtigten würden am nächsten Sonntag CDU wählen. Diese beiden Zahlen haben nichts miteinander zu tun.

Man darf nicht den Fehler machen, sie miteinander zu vermischen und etwa zu sagen: Die gleiche Prozentzahl von Männern und Frauen wählt CDU, mag aber nicht offen über Sex sprechen. Oder, noch unzulässiger, wenn auch sprachlich nicht falsch: Die gleiche Prozentzahl Wahlberechtigte traut sich, CDU zu wählen, aber nicht, ehrlich zu sein in Bezug auf ihre eigene Sexualität.

Meistgelesen diese Woche:

Dies würde bedeuten, unter Missbrauch der Statistik über mathematische Analogien Zusammenhänge zu konstruieren, die es nicht gibt. Erst recht, wenn man derlei dann auch noch unterfüttert mit scheinbar analytischen Betrachtungen über politische und psychosexuelle Parallelen: die nachweisbaren politischen Schwierigkeiten der CDU im großstädtischen, sexuell eher freizügigen Milieu zum Beispiel. Oder mit anekdotischen Beweisen: all die CDU-Funktionäre, die hinter vorgehaltener Hand ihre Vorsitzende zwanghaft immer »Mutti« nennen und sich auf diese Weise ödipal oder gar prä-ödipal verhalten, politisch verklemmt quasi, unfähig, in einem Menschen etwas anderes als zuerst sein Geschlecht zu sehen, mithin also vermutlich kaum im Einklang mit der eigenen Sexualität.

Man könnte auch, im Stile manch eines Leitartiklers, die sexuelle Statistik als politische Metapher lesen und auf diese Weise Deckungsgleichheit zwischen beiden herstellen: Traut sich nicht auch die CDU seit zehn Jahren nicht, offen über ihre Wünsche zu sprechen, sondern tut lieber so, als wäre sie die SPD? All dies aber würde heißen, eindeutige, statistisch repräsentativ erhobene Daten, durch Spekulation unzulässig anzureichern.

Nein, man muss sehr vorsichtig sein. Wir wissen nur eins: Es gibt zwei statistisch gleich große Gruppen, von denen wir nicht wissen können, ob sie identisch sind. Die eine 42-Prozent-Gruppe lässt viel über sich ergehen, hält im Zweifelsfall lieber die Klappe und lässt den oder die da oben mal machen. Und die andere 42-Prozent-Gruppe traut sich nicht, ihrem Partner zu sagen, was sie beim Sex wirklich will.

Illustration: Eugenia Loli