Eine Analyse der Amerikanischen Billbordcharts der Jahre 1960 bis 2008, hat ergeben: Früher war mehr Romantik. Für die Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift Sexuality & Culture veröffentlicht wurde, hat sich Psychologieprofessorin Jennifer Shewmaker durch 1250 Charthits aus fünf Jahrzehnten gehört und festgestellt, dass die Texte immer seltener von Liebe und Romantik handeln, dafür umso mehr von Sex. Drehten sich in den 60er Jahren noch gerade mal sieben Prozent aller Songs eindeutig um Sex, sind es in den Jahren nach der Jahrtausendwende schon 40 Prozent.
Ein Grund für diese Entwicklung könnte in der gestiegenen Popularität von Rap-Musik liegen, in der es traditionell viel um Sex mit Bitches und Mothers geht, naheliegender wäre jedoch, dass in Wahrheit auch die vermeintlich romantischen Songs früherer Jahrzehnte sich im Kern um Sex drehten, die romantische Liebe also nichts als ein Euphemismus für die körperliche Liebe ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Blick nach Deutschland, wo es scheinbar so gut wie überhaupt keine Lieder über Sex zu geben scheint. Die Vergewaltigungsfantasien des sogenannten Deutschen Gangster-Raps mal außen vor gelassen, scheinen sich die Texte aktueller deutschsprachiger Sängerinnen und Sänger vor allem mit weltschmerziger Gefühligkeit zu befassen. Die deutsche Sprache hat eben ein denkbar schlechtes Repertoire an eindeutigen sexuellen Vokabeln, was sich sofort erschließt, wenn man einige populäre Sex-Songs ins Deutsche übersetzt. »Sexual Healing« wird zu »Sexuelle Genesung«, »I want your sex« zu »Ich will Dein Geschlecht«, »Shape of You« zu »Dein Körperumfang«, »Let's get it on« zu »Lass es uns angehen«. Eine Sprache, die ein Wort wie »Geschlechtsverkehr« hervorbringt, tut sich naturgemäß schwer mit sinnlichen Metaphern und stimmigen Reimen.
Oder verhält sich die Sex- / Romantik-Kurve im deutschsprachigen Popsong einfach nur diametral entgegengesetzt zur englischsprachigen? Sind deutsche Songpoeten – anders als ihre englischsprachigen Kollegen – heute viel feinsinniger, wenn es darum geht, Sex hinter wolkigen, pseudoromantischen Wortgebilden zu verstecken? Während Rex Gildo in den 70er Jahren in »Tanze Samba mit mir« noch recht unverblümt »Du bist so heiß wie ein Vulkan / heut Nacht verbrenn ich mich daran« singen konnte, vermeiden deutsche Songtexter heute das allzu Explizite. Hier die versteckten sexuellen Bezüge in einigen der erfolgreichsten Deutschen Popsongs der letzten Jahre:
Xavier Naidoo: Dieser Weg:
Dieser Weg wird kein leichter sein,
dieser Weg ist steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst Du Dir einig sein,
doch dieses Leben bietet so viel mehr.
Naidoo umschreibt in dieser fälschlich als Fußballmotivationshymne verstandene Ballade die Schwierigkeiten, seine Partnerin von den Vorzügen einer offenen Beziehung zu überzeugen. Der Text bringt auch eine gewisse Verzagtheit über die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz polyamorer Lebensentwürfe zum Ausdruck.
Silbermond: Leichtes Gepäck:
Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg,
denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck.
Nur scheinbar im Gewand einer Konsumkritik daherkommend, ist dieser Song womöglich eine feinsinnige Aufforderung an den Geliebten, sich die Kleider vom Leib zu reißen. »Reise« steht in diesem Fall für »Geschlechtsverkehr«. Möglich auch, dass hier in Wahrheit von »leichtem Gebäck« die Rede ist, eine Anspielung für Lebensmittelerotiker und Keksfetischisten.
Tim Bendzko: Keine Maschine:
Ich bin doch keine Maschine! Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut
und ich will leben, bis zum letzten Atemzug.
Diese anrührende Hymne gegen die Zwänge der Leistungsgesellschaft und die drohende Automatisierung ist zwischen den Zeilen auch eine Bitte an die Geliebte, ihren sexuellen Hunger im Zaum zu halten und dem Geliebten Ruhepausen zwischen den Akten zu gönnen.
Max Giesinger: 80 Millionen:
So weit gekommen und so viel gesehen
So viel passiert, das wir nicht verstehen
Ich weiß es nicht, doch ich frag' es mich schon
Wie hast du mich gefunden? Einer von 80 Millionen.
Ein Song über die Macht des Schicksals, in dem sich »begegnen« auf »Kometen« reimt. Die buchstäblich knisternde Erotik des Textes erschließt sich jedoch erst, wenn man sich das Vinyl von Max Giesingers Album »Der Junge, der rennt« gönnt und den Song rückwärts abspielt: Wer genau hinhört, erkennt dann im Refrain die sexy Zeilen:
Atemlos durch die Nacht,
Bis ein neuer Tag erwacht. Atemlos einfach raus
Deine Augen ziehen mich aus!
Illustration: Eugenia Loli