Leben im Sperrgebiet

Vor 30 Jahren explodierte Reaktor 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl. Der Fotograf Pierpaolo Mittica reist seit 15 Jahren immer wieder dorthin, um das Leben der Menschen in der Sperrzone zu dokumentieren.


Name: Pierpaolo Mittica
Alter: 06.08.1971
Wohnort: Spilimbergo, Italien
Website: pierpaolomittica.com
Ausbildung: Diplom in Konservierung, Archivierung, Technik und Geschichte der Fotografie am CRAF, Spilimbergo, Italien

SZ-Magazin: Sie sind 2002 das erste Mal nach Chernobyl gereist. Was hat Sie dazu bewegt?
Pierpaolo Mittica:
Ich habe kurz zuvor die Präsidentin einer italienischen NGO kennengelernt, die in Weißrussland ein Kinderkrankenhaus unterstützt und sie erzählte mir von der Situation vor Ort. Ich wusste damals nicht viel über Tschernobyl und die Konsequenzen, also beschloss ich, dorthin zu reisen. Es hat mich wirklich überrascht, dass hinter dieser großen Tragödie heute noch so viele andere Probleme stecken. Unendliche Probleme, die uns die nächsten tausenden von Jahren begleiten werden.

Sie sind inzwischen bereits 15 Mal dort gewesen – Sie haben also auch viele persönliche Geschichten mitverfolgt. Was ging Ihnen besonders nahe?
Die schlimmsten und berührensten Geschichten, die ich erlebt habe, haben mit Kindern zu tun. Wenn man einem jungen Mädchen oder Jungen gegenübersitzt, gezeichnet vom Krebs und weiß, dass es keine Heilung und keine Hoffnung für sie gibt, ist das unglaublich schlimm. Oder die Geschichte eines Feuerwehrmanns, der in der Nacht der Katastrophe im Reaktor das Feuer gelöscht hat. Von seinen fünf Arbeitskollegen, ist heute nur noch einer am Leben – die anderen drei starben wenige Wochen nach dem Super-Gau. Er hat erst im Krankenhasus erfahren, was wirklich passiert ist und hat sich damals geschworen, dass er Priester wird, sollte er überleben. Heute lebt er in einem kleinen Dorf im Sperrgebiet und kümmert sich um die Bewohner.

Haben Sie keine Ängste oder Bedenken, so häufig dieser hohen Strahlenbelastung ausgesetzt zu sein?

Natürlich habe ich das. Die Strahlenbelastung ist immer noch gefährlich hoch und wird es auch die nächsten Jahrhunderte so sein. Aber es ist mein Job. Ich möchte die Konsequenzen zeigen, die ein solches nukleares Desaster auslöst. Ich sehe die Welt als mein Zuhause und ich möchte mein Zuhause nicht zerstören, wir haben nur dieses eine.

Etwa 4000 Menschen leben unmittelbar am Sperrgebiet. Wie war ein »normales« Leben nach der Katastrophe möglich?

Die meisten der Bewohner arbeiten in der Sperrzone an der Sicherheit der Reaktoren. Drei davon wurden 2000 zwar gestoppt aber die Sicherheitskontrollen müssen mindestens bis 2065 durchgeführt werden. Die meisten dieser Arbeiter leben in Tschernobyl und arbeiten abwechselnd 15 Tage und haben dann 15 Tage frei. Die Stadt sieht wirklich aus wie eine normale ukrainische Stadt. Es gibt Einkaufsläden, Bushaltestellen und Postämter – eben alles was man zum Leben braucht. Die Atmosphäre ist wie in jeder anderen Stadt. Die Leute sind sogar glücklich, dass sie dort Arbeit gefunden haben, weil man dort durchschnittlich 30 Prozent mehr Lohn bekommt als im Rest des Landes. Das ist paradox und symbolisiert gleichzeitig auch das Paradoxe unserer Gesellschaft: Es ist wichtiger einen Job zu haben, als gesund zu sein.

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Gibt es weitere Gründe warum Menschen noch am Rande der Sperrzone leben? Gründe, die Sie nachvollziehen können?
Es gibt auch viele ältere Leute, die in ihrem Leben nie woanders waren als in der näheren Umgebung und diesen Ort einfach nicht verlassen wollen. Die Verbindung zu Ihrem Land ist so groß, dass sie bleiben. Sie bauen Gemüse an, gehen Fischen, essen das Fleisch der Tiere, die sie halten – obwohl sie wissen, dass es stark kontaminiert ist. Aber es ist ihre Tradition. Man kann das aus der Entfernung vielleicht nicht verstehen aber wenn man mit diesen Leuten spricht – macht es irgendwie Sinn.

Was hat sich seit Ihrem ersten Besuch am meisten verändert? 
Es hat sich einiges verändert. Die Strahlung hat es nicht, sie ist immer noch gleich hoch. Eine große Veränderung war aber definitiv die neue Schutzhülle, die im November fertig installiert wurde. Das war ein großes Schritt, was die Sicherheit der Anlage angeht. Gleichzeitig auch ein sehr kleiner Schritt, da die Anlage nur für die nächsten 100 Jahre ausgelegt ist. Die andere große Veränderung kam 2011 als die ukrainische Regierung das Gebiet um Tschernobyl für den Tourismus zugänglich gemacht hat. Seitdem kommen jährlich etwa 15 000 Besucher. Wenn ich früher mit meinem Guide in der Geisterstadt Pripjat unterwegs war, haben wir keine  Menschenseele getroffen. Inzwischen trifft man dort hunderte von Menschen. Es gleicht langsam einem Unterhaltungspark – die Menschen vergessen, dass Tschernobyl ein Symbol für eine große Tragödie ist, bei der manche alles verloren haben.

Fühlen sich die Menschen dort alleingelassen?
Ja, sie fühlen sich vergessen. Die internationalen Medien berichten zwar zu den runden Jahrestagen über Tschernobyl, aber einen Tag später interessiert es niemanden mehr. In der Ukraine herrscht zu dem gerade eine wirtschaftliche Krise. Die Behandlung von Krankheiten, die durch Strahlung verursacht wurden, muss dort von den Patienten komplett selbst bezahlt werden. Es gib dort kein staatliches Gesundheitswesen und den Menschen fehlt das Geld dafür. Die Versorgung ist nur durch die Arbeit von internationalen NGOs möglich.

Die neue Schutzhülle über Reaktor 4 soll die nächsten 100 Jahre halten. Die Radioaktivität in Chernobyl wird aber noch 100 000 Jahren bestehen bleiben. Wie schauen die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, in die Zukunft?
Viele versuchen nicht darüber nachzudenken, wie gefährlich das Leben in der Sperrzone ist. Wenn sie es tun würden, könnten sie nicht mehr dort leben. Die Menschen werden aber noch viele Jahre an der Sicherheit der Anlage arbeiten müssen. Dieses Desaster sollte endlich ein Symbol dafür sein, dass wir etwas dafür tun müssen, dass eine solche Katastrophe nicht noch einmal passieren kann.

Fotos: Pierpaolo Mittica