Name: Lea Sophie Greub
Geburtsjahr: 1998
Wohnort: Berlin
Webite: www.leagreub.com
Instagram: @greuble
Zu den jungen queeren Menschen, die Sie in der Serie »Out of the closet« porträtieren, gehört das Erotikmodel Kevin. Er ist aus Ungarn nach Wien geflohen. Warum?
Kevin lebt schon ziemlich lange offen schwul. Nach seinem Outing brach der Kontakt zu dem Großteil seiner Familie ab. Von einem Familienmitglied wurde er aus dem Haus und die komplette Straße heruntergejagt. Ein Angriff war für den jungen Mann schließlich der ausschlaggebende Grund, das Land zu verlassen: Weil er mit seinem Partner in der Innenstadt Budapests Hand in Hand unterwegs war, hat ihn ein Mann mit einem Messer angegriffen. Kevin sprach von 30 Stichen. Er erlitt Verletzungen am Torso und im Gesicht. Als er eine Anzeige aufgeben wollte, hat die Polizei nur gesagt, dass er nicht hätte Händchen halten sollen.
In vielen Ländern der Welt stößt die LGBTQIA+-Community auf starke Ablehnung. Warum haben Sie sich für Ungarn als Rechercheland entschieden?
Auf einer Demonstration in Berlin habe ich eine Trans*frau aus Budapest getroffen, die mir ihre Geschichte erzählt hat. Sie hat wie Kevin ihr Heimatland verlassen. Daraufhin habe ich begonnen, zu recherchieren. In Berlin bin ich mittlerweile mehreren Menschen begegnet, die aus Ungarn geflohen sind, weil sie die Diskriminierung und die Einschränkungen nicht mehr ausgehalten haben.
Wie hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert?
Seit 2020 macht der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die queere Community noch stärker für die verschiedensten Probleme in Ungarn verantwortlich, obwohl diese Menschen nichts damit zu tun haben. Stück für Stück werden den Menschen Rechte genommen. Beispielsweise können Trans*menschen ihr Geschlecht und den Namen im Pass seit Mai 2020 nicht mehr ändern lassen. Das bedeutet, dass sich die Betroffenen bei jeder Passkontrolle offenbaren müssen. Das führt ganz oft zu Diskriminierung und unschönen Kommentaren, zum Beispiel an Eingängen von Clubs. Deshalb ist auch die Trans*frau, die ich in Berlin getroffen habe, nach Deutschland gekommen. Sie hat es nicht mehr ertragen, nicht sie selbst sein zu können. Im Dezember 2020 beschloss das ungarische Parlament zudem eine Verfassungsänderung, in der es heißt: »Der Vater ist Mann, die Mutter ist Frau.« Damit schließt Ungarn LGBTQIA*-Paare als Adoptiveltern aus.
Wie steht die ungarische Gesellschaft dazu?
Orbáns Politik ist offen sexistisch, homophob und transphob. Teile der ungarischen Gesellschaft, die der queeren Community ohnehin abgeneigt sind, fühlen sich dadurch ermächtigt zu diskriminieren. Lesbische Frauen oder Trans*menschen sind beispielsweise häufig mit Catcalling konfrontiert (als Cat-Calling bezeichnet man sexuell anzügliches Rufen oder Pfeifen in der Öffentlichkeit, Anm. d. Red.). Babett, eine bisexuelle Frau, hat mir erzählt, ein Vorgesetzter habe einmal gesagt, dass er am liebsten alle Homosexuellen in einer Linie aufstellen und nacheinander in den Kopf schießen würde. Es ist gefährlich, in Ungarn schwul, lesbisch oder trans zu sein.
Wie schwer war es, Menschen für Ihr Fotoprojekt zu finden?
Ich habe über Tinder und Bumble die Leute ausfindig gemacht, weil das Internet ein Raum in Ungarn ist, den Orbán nur schwer kontrollieren und einschränken kann. Die meisten waren beruhigt, weil die Reportage in erster Linie in Deutschland veröffentlicht wird. Tatsächlich musste ich aber zwei Menschen aus meiner Reportage herausnehmen, weil sie Angst hatten, dass meine Reportage Auswirkungen auf ihren Job oder Sozialleben haben könnte. Sie haben sich mit mir getroffen, im Nachhinein haben sie sich anders entschieden. Die Personen waren noch sehr jung. Sie haben nicht die Aussicht, in nächster Zeit das Land verlassen zu können, weil sie erst noch die Schule beenden müssen.
Sie haben vor allem junge Erwachsene fotografiert. Wie gehen sie mit der Belastung um?
Die meisten scherzten über ihre Situation, um das alles zu ertragen. Ich glaube, diese Erlebnisse schmerzen einfach weniger, wenn man sie mit einer gewissen Leichtigkeit nimmt. So machen es viele in Ungarn. 90 Prozent der Menschen, die ich getroffen habe, werden nicht in Ungarn bleiben, schätze ich. Dadurch, dass es die Option, in ein anderes Land zu gehen, gibt, sehen die Menschen einen Ausweg.
In Budapest gibt es die Queer-Bar »Goyla« – »eine Festung mit dicken Stahltüren und Gittern vor den Fenstern«, wie Sie im Begleittext zu Ihren Fotos schreiben. Wie kann ein solcher Ort in Ungarn existieren? Und wie haben Sie die Stimmung erlebt?
Die Verbarrikadierung, die Angriffe von Rechten und homophoben Menschen abhalten soll, nimmt keinen negativen Einfluss auf die Atmosphäre. Die Stimmung in der Bar, die im siebten Bezirk liegt, ist total schön. Es ist ein Ort der Zusammenkunft; dort wird getanzt, getrunken und es stehen queere Künstler*innen auf der Bühne. Man merkt aber die Anspannung der Menschen, sobald sie nach Hause gehen. Plötzlich können sie nicht mehr sie selbst sein. Die Menschen halten auf dem Weg nicht mehr Händchen und küssen sich nicht zum Abschied. Häufig schauen sie sich um, um Gefahren auszuschließen.
Manche queere Menschen in Ungarn leben auf der Straße und sind dadurch nochmal besonders gefährdet.
Für meine Reportage habe ich die queere Person Bela (Name geändert) porträtiert, die obdachlos ist. Sie ist Tag und Nacht der Gefahr von Übergriffen ausgesetzt. Bela schläft in einer Unterführung, damit sie nicht alleine ist und im Notfall jemand helfen kann. Mit einem Trans*mann, der anschaffen geht und ebenfalls obdachlos ist, habe ich auch gesprochen. Es gibt für queere Menschen, die wie er auf der Straße leben, keine medizinische Hilfe in Ungarn. Die Situation ist wirklich verheerend. Seit 2018 ist Obdachlosigkeit zudem illegal und steht unter Geld- oder sogar Gefängnisstrafe.
Was hat Sie bei der Recherche besonders überrascht?
Mich hat überrascht, dass nicht gekämpft, nicht auf die Straßen gegangen wird. Im Frühjahr 2021 gab es einen Gesetzentwurf, der das »Bewerben und Darstellen« von Homosexualität in der Öffentlichkeit verbietet. Daraufhin fanden nur zwei Demonstrationen in Budapest statt. Danach ist der Protest im Sand verlaufen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Wahrscheinlich hat jedes Land seine eigene Demonstrationskultur. Ein von mir interviewtes Paar sagte mir, dass sich in Ungarns Gedächtnis das Trauma der UdSSR eingebrannt hat und die Menschen verinnerlicht haben, dass es etwas Schlechtes ist, den Mund aufzumachen.
Auch Denisa und Joana, ein Paar aus dem Fotoprojekt, sagen, dass sie müde geworden sind zu demonstrieren. Haben die jungen, queeren Menschen in Ungarn wirklich die Hoffnung aufgegeben?
Über anderthalb Jahre war ich immer wieder in Ungarn und habe wirklich nur eine Person getroffen, die in Ungarn bleiben will, weil sie das Land, die Sprache und die Kultur so liebt. Ich glaube, die Europäische Union muss tätig werden und Sanktionen verhängen. Orbán braucht die finanzielle Unterstützung. Die Europäische Union hat zu lange bei der Diskriminierung von Minderheiten zugesehen. Ich glaube, es kann den Betroffenen Hoffnung schenken, wenn sie Unterstützung von außen bekommen.