Name: Silke Manz
Geburtsjahr: 1965
Wohnort: Köln
Ausbildung: Ausbildung zur Werbekauffrau
Website: Instagram
SZ-Magazin: Frau Manz, mit zwölf Jahren entwickelte Ihre Tochter eine Bulimie. Wie haben Sie davon erfahren?
Silke Manz: Meine Tochter ist immer öfter auf dem Klo verschwunden. Nach dem Essen ging sie direkt auf die Toilette. Wieder und wieder. Eines Tages, als sie in der Schule war, fand ich in ihrem Zimmer eine Keksdose voll mit Erbrochenem.
Mit dieser Keksdose beginnt Ihre Fotoserie »Tesselate«.
In diese Keksdose hat meine Tochter sich erbrochen, wenn sie nicht aus ihrem Zimmer kommen wollte. Die Dose ist für mich zum Symbol für diese Zeit geworden, darum steht sie am Anfang der Serie leer auf dem Bett. Sonst übergab sich meine Tochter auf der Toilette. Einmal hatte sie nicht abgeschlossen, und ich platzte rein.
Was passierte dann?
Ich fragte sie intuitiv, ob sie sich gerade übergeben hätte. Meine Tochter reagierte ertappt – und ich konnte nicht anders, als ihr zu sagen, dass ich Angst um sie habe. Ich fühlte mich hilflos, habe aber versucht, zu vermitteln: »Das kriegen wir zusammen hin.« In meiner Verzweiflung kam ich irgendwann auch auf komische Ideen, zum Beispiel schlug ich ihr vor, dass wir ja zusammen Sport machen könnten. Heute weiß ich, dass es bei ihrer Bulimie nicht nur um Äußerlichkeiten ging.
Worum dann?
Bei uns zu Hause war viel los. Die Beziehung zwischen meinem Mann und mir wurde zunehmend problematisch. Wir hatten eine Familientherapie begonnen und versuchten zunächst zusammen, unserer Tochter zu helfen. Aber unsere Beziehung verschlechterte sich. Kinder spüren das, obwohl wir natürlich darum bemüht waren, es von ihr wegzuhalten. Wir haben nie laut gestritten, und vielleicht war das das Problem. Die Konflikte wurden nicht ausgesprochen, doch unserer Tochter blieben sie natürlich nicht verborgen. Sie sagte immer, dass bei uns viel mehr kaputt sei als bei ihr. Zu diesem Zeitpunkt hat sie eigentlich nach jedem Essen gebrochen. Meine Tochter brauchte ein Ventil, um den Druck abzulassen, der in unserer Familie herrschte.
Nach einiger Zeit fand Ihre Tochter ein anderes Ventil: Sie begann Münzen zu sortieren.
Meine Tochter fragte mich immer wieder nach Kleingeld, ich wusste nicht, was sie damit wollte. Irgendwann bemerkte ich, dass sie die Münzen in einer Box sammelte. Dann sah ich die Stapel in ihrem Zimmer. Deshalb heißt die Serie »Tesselate«. Das Wort bedeutet »etwas mosaikartig zusammenlegen«.
Wann fingen Sie an, diese Stapel zu fotografieren?
Das war vor vier Jahren, als mein Mann und ich uns trennten. Seitdem hat sich meine Tochter nicht mehr übergeben. Sie stapelte nur noch die Münzen. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass sie in Momenten stapelte, in denen ihr alles zu viel wurde.
Was bedeutete das Münzenstapeln für Ihre Tochter?
Bei ihrer Essstörung ging es sehr oft darum, etwas kontrollieren zu müssen, wenn die Umwelt für sie nicht kontrollierbar erschien. Das Sortieren war ein Coping-Mechanismus, um sich nicht selbst zu schaden, sondern etwas Außenstehendes zu kontrollieren und sich dadurch zu beruhigen. Es war ihre ganz persönliche Art der Selbsttherapie. Meine Selbsttherapie, um besser mit der Erkrankung meiner Tochter klarzukommen, waren wiederum die Fotos.
War Ihre Tochter einverstanden mit den Fotos?
Sie wusste zuerst nicht, dass diese sehr privaten Bilder existieren, ich habe die ersten davon heimlich aufgenommen. Für mich. Aber sie verstand schnell, dass es in der Fotostrecke um das Überwinden der Essstörung und das Finden von gesünderen Angewohnheiten geht, und das war für sie in Ordnung. Sie sah in den Fotos dann sogar die Möglichkeit, Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr, Hoffnung zu machen.
Wie geht es Ihrer Tochter heute?
Sie war zwei Jahre lang in therapeutischer Begleitung, jetzt ist sie 23 und es geht ihr gut. Vor zwei Jahren ist sie für das Studium weggezogen. Nach ein paar Monaten habe ich die Münzen wiedergefunden, sie sind mittlerweile in einer großen Tasche. Als sie zu Besuch war, fragte ich sie, ob sie die Münzen mitnehmen möchte. Sie sagte: Ja. Sie wollte die Münzen wieder bei sich haben. Ich versprach ihr, sie ihr bald mit dem Auto zu bringen, denn die Tasche war viel zu schwer für die Bahn. Letztendlich brachte ihr Vater ihr die Münzen.
Essstörungen sind eine ernstzunehmende und gefährliche Erkrankung. Silke Manz' Tochter hat zusätzlich zu ihrer individuellen Form der Selbsttherapie professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Sollten Sie selbst oder jemand in Ihrem Umfeld von Essstörungen betroffen sein, finden Sie hier professionelle Hilfe: ANAD (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) e.V.