Name: Mark Neville
Geburtsjahr: 1974
Wohnort: Kiew
Ausbildung: Kunststudium in Berkshire, London und Amsterdam,
Website: www.markneville.com
SZ-Magazin: Herr Neville, Sie sind am ersten Kriegstag nach Polen geflohen, jetzt sind Sie nach Kiew zurückgekehrt. Warum riskieren Sie dort Ihr Leben?
Mark Neville: Ich habe mehrere Gründe. Ich bin am 24. Februar in Kiew mit dem Geräusch von Explosionen aufgewacht und bekam dann einen Anruf eines Freundes, der in einem ukrainischen Ministerium arbeitet. Er warnte mich, dass es am Abend ein Raketenangriff auf das Haus des Präsidenten geben könnte. Ich wohne nur etwa 150 Meter von dem Haus entfernt, muss man wissen. Also sind meine Partnerin und ich mit vier anderen Leuten im Auto geflohen, nach Lwiw in der Westukraine. Dort waren wir eine Woche lang obdachlos, dann kamen wir über die Grenze nach Polen. Jetzt, wo meine Partnerin in Sicherheit ist, habe ich beschlossen, zurückzufahren und bei der Lieferung von medizinischen Hilfsgütern zu helfen. Und ich hatte den größten Teil meiner Kameraausrüstung, die ich in 20 Jahren zusammengekauft habe, in Kiew zurückgelassen, weil meine Kameras auf keinen Fall einem Menschen den Platz im Auto wegnehmen sollten. Außerdem ist meine Rückkehr ein »Fuck you« an Putin: Ich habe meine Heimat verloren, meine Freunde fühlen sich terrorisiert, ich fühle mich terrorisiert – und ich will eine eigenständige Ukraine. Das sind die Gründe, warum ich zurückgekehrt bin. Ich werde nur für ein paar Tage zurück sein, ein paar Fotos machen, Freunde besuchen und dann wieder nach Polen fahren.
Sind Sie sich sicher, dass es dann noch einen sicheren Korridor gibt, um Kiew zu verlassen?
Die Situation ist so dynamisch, dass man das nicht vorhersagen kann. Und russischen Angriffe sind wahllos. Manchmal sind es militärische Ziele, manchmal eindeutig zivile Ziele. Das fühlt sich an wie ein Völkermord, nicht wie ein Krieg.
Wie war die Rückkehr nach Kiew?
Es war emotional überwältigend. Kiew ist meine Heimat und das sind meine Leute. Es ist kaum jemand auf den Straßen, aber man kann noch Lebensmittel kaufen und einige Menschen gehen weiterhin zur Arbeit. Es haben sogar vereinzelt Cafés wieder geöffnet.
Sie sind Brite, haben in London gelebt, wie kamen sie überhaupt nach Kiew?
Als ich 2011 aus Afghanistan mit Posttraumatischer Belastungsstörung zurückkam, beschloss ich, ein Buch über das Thema zu machen. Aus heiterem Himmel bekam ich eine E-Mail von einem Militärkrankenhaus in Kiew, die fragten, ob ich eine Ausgabe auf Ukrainisch habe, weil sie viele traumatisierte Soldaten aus der Ostukraine behandelten. Ich beschloss, es übersetzen zu lassen und in die Ukraine zu fahren, 2015 war ich dort und habe mich einfach verliebt: in das Essen, die Menschen, die Geschichte.
Sie haben wenige Tage vor Kriegsbeginn einen Bildband veröffentlicht mit dem Titel Stop Tanks With Books, auf Deutsch »Stoppt Panzer mit Büchern«. Was kann ein Bildband gegen Putin ausrichten?
Ich wollte das Buch unbedingt vor dem drohenden Krieg herausbringen. Wir haben 750 Exemplare des Buches kostenlos an Politiker, Nato-Vertreter, internationale Medien und an jeden verschickt, von dem wir dachten, dass er der Ukraine irgendwie helfen könnte. Neben vielen Fotos stehen in meinem Buch auch Kurzgeschichten eines ukrainischen Schriftstellers darüber, wie es war, im russisch besetzten Donbas zu leben, als die Russen 2014 einmarschierten. Menschen wurden gefoltert, entführt, Häuser in Brand gesteckt, es ist wirklich brutal. Alles in meinem Buch sagt: Wir brauchen mehr Unterstützung, wir brauchen einen schnellen Beitritt zur Nato. Wir brauchen Schutz gegenüber Russland. Das ist jetzt offensichtlich – und das war es auch damals schon.
Warum kommt die Unterstützung erst jetzt?
Ich lebe seit etwa anderthalb Jahren in der Ukraine und wenn ich diesen Krieg kommen sehen konnte – und ich bin kein Militärstratege oder Politiker, sondern nur ein Typ mit einer Kamera –, dann können Sie sich sicher sein, dass viele andere Menschen in Europa ihn auch haben kommen sehen. Aber es war nicht in ihrem Interesse, etwas dagegen zu unternehmen. Und das andere Problem ist, dass die Medien viele der schrecklichen Mythen über das ukrainische Volk aufrechterhalten haben, die der Kreml verbreitete, zum Beispiel, dass die Ukraine ein faschistischer Staat sei. Das habe ich tatsächlich in großen britischen Zeitungen gelesen. Und das ist völliger Blödsinn. Ich meine, wir haben hier einen jüdischen Präsidenten, um Himmels Willen.
»Der Krieg hat jetzt begonnen, und jetzt ist der Zeitpunkt, um ihn zu stoppen«
Sie zeigen in Stop Tanks With Books Soldaten im Schützengraben, aber auch Menschen beim Baden, deren Welt noch intakt zu sein scheint.
Weil diese Menschen seit 2014 mit dem Krieg leben. Ich weiß noch, wie ich Bilder am Strand von Odessa gemacht habe. Es war so ein belebter Strand voller Menschen und sehr laut. Und dann flog plötzlich ein Militärhubschrauber über uns hinweg und alle wurden still. Sobald der Hubschrauber wieder weg war, verhielten sich die Menschen so, als wäre nichts passiert. Für mich ist das sinnbildlich für das Leben in der Ukraine: Die Menschen hier sind unverwüstlich und lassen sich nicht davon abhalten, ihr Leben zu leben. In der Ukraine habe ich Menschen getroffen, die alles verloren haben – und nicht ein einziges Mal hat mich einer von ihnen um etwas gebeten. Sie wollten mir nur eine Tasse Tee machen und mir ihre Geschichte erzählen.
Haben Sie noch Kontakt zu jemandem aus dem Buch, zum Beispiel zu der jungen Frau in Uniform?
Nein, habe ich nicht. Es bricht einem das Herz, wenn man diese Bilder sieht und sich denkt, was mit ihnen passiert. Und selbst wenn der Krieg heute beendet werden würde, wird das ganze Land über Generationen hinweg traumatisiert sein. Selbst wenn man überlebt, wird man nicht mehr derselbe Mensch sein. Ich, meine Partnerin und all meine Freunde werden nicht mehr dieselben sein. Im Alter von 55 Jahren muss ich im Grunde genommen nochmal bei Null anfangen. Aber für meine Kollegen in der Ukraine ist es noch schlimmer.
Verstehen Sie als Engländer die Angst der Briten oder Deutschen, direkt in die Kämpfe in der Ukraine verwickelt zu werden? Dass sie etwa gegen eine Flugverbotszone sind?
Wenn die Situation umgekehrt wäre, würden die Ukrainer den Deutschen sofort helfen, ohne Frage. Sie würden es für euch tun, das verspreche ich. Die Menschen in der Ukraine kämpfen für die Unabhängigkeit. Und das ist etwas, was wir im Westen vergessen haben. Wir halten alle unsere Freiheiten für selbstverständlich. Russland droht immer mit Atomwaffen. Sobald man anfängt, das zu glauben, lässt man den Kreml gewinnen. Mein Gefühl ist natürlich subjektiv, ich liebe die Ukraine, aber wenn Putin hier gewinnt, wird es nicht bei der Ukraine bleiben. Der Krieg hat jetzt begonnen, und jetzt ist der Zeitpunkt, um ihn zu stoppen.