Name: Florian Scheible
Geburtsjahr: 1992
Wohnort: Innsbruck
Ausbildung: Diplom Fotojournalismus der LIK Akademie, Wien
Website: www.florian-scheible.com
Herr Scheible, Sie haben in Odessa Menschen porträtiert, die am Rande des Kriegsgeschehens leben. Was hat Sie am meisten überrascht?
Florian Scheible: Wie entspannt viele Menschen zumindest auf den ersten Blick mit der Bedrohung umgehen. Spaziert man durch die Stadt, sieht man Leute, die den alltäglichsten Dingen nachgehen: Kaffee trinken, heiraten, studieren. Die Cafés und Bars haben wieder auf, die Sperrstunde wurde auf 23 Uhr nach hinten verschoben, die Menschen sitzen draußen, essen, trinken, genießen die Sonne, man sieht viele Sommerkleider. Gleichzeitig ist aber auch eine große Nervosität zu spüren.
Wie zeigt sich die?
Es gab zum Beispiel diesen Moment, da habe ich am Bahnhof ein Foto von einem Bus gemacht. Dann ist ein Auto mit ukrainischer Flagge vorbeigefahren, hat sofort angehalten, ich wurde auf den Presseausweis kontrolliert und gefragt, was ich da mache. Auch rund um die Oper und am Strand sind Fotos verboten. Die Angst ist groß, dass Informationen zum Gegner gelangen könnten.
Sieht man auch den Krieg in der Stadt?
Ja, Soldaten patrouillieren, es gibt Checkpoints, Panzersperren, außerhalb der Stadt auch Schützengräben. Der Strand ist komplett vermint und abgeriegelt, am Horizont liegen die russischen Kriegsschiffe und blockieren den Hafen von Odessa, seit der Annexion der Krim der wichtigste der Ukraine. Eigentlich fand ein Großteil des Lebens in Odessa am Strand statt, es gab Beachclubs, Cafés, Sport. Das ist jetzt weg. Die berühmte Oper in der Stadtmitte war lange abgeriegelt und ist immer noch mit Sandsäcken umstellt – nun haben die Musikerinnen und Musiker wieder angefangen zu spielen. Dazu kommen hunderte LKW, die darauf warten, ihre Ladung loszuwerden, was sie aber nicht können, weil der Hafen blockiert ist. Einige sind auch gezwungen stehenzubleiben, weil der Diesel so rar ist. Der ist fürs Militär reserviert. Und ständig ist Raketenalarm.
Zuletzt traf am Wochenende eine Rakete des Typs Tu-22 die Stadt, sechs Menschen seien dabei zu Schaden gekommen, teilte das ukrainische Wehrkommando Süd am Montag mit, ohne dass aus der Meldung hervorging, ob Menschen gestorben sind.
Ja, das habe ich auch gelesen. Zuvor war es lange ruhig, seit Mitte Mai etwa wurde kein Einschlag mehr berichtet. Auch in der Zeit, in der ich dort war, blieb es beim dauerhaften Alarm. Da schrillen dann einerseits die Heulsirenen in der Stadt, andererseits klingelt auf dem Handy die Alarm-App »Повітряна тривога«. Die ist immer online und geht los, sobald eine Rakete abgefeuert wurde. Das dauert dann so eine halbe Stunde, das Längste waren auch mal drei oder vier Stunden, dann erst folgte Entwarnung. Die Sache ist: Niemand reagiert mehr auf dieses Klingeln. Man sitzt im Café, plötzlich piepen die Handys, aber alle bleiben sitzen.
Sie auch?
Es war am Anfang schon sehr ungewöhnlich. Man spürt Panik, sieht aber die Gelassenheit der anderen. Es dauert etwas, bis man dem Drang zu widerstehen lernt, bei jedem Alarm in den Luftschutzbunker zu rennen. Aber man gewöhnt sich schließlich erschreckend schnell daran. Auch nachts klingelt die App regelmäßig, dann schreckt man hoch und kann nicht schlafen. Als ich die Ukrainer gefragt habe, wie sie Schlaf finden, haben viele gesagt: »Ganz einfach, du musst die App löschen.« Ich fand es erstaunlich, wie schnell der Mensch abstumpft und sich an so eine Ausnahmesituation anpasst.
Warum klingelt die App so häufig, aber es gibt kaum Einschläge? Odessa liegt sehr nahe an den umkämpften Gebieten, die Stadt Mykolajiw zum Beispiel ist nur rund 100 Kilometer entfernt, auch Cherson ist nicht weit. So wie mir das erklärt wurde, geht der Alarm los, sobald eine russische Rakete gestartet wurde – da ist aber noch nicht klar, wo die genau hinfliegt. In den letzten Wochen eben häufig nicht nach Odessa, jetzt doch wieder. Garantien für die Zukunft gibt es nicht, das macht die Situation eben so bizarr.
Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, Menschen in Odessa zu porträtieren?
Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ich lebe in Innsbruck, weit weg vom Krieg. Als der begann, Ende Februar, hatte ich das dringende Bedürfnis, etwas zu tun, zu helfen, ich konnte dem nicht teilnahmslos zusehen. Ich habe mich zuerst in Innsbruck engagiert, und als die ersten Geflüchteten ankamen, habe ich auch fotojournalistisch gearbeitet. Schon in den vergangenen Jahren hatte ich mich verstärkt mit dem Thema Flucht beschäftigt. Ich bin dann schnell auf die Hilfsbereitschaft der Menschen in Moldawien aufmerksam geworden, südlich der Ukraine. Eines der ärmsten Länder Europas, aber wahnsinnig hilfsbereit, die relativ zur Bevölkerung höchste Zahl ukrainischer Geflüchteter lebt dort. Und das alles ohne die gefestigten Strukturen, die wir in Deutschland oder Österreich aufgebaut haben.
Ihr Plan war also gar nicht, direkt in die Ukraine zu fahren?
Nein, anfangs nicht. Ich habe moldawische Familien porträtiert, die Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen hatten. In diesem Zug habe ich die Hilfsorganisation »Be an Angel« kennengelernt. Die sind mehrmals wöchentlich mit Bussen in die Ukraine gefahren und haben Menschen rausgeholt. An einem der Tage bin ich, um das fotografisch zu dokumentieren, mitgefahren und so zum ersten Mal nach Odessa gekommen, am Abend aber gleich wieder rausgefahren.
Warum sind Sie zurückgekehrt?
Ich hatte das Gefühl, diesen Krieg nicht zu verstehen, wenn ich nicht weiß, wie sich das Leben der Menschen anfühlt, die sich dagegen entschieden haben zu fliehen. Ich hatte einen russischsprachigen Bekannten, der mich nach Odessa mitgenommen hat. Ohne ihn hätte ich zum Beispiel gar nicht im Hostel schlafen können, dort werden derzeit nur Menschen aufgenommen, die den Besitzern bekannt sind. Die Angst vor russischen Spionen ist groß. Außerdem wusste ich: Ich kann mit der Hilfsorganisation jeder Zeit wieder herausfahren. Diese Sicherheit war mir wichtig.
Sie haben mit vielen Menschen in Odessa gesprochen. Was ist derzeit deren größte Sorge?
Es gibt Menschen, für die das Leben einigermaßen normal weitergeht. Studierende zum Beispiel haben weiter Vorlesungen, aber oft online statt in Präsenz. Einige Professorinnen und Lehrerinnen sind ja gar nicht mehr im Land. Für viele jedoch hat sich alles verändert, sie haben keine Arbeit mehr, haben Angst, dass das Geld bald knapp wird, Freunde und Familie sind geflohen. Eine junge Frau, Nastja, erzählte mir, das fühle sich fast ein bisschen an wie Sommerferien – nur dass nicht klar ist, wann die vorbei sind.
Sie haben in Odessa auch viele Männer porträtiert, die gerade nichts zu tun haben. Einen Seemann zum Beispiel, der wegen der Blockade des Hafens nicht auslaufen kann. Müsste der nicht eigentlich kämpfen?
Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen, aber einen Generaleinzug gibt es noch nicht. Es gibt da drei Phasen: In der ersten kämpfen nur Soldaten, in der zweiten alle Menschen mit einer militärischen Grundausbildung, und in der dritten folgt dann der Generaleinzug. In Odessa gilt aktuell Stufe eins.
Warten diese Menschen darauf, endlich kämpfen zu dürfen, oder sind sie froh, nicht an die Front zu müssen?
Richtig Lust zu kämpfen hatte niemand, den ich getroffen habe. Allen war bewusst, wie gefährlich das wäre, niemand will im Krieg sterben. Andererseits herrscht ein extremer Patriotismus, den ich so noch nie erlebt habe. Jeder sagt, er wolle für sein Land da sein und die Ukraine auf dem Weg zum Sieg unterstützen. Und wenn es soweit kommt, würden wohl auch die meisten zur Waffe greifen.
Haben Sie ein Beispiel für diesen Patriotismus?
Odessa ist die Stadt der Katzen, die streunen überall herum. Seit dem Krieg gibt es nun überall ähnliche Wandgemälde von einem Künstlerkollektiv, die nennen das »patriotische Katzen«. Es gibt Soldaten-Katzen, Asovstal-Katzen, Godzilla-Katzen, die russische Flugzeuge vom Himmel holen. Ich habe die Künstler nach dem Zusammenhang zwischen Kunst und Patriotismus gefragt, aber die haben diese Frage gar nicht verstanden: Für sie war es selbstverständlich, dass Kunst in diesen Zeiten patriotisch sein muss. Wenn sie nicht die Wände besprühen, malt das Kollektiv gespendete Zivilfahrzeuge in Militärfarben an.
Haben Sie das Gefühl, in Deutschland und Österreich kommt noch an, wie dramatisch die Lage in der Ukraine ist?
Als ich zurück kam und feststellte, dass es für die Menschen hier schon wieder andere Themen gibt, fand ich das anfangs schwierig einzuordnen. Aber irgendwie ist es verständlich, das Leben geht eben weiter. Was mir auffiel: Meist sehen wir in den Medien nur Bilder von großer Zerstörung und Elend. Was ein Krieg indirekt mit der Bevölkerung macht, wie er sich auswirkt auf das tägliche Leben, wissen viele nicht.