Name: Luigi Avantaggiato
Geburtsjahr: 1984
Wohnort: Rom
Ausbildung: Promotion in Visuellen Studien
Website: https://www.luigiavantaggiato.photography/
SZ-Magazin: In den Alpen gibt es viele Gletscher, Sie haben sich dazu entschieden, den Ghiacciaio dei Forni zu porträtieren. Warum?
Luigi Avantaggiato: Ich habe in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe verschiedener Gletscher besucht und fotografiert. Manche sind bereits weggeschmolzen, andere werden es bald sein. Am spannendsten fand ich bei meinen Recherchen die Eisströme, die nicht abgeschieden liegen, sondern in der Nähe der Zivilisation. Wo also Interaktion stattfindet zwischen Mensch und Eis, wo sogar eine Abhängigkeit besteht. Sei es, weil dort Ski gefahren wird, weil der Gletscher ein Touristenmagnet ist oder weil die dort lebenden Bauern auf das Schmelzwasser angewiesen ist. Im Forni-Tal kann man diese Abhängigkeit ganz besonders gut beobachten.
Wieviel Zeit haben Sie auf dem Eis verbracht?
Ich war zehn Tage in Valfurva, dem Talort. Von dort bin ich immer wieder aufgebrochen, um den Forni-Gletscher in seiner Gänze zu fotografieren. Obwohl er stirbt, ist er noch immer einer der größten Italiens, mit einer Fläche von elf Quadratkilometern. Der Forni-Gletscher entsteht auf knapp viertausend Metern Meereshöhe oben am Ortler, einem der bedeutendsten Berge der Alpen. Mit Cevedale, Sforzellina und Gran Zebrù liegen außerdem weitere wunderschöne Berge in direkter Umgebung. Früher war Valfurva unten im Tal bekannt für seinen gigantischen Blick auf diese vereiste Traumwelt. Für Touristen war das ein Grund, hierher zu kommen. Nun schwindet der Gletscher – und die Menschen vor Ort fürchten, dass damit auch die Bedeutung ihres Orts verloren geht.
Was genau droht den Menschen in diesen Regionen durch den Klimawandel?
Es gibt bereits Studien, die beschreiben, wie sich der Klimawandel auf Skigebiete und alpine Sportanlagen auswirkt. Einige ziehen nun in höhere Lagen, andere haben schon geschlossen. Der Tourismus im Forni-Tal hat bereits messbar abgenommen. Der Rückzug des Forni-Gletschers bereitet den umliegenden Gemeinden dazu Probleme, weil das Wasser in den Flüssen zugenommen hat und Schutt flussabwärts transportiert. Die Trockenheit der vergangenen Sommer hat zudem dazu geführt, dass das natürliche Futter für die Kühe knapp wird, die Landwirtschaft steht also vor Problemen. Es ist eine Gemengelage aus ganz verschiedenen Veränderungen, die dazu führt, dass diese Orte auf lange Sicht nicht mehr dieselben sein werden.
Was ist die technische Schwierigkeit, wenn man einen Gletscher porträtiert?
Ein Gletscher ist eine tückische Umgebung voll tiefer, lebensgefährlicher Spalten im Eis und einem Boden, von dem man nie sicher weiß, ob er einen trägt. Darum läuft man darauf nur gesichert am Seil. Dazu kommt: Da das Eis stark reflektiert, muss man aufpassen, dass die Fotos nicht überbelichtet aussehen.
Spüren Sie eine emotionale Verbindung zum Gletscher, jetzt, wo Sie dort waren?
Wenn man auf dem Eis unterwegs ist, wirkt es ewig. Es scheint unvorstellbar, dass diese Naturgewalt ein Verfallsdatum hat. Aber dann hören Sie von Experten, dass das Abtauen des Eises bereits heute irreversibel ist. Es ist schwer zu akzeptieren, dass eine so erhabene Schönheit wegen des Menschen vollständig verschwinden wird. Das macht mich auch wütend: Wir sind mitverantwortlich für diese Beschleunigung und können uns bis heute nicht einigen auf konkrete und wirkungsvolle Maßnahmen zur Schadensbegrenzung.
In alpinen Sagen wurden Gletscher oft als Drachen beschrieben, lebendige, furchteinflößende Riesenkreaturen. Für Sie verständlich?
Ja. Glaziologische Studien erzählen von Eiszeiten, in denen die Gletscher wuchsen und sich wieder verkleinerten – und dabei deutliche Spuren in der Landschaft und in der visuellen Wahrnehmung der Orte um sie herum hinterließen. Da kann man durchaus auf den Gedanken kommen, der Gletscher habe mal gelebt. In der Geschichte der Naturmalerei haben die Gletscher ja auch eine prägende Rolle eingenommen, ich denke zum Beispiel an den schweizerischen Künstler Caspar Wolf im 18. Jahrhundert, dessen Naturbilder zu Ikonen geworden sind. Das zeigt schon: Gletscher spielen in unserem historischen und kulturellen Gedächtnis eine wichtige Rolle – dass sie verschwinden, ist umso tragischer.
Sie haben auch mit Glaziologen gesprochen. Gibt es keine Chance, diese Gletscher zu retten?
Viele klimatologische Studien und Datenanalysen mit Vorhersagemodellen sagen den fast vollständigen Rückzug der Alpengletscher vorher. Unter 2500 Metern Höhe ist das eine klare Sache, darüber kommt es darauf an, wie stark die Erde sich letztendlich erhitzt. Ein paar Zehntelgrad machen da schon einen Unterschied.
Gletscher stellt man sich etwas klischeehaft tiefblau oder kristallklar vor, Ihre Fotos zeigen oftmals schwarze Schutthalden auf dem Eis. Gibt es eine Erklärung dafür?
Mit dem Eis schwindet auch der Permafrost, der die Felsen zusammenhält, die den Gletscher umgeben. In der Folge beginnt der Fels zu bröckeln, der erodierte Schutt kommt auf dem Eis zum Liegen. Außerdem erscheint durch das Tauen des Eises das darin eingeschlossene Material an der Oberfläche. Das Ergebnis ist eine geschwärzte Schicht aus Staub, Schlamm und Schadstoffen oben auf dem Eis. Ironischerweise beschleunigt das die Schmelzprozesse noch weiter, weil der Schutt Wärme speichert und an das darunterliegende Eis abgibt. Rein fotografisch fand ich die Gletscher schwarz und dreckig aber faszinierend, darin spiegeln sich die traurigen und schmutzigen Prozesse gut, die dort vor sich gehen. Für diesen Schmutz sind wir mitverantwortlich.
Sind Ihnen auf dem Eis Touristen begegnet?
Ja, zwei Sorten. Da gibt es die unerfahrenen, die zur Ablationszunge des Gletschers kommen, also ganz unten auf dem Eis herumspazieren. Viele wissen gar nicht, was mit dem Untergrund geschieht, auf dem sie stehen. Und die Erfahrenen, die mit Bergführern den Gletscher entlang nach oben wandern und genau wissen, was vor sich geht. Die kommen gerade, weil sie wissen, dass die Existenz der Gletscher endlich ist und sie noch das Glück haben, einen aus der Nähe sehen zu dürfen.
In Island wurde ein Gletscher schon zeremoniell beerdigt.
Eine traurige, aber auch schöne Geste. Auch in den Alpen, auf dem Pizol, gab es eine Beerdigung. Ich finde diese Begräbnisse als Geste wichtig, um das Bewusstsein der Menschen für den Klimawandel zu schärfen.
Wie sieht das Forni-Tal in 50 Jahren aus?
In fünfzig Jahren wird nur noch sehr wenig vom Gletscher übrig bleiben. Von unten im Tal wird er gar nicht mehr sichtbar sein am Horizont, so wie es jetzt noch der Fall ist. Stattdessen werden entlang der Gletscherzunge Pflanzen und Bäume wachsen und die Vegetation wird immer höher steigen und die Gegenden erobern, die heute noch vereist sind. Die Welt dort oben wird eine andere sein.