Vor einem halben Jahr wurde Henriette Reker von den Kölnern zu ihrer Oberbürgermeisterin gewählt. Und ebenso lange ist es her, dass sie ganz Deutschland bekannt wurde. Als Politikerin, die im Wahlkampf von einem Rechtsradikalen niedergestochen wurde. Mit einem Messer durchtrennte er Rekers Luftröhre, die Politikerin überlebte damals nur knapp. Der Mann, dem ab Mitte April in Düsseldorf der Prozess gemacht wird, gab noch am Tatort an, er habe Reker töten wollen. Die Frau, die sich immer positiv gegenüber Flüchtlingen geäußert hatte. Die für eine Willkommenskultur stand , sie wollte er treffen – und mit ihr die Werte dieser Gesellschaft.
Als ich Henriette Reker das erste Mal begegne, ist es November. Einen Monat nach dem Attentat. Als sie ihren ersten Termin im Rathaus wahrnimmt, ist nicht klar, wie sie mit diesem Angriff umgehen wird. Ist sie jetzt verängstigt, meidet sie Menschenansammlungen, hat sie Probleme mit Nähe? »Nein«, sagt sie selbst an diesem Abend. Sie steht im Atrium des historischen Rathauses in Köln, ein geblümtes Seidentuch im Blazer verdeckt die Wunde am Hals, ansonsten ist Reker wie immer. Sie freue sich, wieder unter Menschen zu sein. Schon in ihrer ersten Pressemitteilung, die sie noch aus dem Krankenhaus heraus veröffentlichte, hatte sie den Kölnern versichert, sie wolle weiterhin so offen und unvoreingenommen an sie herantreten wie früher.
Und trotzdem hat sich etwas geändert: Reker hält sehr wohl Distanz. Nicht körperlich, aber inhaltlich. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit macht sie klar, sie wolle jetzt nicht für immer die mit dem Attentat sein. Sie wolle vor allem die Oberbürgermeisterin sein. Amtsinhaberin, oberste Verwaltungschefin, in Ruhe arbeiten.
»Das sage ich als Stadt«, schickt sie häufig ihren Ausführungen hinterher. Damit es auch jeder so versteht wie sie es meint: Hier spricht die OB, nicht der Mensch. Henriette Reker selbst möchte am liebsten völlig in den Hintergrund treten.
»Darlingheart«, hatte ihr Mann sie vor alldem gefragt – so nennt der Australier sie –, »bist du dir sicher, dass du die nächsten zehn Jahre, deine letzten guten Jahre für diesen Aufgabe aufwenden willst?« Reker ist 59, nach einer zweiten Amtszeit wäre sie beinahe 70. Sie sagte damals trotzdem ja. Sie stellt sich selbst auch mal hinten an, so scheint es.
Ironischerweise rückt Reker, die am liebsten untertauchen will, schon bald wieder Deutschlandweit in den Fokus: als die mit der Armlänge. Frauen hielten zu potenziellen Gewalttätern am Besten ein bisschen Abstand, sagte sie auf einer Pressekonferenz nur fünf Tage nach den Übergriffen auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz. Und Deutschland fragt sich: Wie kann sie nur so ungeschickt formulieren? Reker erklärte danach, sie habe aus einer Broschüre der Stadt zitiert. Wieder ein Fall von »Das sage ich als Stadt«. Diesmal ist ihre Zurückhaltung ein echtes Problem.
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Foto: dpa