»Wir könnten ein Vorbild sein«

Als im Sommer im Istanbuler Gezi-Park die Steine flogen, zeigte sich die Türkei als gespaltene Nation. Auf der einen Seite religiöse Traditionalisten, auf der anderen junge Menschen, die sich als Europäer sehen. Wir haben die verfeindeten Lager an einem Tisch versammelt, um mit ihnen über die Schönheit ihrer Heimat und die Brisanz der Lage zu reden.

Das gesamte Interview gibt es auch auf Türkisch - in unserer App für Smartphone oder Tablet: www.sueddeutsche.de/istanbul

Istanbul, Ende September. Im Gezi-Park spielen Kinder. Die Blumenbeete sind frisch geharkt. Nur eine Gruppe Polizisten, die auf dem angrenzenden Taksim-Platz in der Sonne stehen – manche mit Plexiglasschutzschilden in der Hand, andere mit Maschinenpistolen – erinnert an das, was hier im Sommer geschehen ist: Zehntausende Menschen, die gegen die Politik des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gegangen sind. Als Antwort schickte die Regierung Wasserwerfer, die Luft war vernebelt vom Tränengas. Mindestens sechs Menschen sind während der Proteste, die bald das ganze Land ergriffen, ums Leben gekommen, der letzte am 10. September. Die Türkei scheint seitdem ein gespaltenes Land zu sein: Auf der einen Seite die jungen Demonstranten, auf der anderen die konservativen, religiösen Anhänger der Regierungspartei AKP. Es geht längst nicht mehr um einen Park, auf dessen Gelände eine Shopping-Mall gebaut werden sollte, sondern um die Zukunft der Türkei. Immer wieder kommt es zu Demonstrationen, auch in diesen Tagen. Und nirgends werden die Konflikte so offensichtlich wie in Istanbul – der Stadt, die in den vergangenen Jahren zu einer der angesagtesten Metropolen der Welt wurde, berühmt für ihre Kultur zwischen Nachtleben und Tradition.

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Zu unserem Gespräch haben wir Konservative und Liberale eingeladen, die gewöhnlich nur übereinander reden, aber fast nie miteinander. Dazu Architekten, Schauspieler, Musiker, die die Kultur von Istanbul prägen. Der Treffpunkt: ein herrschaftliches Istanbuler Stadthaus aus dem Jahr 1908 in der Suriye Passage, direkt an der berühmten Istiklal, der Einkaufs- und Ausgehstraße Istanbuls. Es ist 16 Uhr, Tee in Tulpengläsern wird serviert, als Nihal Bengisu Karaca den Raum betritt. Karaca ist eine der bekanntesten Kolumnistinnen der Türkei. Sie trägt Kopftuch und verteidigt die Politik der AKP. Für die Gezi-Demonstranten ist sie eine Reizfigur; auf Twitter folgen ihr mehr als 200 000 Menschen. Sie legt ein kleines iPad und ein iPhone auf den Tisch, mit dem auch sie unser Gespräch aufnehmen wird.

SZ-Magazin: Frau Karaca, wir freuen uns, dass Sie gekommen sind, auch weil es nicht leicht war, Gäste zu finden, die bereit sind, sich mit politischen Gegnern an einen Tisch zu setzen. Warum ist das so?

Nihal Bengisu Karaca: Weil die Geschehnisse noch sehr frisch sind. Die Türkei wird seit elf Jahren von der AKP regiert. Diese Partei hat die Wahlen jedes Mal mit einer erdrückenden Mehrheit gewonnen. Auf der anderen Seite gibt es viele Leute, die sich von Ministerpräsident Erdogan nicht gut vertreten fühlen. Diese Gruppe macht aber, verglichen mit den AKP-Wählern, den kleineren Teil der türkischen Gesellschaft aus. Sie hat eine andere Weltanschauung, eine andere Lebensweise als die Mehrheit. Und nun haben diese Menschen begriffen, dass sie durch Wahlen nicht an die Macht kommen werden. Meiner Meinung nach erleben sie gerade das Trauma dieser Erkenntnis.

Wenn die Gezi-Demonstranten eine Minderheit sind, wie Sie es behaupten, sehen Sie es dann mit Sorge, dass die Protestler im Ausland, in Deutschland zum Beispiel, dennoch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen?
Karaca:
Wir wissen das, und es überrascht uns nicht. Die westlichen Medien erkennen in den Demonstranten Menschen, die wie sie leben. Darüber hinaus ist die AKP eine Partei, in deren Vergangenheit Islamismus eine Rolle gespielt hat. Diese Partei hat sich früher einmal Mühe gegeben, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, aber heutzutage bemüht sie sich mehr um die Länder des Nahen Ostens. Die Menschen, die in den vergangenen Monaten auf den Plätzen zusammengekommen sind, sind moderne Menschen, die sich den westlichen Werten näher fühlen und nach diesen Werten leben. Sie nennen das »Freiheit«. Und sie nennen Erdogan einen Diktator. Und ob sie es wollten oder nicht: Dies hat leider dazu geführt, dass die westliche Intelligenzija und die westlichen Medien sofort das islamophobe Vorurteil aus dem Regal geholt haben.

Haben Sie sich die Proteste rund um den Gezi-Park einmal angesehen?
Karaca: Selbstverständlich. Sie wissen sicher, dass es zu Beginn nur darum ging, ob auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum gebaut wird. Damals war auch ich der Meinung, der Park solle erhalten bleiben. Ich habe auf Twitter geschrieben: »Teure Taschen sind nur Gegenstände, aber Bäume sind Lebewesen.«

Wie kam es dann zur Differenz mit den Demonstranten?
Karaca:
Vorab muss ich sagen: Es stimmt, dass die Polizei intensiv Tränengas eingesetzt hat, auch ich habe das kritisiert. Aber auf Twitter verbreiteten sich Meldungen, dass es in Istanbul 500 Tote gegeben habe, als noch niemand gestorben war. Viele Berichte waren total übertrieben. Und bald stand überall an den Häuserwänden: »Tayyip, der Hurensohn.«

Damit ist Tayyip Erdogan gemeint. Seine Worte waren aber auch hart. Er hat die Demonstranten »Terroristen« genannt.
Karaca: Er hat dieses Wort sehr viel später benutzt. Aber aus ihm machten die Demonstranten sofort einen Diktator. Sie verglichen ihn mit Assad, der hunderttausend Menschen umgebracht hat. Auf einmal sprachen alle vom »türkischen Frühling«, von einer »Revolution«. Aber die Mehrheit der Türken glaubt nicht, dass wir ein derart großes Demokratie-Problem haben, das solch einen Volksaufstand erfordert.

Sie erwähnen immer wieder Twitter und sind dort auch sehr aktiv. Im Westen hat man den Eindruck, dass diese neuen Techniken eher von Seiten der Demonstranten genutzt werden.

Karaca: In der Geschichte der Konservativen und Religiösen in der Türkei gibt es eine Formel, wie wir uns zum Westen verhalten: Wir übernehmen ihre Wissenschaft und ihre Technologien, aber nicht ihre Kultur! (Sie lacht.)

In den Debatten um die Proteste spielen immer wieder Verschwörungstheorien eine große Rolle. Eine der verrücktesten hat Yigit Bulut in die Welt gesetzt, immerhin der aktuelle Chef-Berater von Erdogan. Er mutmaßte, dass fremde Mächte den Ministerpräsidenten durch Telekinese töten wollten. Können Sie verstehen, dass so eine Argumentation viele Menschen wütend macht?
Karaca: Ich weiß nicht, in welchem Sinne Bulut diesen Begriff genau benutzt hat. Im Sommer hatten die Demonstranten jedenfalls den Vorsatz gefasst, die Regierung zu stürzen. Dazu kam die Unterstützung durch den Westen, und diese Koalition aus in- und ausländischen Kräften führte dazu, dass viele Bürger der Türkei das Gefühl bekamen, Erdogan sei umzingelt und bedroht. Vielleicht hat Bulut dieses Gefühl in Szene setzen wollen.

16.45 Uhr. Can Öz kommt mit schnellen Schritten in den Raum. Er trägt einen schwarzen, eng geschnittenen Anzug, darunter ein weißes Hemd, der oberste Knopf ist offen. Öz, 33, hat in den USA studiert und leitet nun einen der bedeutendsten Literaturverlage der Türkei. Er publiziert Albert Camus und Daniel Kehlmann auf Türkisch. Als er gehört hat, dass Nihal Bengisu Karaca mit am Tisch sein würde, wollte er zuerst nicht kommen. Er ist in der Protestbewegung engagiert. Genau wie Tatli Tuncel, die sich nun auch zu uns setzt. Sie ist 24, studiert in Istanbul Biologie. Bei den Gezi-Protesten war sie fast vom ersten Tag dabei und hat im Park gezeltet.

Wir haben gerade über die zunehmende Polarisierung in der türkischen Gesellschaft gesprochen, nehmen Sie die auch wahr?
Can Öz: Ja, die Regierung spricht immer von »wir« und »die«: wir, die religiösen Leute, und die anderen, die Gegner. Die AKP versucht die Gezi-Proteste so darzustellen, als seien sie gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gerichtet. Aber das stimmt nicht. Die Proteste sind für das Volk und gegen die Regierung.
Tatli Tuncel: Eine Polarisierung zwischen AKP-Wählern und AKP-Gegnern sehe ich auch. Aber ich glaube nicht, dass die Gezi-Proteste die Religiösen und die Nicht-Religiösen weiter auseinandergebracht haben. Bei uns im Protestcamp gab es viele Frauen mit Kopftuch und Männer mit langen Bärten. Sie hatten eine Gebetsecke. Aber sie haben auch mit den Leuten von der Lesben- und-Schwulen-Vereinigung zusammengearbeitet. Solche schönen Annäherungen hat es gegeben. Im Ramadan haben wir gemeinsam das Fastenbrechen gefeiert: Wir saßen auf dem Boden an einer langen Tafel, auf Decken und Tüchern die ganze Istiklal hinunter, Hunderte von Metern entlang. Gläubige und Nicht-Gläubige Seite an Seite.
Karaca: Was Tatli hier erzählt, entspricht allerdings nicht dem üblichen Religionsverständnis. Es ist wichtig, dass die deutschen Journalisten am Tisch das wissen. Beim Fastenbrechen dürfen Gläubige nicht mit biertrinkenden Nicht-Gläubigen an einer Tafel sitzen. Wenn wir über Religion reden, sprechen wir über einen Bereich, der Regeln hat. Die Muslime, die an Gezi-Demonstrationen teilgenommen haben, hatten mit unserem allgemeinen Religionsverständnis nichts zu tun.
Tuncel: Ich möchte noch etwas allgemein zum Protestcamp im Juni sagen: Es war ein vollkommen anderer Ort als das Istanbul, das wir kennen. Normalerweise gehen die Leute in dieser überfüllten Stadt nicht besonders nett miteinander um. Vor allem bei großen Menschenansammlungen kommt es oft zu sexuellen Belästigungen, Silvester auf dem Taksim-Platz zum Beispiel, aber auch in Bussen passiert es andauernd. Es ist nicht leicht, in der Türkei eine Frau zu sein. Im Gezi-Park war das alles anders. Ich habe keinen Chauvinismus, keinen sozialen Druck erlebt. Es kamen Türken, Kurden, Schwule, und jeder war nett zu den anderen, jeder lächelte. Es fühlte sich an wie eine neue Gesellschaft.

17.15 Uhr. Nihal Bengisu Karaca nimmt ihr iPad vom Tisch und verlässt die Runde. Sie muss zu einem Fernsehinterview. Auf ihren Platz setzt sich Evrim Tüfekcioglu, 38. Sie betreibt mehrere Techno-Clubs in Istanbul und legt als DJ auf. Ihre Haare trägt sie kurz. Auch sie hat auf dem Taksim-Platz demonstriert. Vorher wurde am Tisch türkisch gesprochen, ab jetzt reden wir englisch.

Frau Tüfekcioglu, nun ist Frau Karaca gerade gegangen. Haben Sie sich mal mit Leuten, die die AKP verteidigen, ausgetauscht?
Evrim Tüfekcioglu: Einer meiner Vermieter unterstützt die AKP, aber wir reden nicht über Politik, wir haben eine reine Geschäftsbeziehung. Ihm gehört ein Gelände in Nordistanbul, am Schwarzen Meer. Wir haben es von ihm gepachtet und dort einen Open-Air-Club aufgemacht; man kann am Strand unter freiem Himmel tanzen. Und natürlich sieht mein Vermieter, was bei uns im Club passiert: Nicht nur dass Alkohol getrunken wird; wir haben an die Bars auch überall Regenbogen gemalt, ein Symbol der Gezi-Proteste. Und wir haben eine Nebelmaschine, eine ziemlich große, und wenn wir die auf dem Höhepunkt einer Party anmachen, dann jubeln alle Leute und schreien die berühmten Protest-Slogans, »Taksim ist überall!«, weil der Nebel an das Tränengas erinnert.
Öz: Eigentlich könnte unser Land ein fantastisches Beispiel dafür sein, wie Menschen mit verschiedenen Lebenseinstellungen miteinander auskommen.

Wie haben Ihre Eltern, die vermutlich konservativer sind, reagiert, als Sie sich der Protestbewegung angeschlossen haben?
Öz:
Mit meiner Mutter war es lustig! Sie wusste, dass ich bei den Demonstrationen mitmache und hatte wahnsinnige Angst um mich. Also hat sie mich jeden Tag auf meinem Handy angerufen und mir eingebläut: »Stell dich ganz nach hinten, okay?« Ich war meistens in der Mitte des Demonstrationszuges, habe ihr aber natürlich trotzdem versichert: »Natürlich, ich stehe ganz hinten.«
Tuncel: Das haben wir alle unseren Eltern gesagt.
Öz: An einem besonders schlimmen Tag, als uns die Polizei gerade durch die Straßen gejagt hat und überall Tränengas war, sehe ich, dass sie mich wieder anruft. Diesmal konnte ich ihr nichts mehr vormachen. Ich gehe also ran und will beichten, was gerade los ist, meine Mutter aber, die in Izmir wohnt, sagt: »Can, ich bin auch auf der Straße, und wir demonstrieren. Was soll ich rufen?« Und ich: »Was? Wo bist du? Pass bloß auf und geh ganz nach hinten!« Und sie: »Nein, nein, das mache ich nicht.« Es hat sie wütend gemacht, was in unserem Land passiert. Ein paar Tage später, als die Polizei wieder sehr brutal gegen Demonstranten vorgegangen ist, hat sie mir Fotos geschickt, wie sie mit dreißig Protestlern in ihrem Haus sitzt, sie hatte ihnen Zuflucht gewährt. Sie ist 69 Jahre alt.

Herr Öz, Ihr Vater war ein berühmter, linker Schriftsteller. Anfang der Siebzigerjahre, als sich das Militär in der Türkei an die Macht geputscht hatte, wurde er verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Erinnern Sie seine Geschichten an die aktuelle Situation in der Türkei?

Öz: Nein. Seine Geschichten klangen brutaler, aber auch hoffnungsvoller. Die AKP ist nicht so aggressiv wie das Militär damals. Sie lässt niemanden töten, zumindest noch nicht. Trotzdem haben wir weniger Hoffnung. Das Militär damals hat geputscht. Das bedeutete auch, dass es irgendwann die Macht wieder abgibt. Die AKP ist hier, um zu bleiben.

Schlägt sich das, was Sie gerade in Ihrem Land erleben, auf das Programm Ihres Verlags nieder?
Öz:
Ja, wir werden uns auf Sachbücher konzentrieren zu aktuellen Themen. Zuvor waren wir ein reiner Literaturverlag.

»Was wir aber gerade erleben, ist auf jeden Fall die Verkörperung einer konservativen Politik, die wir so nicht erwartet haben.«


Frau Tüfekcioglu, Sie kennen das Istanbuler Nachtleben seit fast zwanzig Jahren. Verändert sich auch das gerade?
Tüfekcioglu: Ja, die vielen Verbote drohen es kaputt zu machen. Einerseits ist Istanbul eine angesagte Stadt, in die viele junge Leute reisen, um Spaß zu haben. Andererseits müssen die meisten Bars und Clubs nach ein paar Monaten wieder zumachen. Alkohol ist wegen der Steuern hier so teuer, dass man keine Party ohne Sponsoren auf die Beine stellen kann. Eine Zeit lang lief das sehr gut. Wir haben bis zu 100 000 Euro von Carlsberg oder Winston für eine Veranstaltung bekommen, ein großes Festival zum Beispiel. Aber dann hat die AKP das Sponsoring eingeschränkt. Erst durfte keine Zigaretten- und Alkoholwerbung mehr auf Partys gemacht werden. Neuerdings ist es verboten, einen Kühlschrank aufzustellen, auf dem das Label einer Biermarke zu sehen ist. Ich habe sogar gehört, dass sie darüber nachdenken, Alkoholflaschen von der Bar zu verbannen. Man darf die Flaschen dann nicht mehr für die Gäste sichtbar ins Regal stellen, sondern muss sie im Schrank aufbewahren. Das ist doch verrückt!

Wie sind Sie zu Ihren Clubs gekommen?
Tüfekcioglu: Das war ein langer Weg, eigentlich habe ich Radio und Fernsehen studiert, in Izmir, meine Eltern stammen von dort und sind ultraliberal. Nach dem Studium habe ich erst für einen lokalen TV-Sender gearbeitet. Wir haben mit versteckter Kamera einen Beitrag gedreht über Polizisten, die bei unerlaubten Glücksspielen mitmachen – danach wurde ich gefeuert. Ich bin nach Istanbul gezogen, habe irgendwann einen Job in einem Club bekommen und 2006 dann mit einem Partner eine Karaoke-Bar direkt am Taksim-Platz übernommen. Die Bar hatte schon eine Alkohollizenz, das war unser Glück, denn es gibt inzwischen verschiedene Regeln: Die Bar darf nicht näher als 100 Meter an einer Moschee sein, und nicht näher als 100 Meter an einer Schule, sonst verliert sie ihre Alkoholkonzession.

Und aus der Karaoke-Bar wurde dann ein Techno-Club?
Tüfekcioglu:
Ja, das »Wake Up Call«. Der Name ist auch politisch gemeint, ein Weckruf an die jungen Leute. Wir engagieren uns für Frauenrechte und die Rechte Homosexueller. Noch etwas fällt mir gerade ein: In der Türkei darf ab jetzt nach 22 Uhr kein Alkohol mehr in Kiosken verkauft werden. Was soll das? Was, wenn ich um 23 Uhr ein Bier trinken will?

18.15 Uhr. Can Öz verlässt die Runde, kurz darauf kommen Akif Beki, von 2005 bis 2009 Regierungssprecher von Ministerpräsident Erdogan, und der Harvard-Absolvent und Wirtschaftsexperte Emre Deliveli. Beki, 42, hat auch ein Buch über Erdogan geschrieben, in dem er dessen Sprache analysiert. Derzeit ist er Kolumnist bei der Zeitung »Hürriyet«. Der 38-jährige Deliveli war Ökonom bei einer großen türkischen Bank; heute ist er Unternehmer und angriffslustiger, äußerst produktiver Blogger zu Wirtschaftsthemen.

Herr Beki, wir reden gerade über das Alkoholverbot in Kiosken nach 22 Uhr.

Akif Beki: Es ist kein Verbot. Wir wollen den Alkoholkonsum nur regulieren. Das tut doch jeder Staat, nicht nur die Türkei. Ich glaube, wir haben es zuallererst mit einem Problem der Sprache zu tun. Die Worte, die im Zusammenhang mit der Alkoholregulierung von Regierungsseite gefallen sind, waren unangebracht.

Sie meinen, dass Erdogan den Staatsgründer Atatürk und die alkoholtrinkende Bevölkerung der Türkei als »Säufer« und »Penner« bezeichnet hat?
Beki: Ja, es ist nicht gut, wenn man als Staatschef seine Bevölkerung so nennt.
Tüfekcioglu: Vor Kurzem hat Erdogan in einer Fernsehdiskussion gesagt: Wer ein Glas Wein in der Woche trinkt, ist ein Alkoholiker. Ich meine, was soll das?
Beki: Das stimmt, er kann sich nicht darüber erheben und entscheiden, wer ein Alkoholiker ist und wer nicht.
Emre Deliveli: Kann ich kurz was anmerken? Man muss sich einmal die Statistiken zum Alkoholkonsum in der Türkei ansehen, die sind sehr gut erfasst. (Er tippt auf seinem Smartphone herum.) Hier habe ich ein paar aktuelle Zahlen parat, vom nationalen Statistik-Institut: Achtzig Prozent aller Türken haben laut Umfragen noch nie Alkohol getrunken! Weniger als ein Prozent der Bevölkerung trinkt jeden Tag Alkohol, und auch nur wenige Prozent einmal in der Woche.

Achtzig Prozent! Das ist kaum zu glauben.

Deliveli: Die Zahlen mögen nicht vollkommen verlässlich sein. Aber wir haben definitiv kein Alkoholproblem in der Türkei. Warum will Erdogan das Verbot also durchsetzen?
Beki:
Es ist kein Verbot.
Deliveli: Gut, also die Alkoholbeschränkung. Offiziell wird gesagt, dass Alkohol ein kollektives Gesundheitsproblem verursache. Das ist falsch, weil fast niemand trinkt. Dann heißt es, unter Alkoholeinfluss würden viele Verkehrsunfälle passieren. Dazu hab ich auch ein paar Zahlen mitgebracht. (Er sucht wieder nach einer Website in seinem Telefon.) 2012 hatten wir 134 715 Verkehrsunfälle in der Türkei. 1819 davon waren durch Alkohol verursacht, also nur eineinhalb Prozent. Das ist nichts. Als dritten Grund nennt Erdogan die erhöhte Kriminalitätsrate durch Alkohol. Auch die habe ich mir von verschiedenen Städten angesehen und mit den regionalen Statistiken zum Alkoholkonsum verglichen. Ergebnis: absolut kein Zusammenhang.
Beki: Das kann schon sein, dass es kein soziales Alkoholproblem in der Türkei gibt. Dennoch hat der Staat doch das Recht, den Alkoholkonsum im Land zu regulieren.

Herr Beki, als Sie Erdogans Berater waren, hat er da auf Sie gehört?
Beki:
Doch, das würde ich schon sagen.

In politischen Kommentaren heißt es oft, dass er sich von niemandem wirklich beraten lässt.
Beki: Nein, das stimmt nicht. Viele Menschen sind der Meinung, dass der Ministerpräsident das Land in eine neue, antiwestliche Richtung führen will. Das glaube ich nicht. Was wir aber gerade erleben, ist auf jeden Fall die Verkörperung einer konservativen Politik, die wir so nicht erwartet haben. Das kann, wie soll ich sagen, für manche ein Grund zur Besorgnis sein. Aber die Ängste sind unbegründet.

Waren die Proteste im Gezi-Park keine Reaktion auf diese Entwicklung?

Beki: Natürlich waren sie das. Aber die Proteste haben sich meines Erachtens in erster Linie gegen die Sprache der Regierung gerichtet.
Tüfekcioglu: Moment! Was heißt hier »Sprache«? Es werden doch seit Langem ganz konkret unsere Freiheiten eingeschränkt!
Beki: Welche Ihrer Freiheiten sind eingeschränkt?
Tüfekcioglu: Unendlich viele.
Beki: Das glaube ich nicht.
Tüfekcioglu: Nehmen Sie nur die verrückte neue Verordnung, dass in türkischen Städten keine Ein-Zimmer-Wohnungen mehr gebaut werden dürfen, damit die jungen Leute sofort heiraten und Familien gründen.
Beki: Ein-Zimmer-Wohnungen? Ich kenne viele, die in einer wohnen. Brauchen Sie eine?
Tüfekcioglu: Was soll denn das jetzt?
Beki: Aber das ist doch kein Gesetz?
Tüfekcioglu: Doch. Vor Kurzem ist es verabschiedet worden.

Tatsächlich soll der Bau von Ein-Zimmer-Wohnungen und von Wohnungen unter 27 Quadratmetern künftig untersagt werden. Am 8. September wurde diese neue Bauordnung in der Staatszeitung »Resmi Gazete« veröffentlicht.

»Was wir aber gerade erleben, ist auf jeden Fall die Verkörperung einer konservativen Politik, die wir so nicht erwartet haben.«

Herr Beki, als Sie im Juni die Gezi-Proteste mitbekommen haben: Was hätten Sie Erdogan geraten, wenn Sie sein Sprecher gewesen wären?
Beki: Ich bin es ja nicht mehr, also möchte ich mich nicht mehr in die Position begeben. Aber wenn Sie mich um meine persönliche Meinung zur Reaktion der Regierung fragen: Ja, ich glaube, sie hätte zumindest verständnisvoller mit den Unruhen umgehen können!

Können Sie uns Erdogans Charakter erklären?
Beki: (schweigt lange) Das ist ein sehr komplexes Thema.

Der Abend ist noch lang.
Beki
: Er ist ein starker Charakter, lassen Sie es mich so sagen.

Und ein bisschen konkreter?
Beki:
Sie müssen sich seinen Lebenslauf ansehen: Er ist in einer äußerst konservativen Familie aufgewachsen, in einem politischen Milieu, das reaktionärer war, als es seine eigene Linie bislang ist.
Deliveli: Erdogan hat ja – das können Sie als Kompliment verstehen – in der Vergangenheit immer gute Berater gehabt. Jetzt scheinen aber alle vernünftigen Leute in seiner Umgebung verschwunden zu sein.
Tuncel: Herr Beki, kann ich Sie mal etwas fragen? Unterstützen Sie bis heute die AKP?
Beki: Ja, das tue ich. Die Partei begeht zwar Fehler, aber zum überwiegenden Teil verhält sie sich weiterhin richtig. Wenn Sie allerdings sagen, die AKP tut zu wenig, um die Differenzen in der Gesellschaft zu überwinden, dann gebe ich Ihnen vollkommen recht. Wir steuern auf eine politische und kulturelle Polarisierung im Land zu.

Glauben Sie, dass Erdogans Macht gerade abnimmt?
Beki: Nein, schauen Sie sich die Umfragen an, die Zustimmung ist nach wie vor bei mehr als fünfzig Prozent.
Tüfekcioglu: Dem sollte man nicht trauen. Wir erinnern uns alle an die letzte Kommunalwahl in Istanbul, 2009. Hier in der Innenstadt, in Beyoglu, wo ich wohne, soll die CHP, die Republikanische Volkspartei, nach Schließung der Wahllokale einen Stimmanteil von siebzig Prozent gehabt haben, die AKP weniger als dreißig Prozent. Dann kam es um vier Uhr früh zu einem schweren Unwetter und einem Stromausfall, und ich habe lauter SMS von Freunden bekommen, dass AKP-Leute aus den dunklen Wahlgebäuden Stimmzettel entwenden und verbrennen.
Beki: Hören Sie bitte mit Ihren Verschwörungstheorien auf! Ich erkläre die Gezi-Park-Proteste auch nicht mit solchen abstrusen Thesen. Sie können doch kein einfaches Gewitter, wie es damals in der Wahlnacht ausgebrochen ist, mit solchen Machenschaften in Verbindung bringen!
Tüfekcioglu: Das sind keine Theorien, das ist die Wahrheit. Ich habe die brennenden Papierkörbe mit eigenen Augen gesehen.
Beki: Die Türkei ist doch allgemein als Land anerkannt, in dem freie und unabhängige Wahlen abgehalten werden. Ihnen selbst steht es natürlich frei zu glauben, was Sie wollen.
Tüfekcioglu: Ja, ich glaube an das, was ich sehe.

Herr Deliveli, Sie sind ja ein großer Fan des Fußballclubs Besiktas Istanbul. (Delivelis Rücken ziert eine Tätowierung mit dem Besiktas-Wappen, einem Adler, wie man auf seinem Twitter-Profilfoto erkennen kann.) Können Sie uns den Stellenwert erklären, den Fußball in der Türkei einnimmt?
Deliveli: In vielen anderen Ländern ist Sport bloß Entertainment, hier in der Türkei ist Fußball Teil der Identität. Beinahe jeder Türke unterstützt einen der drei großen Istanbuler Clubs: Besiktas, Galatasaray oder Fenerbahce. Ich habe Freunde, die mehrere Nächte nicht schlafen können, wenn ihr Team verliert.

Seit den Protesten im Gezi-Park ist der Fußball auch politisch besetzt: Fans, vor allem die Ultras Ihres Club Besiktas, haben sich den Demonstrationen angeschlossen. Kürzlich, beim Lokalderby Besiktas gegen Galatasaray, kam es zu schweren Ausschreitungen im Stadion, das Spiel musste in der Nachspielzeit beim Stand von 2:1 für Galatasary abgebrochen werden, als Besiktas-Fans das Spielfeld stürmten. Haben Sie mitbekommen, was genau da eigentlich passiert ist?
Deliveli: Es war eine Schande. Ich muss dazu etwas sagen, wogegen Herr Beki garantiert Einspruch erheben wird. Denn es waren AKP-Leute, die das Feld gestürmt haben.
Beki: Ich weiß nichts davon. Sonst würde ich wahrscheinlich Widerspruch erheben, das stimmt.
Deliveli: Es war alles sehr merkwürdig: Zwei Minuten vor Schluss bekommen wir nach einer Roten Karte für Galatasaray einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Neben uns, mitten im Besiktas-Fanblock, hören wir plötzlich religiöse Parolen. Die würde kein Besiktas-Fan je rufen, weil wir extrem antireligiös eingestellt sind. Und dann stürmen genau die Leute, die keiner von uns kannte, den Platz und sorgen für den Spielabbruch.

Sie meinen, diese Leuten wurden eingeschleust, um den Krawall zu provozieren?
Gerade in dem Moment, als Emre Deliveli zu erzählen beginnt, kommt die Nachricht, dass der Fußballer und einstige Bayern-München-Spieler Hamit Altintop – bei dem Spiel für Galatasaray Istanbul auf dem Platz und für 20 Uhr hier am Tisch angekündigt – wegen einer akuten Rückenverletzung abgesagt hat.
Deliveli: Was? Altintop kommt nicht? Schade. Also, auf Facebook haben Mitglieder der AKP-Jugendorganisation in der Nacht darauf gepostet: »Das war gute Arbeit im Stadion«. Ich mag wirklich keine Verschwörungstheorien, aber in diesem Fall liegt es auf der Hand. Es ist doch komplett idiotisch, als wahrer Fan einen Spielabbruch in dem Moment zu provozieren, in dem man noch eine Niederlage abwenden kann.
Beki: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung tatsächlich Kapazitäten freihat, um ein solches Komplott heraufzubeschwören.
Deliveli: Sie meinen: Wir Türken waren schon immer schlecht im Organisieren? Da stimme ich Ihnen zu, aber das hier hat wirklich funktioniert.

In den Tagen nach dem Spiel wird der türkische Fußballbund entscheiden, dass Besiktas vier Heimspiele ohne Publikum austragen muss. Und die Istanbuler Polizei wird bei Razzien über siebzig Fußballfans von Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray festnehmen.

Wir haben gehört, dass das Absingen politischer Parolen im Stadion, wie es seit Monaten rituell geschieht, gesetzlich untersagt worden ist. Stimmt das?
Deliveli: Das nicht, aber das Fernsehen blendet jetzt bei Live-Übertragungen immer den Originalton aus, sobald die Parolen aus der Fankurve erklingen. Fußballspiele im Fernsehen sind inzwischen wie Stummfilm-Komödien: Das halbe Stadion ruft »Überall ist Taksim, überall ist Aufstand«, aber im Fernsehen herrscht Stille.
Beki: lacht laut.

19.00 Uhr. Akif Beki und Evrim Tüfekcioglu müssen gehen.
Deliveli: (beim Abschied zu Beki) Ich habe einen AKP-Mann zum Lachen gebracht, auch nicht schlecht.
Beki: Es hat ja auch Spaß gemacht, hier zu sein, es war nicht nur mühsam.

Herr Deliveli, der Anlass der Proteste war ja, dass der Gezi-Park, eine der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls, einer weiteren Shopping-Mall weichen sollte. Welchen Stellenwert hat die Stadtentwicklung für die politischen Konflikte?

Tuncel: Istanbul hat eine Obsession für Shopping-Malls.
Deliveli: Nicht nur für Shopping-Malls – eine Obsession für Neubauten überhaupt. An jedem Morgen sieht man wieder neue Abrissarbeiten und Baustellen in den Straßen.
Deliveli:
Ich nenne diesen vermeintlichen Wirtschaftsboom »legonomics« – es geht nur darum, überall alte Gebäude abzureißen und neue aufzubauen, wie Legosteine. Diese Entwicklung hat vor allem mit der staatlichen Wohnungsbaubehörde »Toki« zu tun. Das ist einer der größten Skandale überhaupt im Moment: Diese Behörde ist eigentlich dafür da, den sozialen Wohnungsbau in Istanbul voranzutreiben. Aber was machen sie? Sie bauen inzwischen alles, mit Riesenprofit: Einkaufszentren, Stadien, Privathäuser.

Wenn Istanbul den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2020 bekommen hätte, wäre Toki für den Bau der Sportstätten und des Olympischen Dorfs verantwortlich gewesen.
Deliveli: Genau. Und es ist ein einfaches Geschäft: Vom Staat erhält die Behörde praktisch umsonst riesige Mengen von Bauland, und dann arbeitet sie mit privaten Investoren zusammen und verdient sich eine goldene Nase. Als staatliche Behörde!

Die offizielle Bezeichnung für dieses Vorgehen heißt auch in Deutschland »public-private partnership«, also »öffentlich-private Zusammenarbeit«.
Deliveli: Ich sage »öffentlich-private Korruption«.

19.30 Uhr. Emre Deliveli und die Studentin Tatli Tuncel brechen auf. Dafür setzt sich der Architekt und Hotelier Erdogan Altindis an den Tisch. Es ist seine Wohnung, in der wir uns an diesem Tag treffen. Der 50-Jährige zeigt hier sonst Ausstellungen oder veranstaltet Künstlerfeste. Andere restaurierte Apartments vermietet sein Unternehmen Manzara an Touristen. Altindis kam als zehnjähriges Kind nach Deutschland, inzwischen ist er in Istanbul heimisch. Auch Christine Senol, 67, ist gerade eingetroffen. Sie lebt seit mehr als 35 Jahren in der Türkei, führt eine Textilfirma und hat den Verein »Brücke« gegründet, für Deutsche in Istanbul. Wir sprechen nun auf Deutsch weiter.

Herr Altindis, durch Ihre Arbeit treffen Sie viele Touristen – warum strömt gerade die ganze Welt nach Istanbul? Die Stadt wird ja auch »Istancool« genannt.
Erdogan Altindis: Ich kann die Besucher sehr gut verstehen. Wenn ich als schöpferischer Mensch hier durch die Straßen gehe, ist mein Kopf ständig in Bewegung, ich kann die Stadt als Architekt weiterdenken. Laufe ich durch München und sehe die Ludwigs- oder die Maximilianstraße, dann ist alles schon fertig. Aber hier entdecke ich eine Baulücke und denke: »Oh, Wahnsinn, da könnte ich was machen.« Auch die Menschen sind unkompliziert: Wenn ich für ein Projekt zwanzig besondere Edelstahlschrauben brauche, würde mir ein Schlosser in München sagen: »Bist verrückt, da kostet ja eine Schraube 100 Euro.« Hier sagt der Handwerker: »Großer Bruder, setz dich erst mal, trink einen Tee.« Und während du noch Tee trinkst, probiert er schon mal aus, wie er deine Schraube drechseln kann.

»Das halbe Stadion ruft »Überall ist Taksim, überall ist Aufstand«, aber im Fernsehen herrscht Stille.«

Die vielen Möglichkeiten, die es hier gibt, reizen aber auch die Baukonzerne, die Istanbul mit Hochhäusern zustellen, darüber haben wir eben schon gesprochen.
Altindis: Die Regierung will die Welt mit Riesenprojekten beeindrucken. Wenn ich zum Beispiel diese Wahnsinns-U-Bahn-Brücke über das Goldene Horn sehe, dann könnte ich heulen. Diese Brücke macht die Silhouette von Istanbul, eine der schönsten Ansichten der Welt, zu wie ein Vorhang.

Wegen dieser massiven Brücke hätte die UNESCO Istanbul beinahe den Weltkulturerbe-Status entzogen.
Christine Senol:
Ich kenne Beyoglu, das Zentrum von Istanbul, noch aus Zeiten, als es hier nicht mal ein Café gab. Heute gibt es Hunderte von Bars und alle europäischen Modemarken, wie in Zürich oder Hamburg. Das ist nicht mehr das Beyoglu, wie ich es kannte.

Warum rufen Fragen des Städtebaus hier so große Emotionen hervor?
Altindis: Es gibt in Istanbul eigentlich keine Stadtplanung. In den Fünfzigerjahren hat in der Türkei die Landflucht eingesetzt. Damals wohnten in der Stadt eine Million Menschen, heute sind es 16 oder 17 Millionen.
Altindis: Genau. Die Neuankömmlinge damals haben sich in den Vorstädten einfach ein Stück Land genommen, oder sie haben hier im Zentrum, in Galata und Beyoglu, leer stehende Häuser besetzt. Die Stadt ist ganz improvisiert gewachsen. Eine Infrastruktur hat sich erst später entwickelt, als die Politiker merkten, da gibt es Wähler, die man ködern kann. Und ich glaube, es gibt einen türkischen Komplex: Alles soll super sein, aber gleichzeitig sind wir kritikunfähig.

Woher kommt das?
Altindis:
Das lernen wir schon in der Grundschule, und zwar auswendig: »Türküm, doğruyum, çalışkanım. İlkem, küçüklerimi korumak, büyüklerimi saymak, yurdumu, milletimi, özümden çok sevmektir.« (Altindis fällt ins Türkische und rattert den Schul-
Eid herunter, und genauso rasant übersetzt er ihn dann auch ins Deutsche.)
»Ich bin Türke, ich bin aufrecht und fleißig. Ich beschütze die Jüngeren, ich respektiere die Älteren und liebe mein Land und meine Nation mehr als mich selbst.«

Kurz nach unserem Interview wird Ministerpräsident Erdogan diesen Schul-Eid, der schon zu Zeiten von Republikgründer Kemal Atatürk eingeführt wurde, im Rahmen eines Reformpakets abschaffen.

Herr Altindis, als Sie vor 18 Jahren nach Istanbul zurückkehrten: Wussten Sie sofort, dass Sie bleiben würden?
Altindis: In meinem Istanbuler Leben gab es drei Meilensteine: der Kauf meiner ersten Wohnung, 90 Quadratmeter, mit genialer Aussicht am Galata-Turm. Sie kostete damals 27 000 D-Mark, meine Eltern in München meinten trotzdem: »Oh Sohn, warum schmeißt du dein Geld auf die Straße?« Wohnungen in den obersten Stockwerken galten hier lange als uninteressant, weil man Treppen hochlaufen musste, ich dachte aber sofort: Das ist das Beste, was die Stadt zu bieten hat.

Und der zweite Meilenstein?
Altindis:
Die erste Nacht in dieser Wohnung, ein Jahr später. Der dritte Meilenstein folgte dann erst diesen Sommer, als ich um sieben Uhr morgens durch den Gezi-Park gelaufen bin und die friedliche Stimmung in der Zeltstadt gesehen habe. Da war ich glücklich, dass ich hier lebe.

Warum hat Sie das so glücklich gemacht?
Altindis: Weil eine Welt, wie ich sie mir im Idealfall vorstelle, existieren kann. Mit Toleranz, Rücksicht, Ruhe, Gelassenheit. Da standen Leute geduldig an, während andere Brote schmierten, alles ohne Geld, und das in der Türkei!

20.30 Uhr. Die Schauspielerin Nursel Köse kommt. Altindis steht auf und umarmt sie, sie kennen sich. Köse ist auch eine Pendlerin zwischen den Welten. Sie hat in Deutschland einst das erste ausländische Frauenkabarett gegründet, in Kinofilmen, Serien und im »Tatort« gespielt. Bekannt geworden ist sie vor allem durch ihrer Rolle in dem Fatih-Akin-Film »Auf der anderen Seite«.

Altindis: Bei uns gibt es das Sprichwort: »Fange an wie ein Türke und beende wie ein Deutscher.« Ich habe meine Frau, sie ist auch Architektin, hier in Istanbul als Gast kennengelernt. Vor fünf Jahren haben wir in München geheiratet. Dank dieser deutsch-türkischen Synergie ist unser Unternehmen schnell gewachsen.

Hat Sie das Leben hier verändert?
Altindis: Nur ein Beispiel: In München hat mich der Gedanke an Arbeitslosigkeit eine Zeit lang fast krank gemacht. Hier in der Türkei haben viele keine Arbeit, sind nicht sozialversichert. Aber irgendwie läuft es trotzdem. Du verlierst hier deine Angst vor dem Alltag. Trotz aller Brutalität einer Metropole gibt es noch viel Menschlichkeit.
Nursel Köse: Damit man in dieser wahnsinnig großen Stadt nicht verrückt wird, braucht man allerdings sein Dorf, seine Freunde.

Frau Köse, Sie haben zwar noch immer eine Wohnung in Berlin, seit ein paar Jahren leben und arbeiten Sie aber hauptsächlich in der Türkei. Was hat Sie bewegt, hierherzuziehen?

Köse: 2007 waren wir mit Fatih Akins Film Auf der anderen Seite auf dem Filmfest in Antalya, da habe ich einen Preis als beste Nebendarstellerin erhalten. Daraufhin habe ich hier viele Arbeitsangebote bekommen. Ich habe mich schnell wie ein Star gefühlt, was ich in Deutschland vermisst habe. Dort durfte ich immer nur die arme Türkin spielen, die Putzfrau zum Beispiel.
Senol: Hier bei uns gilt Fatih Akin als Türke; deutsche Medien sagen dagegen immer, er sei Deutscher mit türkischer Abstammung.
Köse: Das ist unser Dilemma: Dort sind wir »Kanaken«, Ausländer. Hier sind wir »Almancilar«, »Deutschländer«. Überall wird man stigmatisiert.

Wie empfanden Sie es, als Regierungschef Erdogan auf einer Deutschlandreise 2010 in der Kölnarena vor Zehntausenden Türken gewarnt hat, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Köse: Ja, endlich sagte mal einer was. Zuvor hatten wir immer das Gefühl, wir werden von den türkischen Politikern gar nicht wahrgenommen. Auch wenn ich dem Statement inhaltlich nicht zustimme.
Altindis: In Deutschland fühlten wir uns lange nicht beachtet. Wenn dann einer kommt und sagt, besinnt euch auf eure Wurzeln, hat das schon Wirkung.

Frau Senol, als Sie 1975 nach Istanbul gekommen sind, wie fremd haben Sie sich da gefühlt?
Senol:
Ich habe gedacht, ich erlebe das Schicksal meiner Mutter wieder. Es war wie in der Nachkriegszeit in Deutschland. Es gab Stromsperren, Wassersperren. 1977 wurde mein Sohn geboren. Ich bekam keinen Schnuller, keine Babyflasche. Es war verboten, Waren einzuführen, oder es wurden 200 Prozent Zollgebühren veranschlagt. Es gab keinen Kaffee. Und Auslandspakete musste man von einer zentralen Stelle abholen. Der Beamte öffnete sie vor einem, und wenn fünf Tafeln Schokolade drin waren, hat er eine oder zwei Tafeln genommen.
Köse: Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich aber auch gedacht: Hier gibt es nichts! Keine Zucchini, keine Auberginen, keine Wassermelonen.

Warum sind Sie nach Deutschland gegangen?
Köse:
Ich wollte dort Architektur studieren. Ursprünglich stamme ich aus einer Eisenbahnerfamilie aus Ostanatolien. Eine Schwester von mir lebte zu der Zeit schon in Düsseldorf, als Lehrerin für türkische Kinder. Mein Vater hat damals abenteuerliche Geschichten aus Deutschland gehört: Dort sei es für eine junge Studentin sehr gefährlich, die Frauen liefen nackt herum und so weiter. Er wollte es dann genau wissen und fuhr meine Schwester besuchen. Wir haben ihr einen Brief geschrieben: Aufpassen, Papa kommt! Ausgerechnet zu Weiberfastnacht kam er am Düsseldorfer Bahnhof an. Er stieg aus dem Zug aus, und sofort stürzten ein paar wüst aussehende Frauen auf ihn zu und schnitten seine Krawatte ab. Er dachte, er sei in der Hölle angekommen! Mit Mühe hat er damals ein Taxi gefunden, und als er bei meiner Schwester ankam, schrie er schon von unten hinauf: Komm, pack deinen Koffer, wir fahren zurück in die Zivilisation! Meine Schwester hat es glücklicherweise geschafft, ihn zurückzuhalten. Und am nächsten Tag hat er gesehen, dass alle Straßen wieder picobello waren und alle Deutschen bei der Arbeit. Danach hat er Deutschland geliebt.

(Porträtfotos: Daniel Etter; Bilder Istanbul: Claudia Schulze)