Der Morgen des zweiten Regattatages fühlt sich an wie der Kater nach einem sehr schlechten Fest. Neben uns hatte die russische Mannschaft festgemacht, dann bis früh in den Morgen gefeiert. Und hier, jetzt, in der Marina der kroatischen Hafenstadt Biograd, werden die Sieger der ersten von vier Wettfahrten gekürt. Auch die Verlierer sind benannt. Die Zara zum Beispiel, unser Boot. Platz 39. Von 39 Schiffen in unserer Klasse.
Wir fahren eine der größten Yachten der Regatta, 500 000 Euro wert, zwölf Tonnen schwer und 15 Meter lang, mit einem Mast so hoch wie ein vierstöckiges Haus. Acht Schlafplätze, Bordküche, zwei Toiletten. Man könnte damit den Atlantik überqueren, um dann wieder gemütlich über den Pazifik heimzukehren. Aber eine Wettfahrt verlieren? Wenn es ein Gesetz beim Segeln gibt, das wirklich immer gilt, dann dieses: Länge läuft. Bei uns aber lief gar nichts.
Gerri, unser Spezialist auf dem Vorschiff, fragt: »Haben wir gestern eigentlich irgendetwas richtig gemacht?« Reinhard, der Bootsführer, also: Skipper, sagt: »Es kann nur besser werden.« Andy, der Steuermann, meint: »Wir sollten den Tag einfach vergessen.«
Vorn auf der Bühne wird der Kurs für den heutigen Tag ausgegeben. Es geht von Biograd an der dalmatischen Küste durch den Nationalpark Kornati bis zur Insel Piskera. Windstärke vier bis sechs Knoten. Damit kann man Surfbretter bewegen. Aber kaum Schiffe von der Größe eines amerikanischen Trucks. Die Adriatic Sailing Week ist meine erste Regatta, eigentlich auch mein erster Aufenthalt auf einem Segelboot. Mein Wissen um diesen Sport steckt in drei Büchern, die ich mitgebracht habe: den Segel-Knigge – Klar Schiff für den richtigen Umgang an Bord; das fantastische Standardwerk für Segler, die Seemannschaft; und Alinghis Gipfelsturm, ein Buch über den America’s Cup. Darin steht unter anderem, die Fortbewegung einer Yacht sei komplexer als der Flug eines Hubschraubers. Das klingt beunruhigend. Außerdem steht darin: »Es reicht, wenn 50 Prozent der Positionen an Bord mit hervorragenden Leuten abgedeckt ist.« Das wiederum klingt beruhigend. Besonders in unserer Situation: acht Männer, zwischen 32 und 60, deren Segeltalent so verschieden ist wie der Unterschied zwischen Haile Gebrselassie und einem Nordic-Walker. Neben Reinhard, der seit 30 Jahren segelt und als Skipper schon gute Plätze auf Regatten gemacht hat: Jürgen, einst Bademeister auf Usedom, Willi, Jurist, Herbert, der Informatiker, Gerri, Andy, Jo und ich.
Vor allem aber heißt es in Alinghis Gipfelsturm, die Hälfte einer Regatta wird beim Start entschieden. Und der Schuss, der gerade erklingt, signalisiert: noch fünf Minuten. Der Wind hat zugenommen, kurz vor der 100 Meter langen Startlinie herrscht die bedrohliche Ruhe eines Haifischbeckens. Jedes der 39 Boote versucht, sich in die beste Ausgangsposition zu bringen, im Abstand von wenigen Metern rauschen die tonnenschweren Yachten an uns vorbei. Nach dem Startschuss, so als ob jemand ein Stück Fleisch in das Becken geworfen hätte: 15, 20 Boote bilden ein Knäuel, ein lautes Krachen, drei der Schiffe haben sich ineinander verkeilt; ein anderes treibt rückwärts auf uns zu. Reinhard, der Bootsführer, steht ruhig hinter dem Steuermann, dirigiert die Yacht mit einem kleinen Schlenker nach links, dann mitten durch eine schmale Passage zwischen den Schiffen über die Startlinie.
76 Mannschaften nehmen in diesem Jahr an der Adriatic Sailing Week teil. Einige wenige stammen aus Italien, Kroatien, Russland und Deutschland, die meisten aber aus Österreich, der Alpenrepublik, keine hohe See weit und breit. Deshalb ist der österreichische Veranstalter Blu Balu auch besonders stolz, dass Segelprofi Andreas Hanakamp mitfährt. Sie nennen ihn »unseren Olympia-Teilnehmer«.
Es gibt vier Bootsklassen, die nacheinander starten. Von einfachen Fahrtenschiffen bis zu reinen Wettfahrtbooten; technischen Wunderwerken, in denen keine Schraube zu viel steckt. Damit am Ende trotzdem ein Sieger bestimmt werden kann, gibt es ein Umrechnungssystem, mit dem die Boote vergleichbar werden. Es ist ungefähr so kompliziert wie die Relativitätstheorie, bedeutet für uns aber ganz schlicht: Als eines der besten Boote im Feld müssen wir alle, die vor uns gestartet sind, überholen, um auch nur in die Nähe des Gesamtsieges zu kommen.
Trotz des guten Anfangs sieht es danach nicht aus. Eine paradoxe Situation: Es gibt Wind, aber unser Boot kommt nicht in Fahrt. Herbert sagt: »Statt ruhig zu fahren, machen wir zu viele Manöver«; Jo sagt: »Wir haben zu viele Leute, die bestimmen wollen«; Gerri sagt: »Wir weichen ständig vom Kurs ab.« Zu Zeiten eines Hernán Cortés hätte jetzt jemand »Meuterei« gerufen. Und anschließend ein langes Seil am Mast fest gemacht.
Mein Arbeitsplatz besteht aus zwei Rollen unterschiedlicher Größe, Winschen genannt, angebracht hinten, auf der linken Seite des Bootes. Faszinierende Geräte, die schnarren, wenn man sie bedient. Auf reinen Wettfahrt-Schiffen heißt meine Position »Grinder«, was so viel wie »Mahler« bedeutet, sie wird ausgeübt von Menschen, deren Talent weniger im Kopf als in den Armen sitzt. Wann immer das Vorsegel auf die linke Seite geholt wird, muss ich das dazugehörige Seil nehmen, um die größere der beiden Rollen legen und so lange kurbeln, bis das Segel richtig zum Wind steht. Die Position des Grinders rangiert in der Hier-archie an Bord sehr weit unten. Eigentlich gibt es nur noch eine Position darunter: Sie wird Trimmfleisch genannt und gehört auch zu meinen Aufgaben. Bei Schräglage muss ich mich dafür auf den Bootsrand setzen.
Inzwischen haben wir durch geschicktes Manövrieren und günstigen Wind einige Positionen gutmachen können. Vor uns liegt eine lange gerade Strecke, nun zeigt sich, dass Segeln tatsächlich Spaß machen kann: Das Boot rauscht leicht geneigt durchs Meer, in vielleicht einem Kilometer Entfernung sieht man das Land vorbeiziehen, davor, dahinter und dazwischen die gegnerischen Boote. Die Sonne? Scheint. Selbst Herbert, der das Verhältnis von Wind, Meer und Schiff beschreiben kann, als wäre das alles ein großes Kunstwerk, und ständig an Bord unterwegs ist – er sitzt still. Eine Stunde geht das so, dann noch eine Wende und wir kommen in der Marina der Insel Piskera an. »Vor Andreas Hanakamp!«, ruft Gerri. Vor dem großen österreichischen Olympia-Teilnehmer.
Die Routinearbeiten stehen an: Fender aushängen, Taue zusammenrollen, Segel ein-holen, kleine Dinge ausbessern: Schekel, Seil-Enden, einen Riss im Vorsegel. Eine Regatta ist wie ein verkehrtes Perpetuum mobile, das enorme Mengen an Energie verschlingt und stetig neue Beschäftigung schafft. Eine ABM-Maßnahme auf höchstem Niveau. Ist eine Schnur aufgerollt, wird sie wieder benutzt. Ist ein Segel verstaut, muss es wieder gesetzt werden. Ist ein Manöver beendet, steht schon das nächste an. Manchmal seien die Abläufe so monoton »als würde man einer Wand beim Trocknen zuschauen«, hat Tim Kröger, einer der wenigen bekannten deutschen Segler, gesagt. Hinzu kommt eine ja auch sozial bedenkliche Situation: Acht Menschen, die sich kaum kennen, leben vier Tage zusammen auf engstem Raum. Unter Bedingungen, bei denen selbst ein erfahrener Kommunarde wie Rainer Langhans noch etwas lernen könnte.
So gesehen muss die Faszination des Regattafahrens irgendwo zwischen Campingurlaub, Naturerlebnis, Abenteuerspielplatz und Bastelecke liegen. Stoff genug jedenfalls, um Abend füllende Unterhaltungen damit zu bestreiten. Die gemeinsame Analyse der ersten beiden Regattatage ergibt: Die Mannschaft arbeitet nicht optimal zusammen; die oberste Latte des Großsegels hängt fest; das Vorsegel ist ausgeleiert.
Tag drei: Er beginnt wie Tag zwei. Nur umgekehrt – wir gehen als Letzte über die Startlinie. Am Nachmittag umrunden wir eine kleine Insel und der Wind kommt von hinten. Vorwindkurs heißt das und das ist das Beste, was uns passieren kann. Wir können das Spinnaker-Segel setzen. Herbert meint, das Fahren mit Spinnaker »ist die Königsklasse beim Segeln«. Gerri sagt: »Ich hasse Spinnaker-Segeln.«
Zumindest ist es so: Es gibt auch sehr erfahrene Segler, die das Ding nie anrühren würden. Eine lange Wurst aus dünnem Stoff, die mit einem kaum überschaubaren Wust an Schnüren und Schekeln befestigt wird und sich dann in der Größe eines Handballfeldes vor dem Boot entfaltet. Technisch gesehen scheint der Spinnaker aus einer Zeit der Seefahrt zu entstammen, als in Europa noch die Pest wütete und die Erde eine Scheibe war.
Der klare Vorteil: Wir kommen gut voran. Nach einer halben Stunde haben wir schon eine Hand voll gegnerischer Boote hinter uns gelassen, nach einer weiteren Stunde fast die Hälfte des Feldes. »Die Enttäuschung in den Gesichtern der anderen Mannschaft«, sagt Andy, der Steuermann, gut gelaunt – das gehöre zu den großen Momenten einer Regatta.
Die Ziellinie ist zu sehen, eine Sache von vielleicht zehn, fünfzehn Minuten. Bis der Wind verschwindet und die Boote plötzlich verharren. So, als würde ein Film jäh angehalten. Und Reinhard beweist, dass sich die große Kunst des Regattafahrens nicht bei viel, sondern erst bei null Wind entfaltet. Um das Boot ruhig zu halten, dürfen wir uns nur noch vorsichtig auf dem Deck bewegen. Reinhard schickt uns auf den vorderen Teil der Yacht. So verlagert sich das Gewicht und die Reibungsfläche des Rumpfes im Wasser wird geringer. Gesprochen wird nur noch im Flüsterton, und, wer einmal den Film Das Boot gesehen hat: Die ganze Situation erinnert an die Schleichfahrt eines U-Bootes unter den feindlichen Schiffen hindurch. Fast unmerklich geschieht tatsächlich das eigentlich Unmögliche: Wir bewegen uns, passieren die verdutzte Mannschaft eines gegnerischen Bootes und gleiten eine halbe Stunde später über die Ziellinie.
Am Abend, an einem Tisch im Restaurant der Marina, tagt das Schiedsgericht der Regatta. Es müssen »Proteste« verhandelt werden, Beschwerden der Teilnehmer über andere Teilnehmer. Also so etwas wie die Nachbarschaftsstreitigkeiten einer Wettfahrt. Der Vorsitzende des dreiköpfigen Schiedsgerichts bestellt ein Glas Wasser, »pures, kühles Wasser«. Er braucht jetzt einen klaren Verstand. Beim Start hat ein österreichisches Boot ein russisches am Heck gerammt, der Schaden liegt bei ungefähr 200 Euro. Da es aber beim Segeln wie auch im richtigen Leben Vorfahrtsregeln gibt, haben die Österreicher nicht automatisch Schuld. Die beiden Bootsführer sitzen der Jury gegenüber, da der Russe kein Deutsch spricht, wird Englisch als Amtssprache vereinbart. Da der Russe aber auch kaum Englisch spricht, soll er den Zusammenstoß mithilfe einer leeren Kaffeetasse, eines vollen Aschenbechers und zweier Löffel nachstellen. Das ist eigentlich eine komische Situation. Weil aber eine Regatta nicht nur mit der Weitläufigkeit der hohen See zu tun hat, sondern manchmal auch mit der Enge eines Schrebergartens, wird nicht gelacht. Nach einer Stunde Verhandlung spricht das Gericht sein Urteil: Der Russe bekommt Recht, der Österreicher wird disqualifiziert. »Wir sorgen dafür, dass diese Wettfahrt professionell bleibt«, sagt der Vorsitzende des Schiedsgerichts.
Am nächsten Morgen regnet es. Wir ziehen Ölzeug an, gelbe Jacken und Hosen, in denen uns der Schweiß in Bächen herunterläuft. Es ist der letzte Tag der Wettfahrt und die Mannschaft hofft, doch noch einen guten Platz zu machen. Da am Ende nur drei Tage gewertet werden, können wir die erste Wettfahrt streichen. Das ist der Plan. Tatsächlich passiert Folgendes: Wir gehen als Letzte über die Startlinie und gegen Mittag reißt der Spinnaker. Wie ein zerplatzter Luftballon hängt er vor dem Schiff, traurig anzusehen und gleichzeitig das treffende Bild für, ja, einen geplatzten Traum. »Es ist gelaufen«, grummelt Reinhard und vergräbt sich noch etwas tiefer in seinem Ölzeug.
Am Abend, die Siegerehrung. Willi stochert lustlos in seinem Fisch herum, Jürgen studiert intensiv das Etikett einer halb leeren Weinflasche. Vorne auf der Bühne des Festzeltes holt sich gerade die Mannschaft von BMW-Austria ab, was Reinhard sich heimlich für sein Boot gewünscht hatte: das blaue Band für das schnellste Schiff. Uns bleibt Platz 34, acht Plätze hinter dem Olympia-Teilnehmer. Reinhard sagt: »Ich freue mich schon auf die nächste Regatta.«