Zur Lage der Liga

Nächste Woche beginnt wieder die Bundesliga. Sie hat die edelsten Stadien, die meisten Zuschauer, die teuersten Logen, den grünsten Rasen, die beste Stimmung, die mächtigsten Manager. Und die schlechtesten Mannschaften seit langem.

Am Buffet im VIP-Bereich von Hannovers AWD-Arena stehen zwei Herren und füllen ihre Teller mit Lachs und Currywurst. Ihre Anzüge sitzen gut. Der eine ist Steuerberater des Kanzlers, der andere sein Anwalt. »Ich war neulich im Wolfsburger Stadion«, sagt der Steuerberater, »da sind die Wände im VIP-Restaurant viel weißer als hier.« Darauf der Anwalt: »Der Lachs ist total verkocht.« Am Biertresen stößt Udo Lattek mit dem jungen Fernsehstar Olli Pocher an. Die beiden sind im Stadion, um an einem Prominentenspiel teilzunehmen. Neben dem Eingang zwei Musikmanager aus Berlin samt ihren Anwälten aus Hamburg, die auch einige Fußballer vertreten, seit die Musikindustrie kriselt. Die vier reden übers Geschäft: »Der Kuranyi und der Bordon spielen nur noch in Deutschland, weil ihre Berater kein Englisch sprechen.« »Ach was, die will in den großen Ligen doch eh keiner haben.« Alltag in der Bundesliga: Durch die Glaswände blicken die gehobenen Fans ins ausverkaufte Stadion. 49854 Menschen verfolgen am vorletzten Spieltag der Saison 04/05 die Begegnung Elfter gegen Siebter, Hannover 96 gegen den Hamburger SV. Hostessen in engen grünen Kostümen reichen den VIP-Gästen Champagner, und solange man nicht aufs Spielfeld schaut, könnte man glauben, die deutsche Fußballwelt sei ein Jahr vor der Weltmeisterschaft in bester Ordnung: In die neuen funkelnden Stadien strömen immer mehr Zuschauer. Mit 37809 Besuchern pro Spiel hat die Bundesliga einen Weltrekord aufgestellt – und wird ihn in der kommenden Saison wohl sogar überbieten. Nur was passiert eigentlich auf dem Platz? Heute müssen die Hamburger dringend gewinnen, um sich als Tabellen-Sechster vielleicht noch für den UEFA-Cup zu qualifizieren. Doch mit ihrer Leistung legen sie nahe, dass sie da vielleicht besser nicht mitwirken sollten: Viel zu langsam spielen sie, zu unbeholfen. Das war schon im Jahr 2003 so, als sie als Bundesliga-Vierter im Europapokal antraten und in der ersten Runde gegen Dnjepr Dnjepropetrowsk ausschieden. Am Tag nach dem Hannover-Spiel wird Udo Lattek im Deutschen Sportfernsehen sagen: »Das war typischer Standfußball aus der Bundesliga.« Hannover verteidigt leidenschaftslos und spielt vier, fünf kluge Konter, das reicht, um den HSV mit 2:1 zu besiegen. Während – angefeuert von der Euphorie um die WM – das Geschäft mit dem deutschen Fußball brummt, werden die Leistungen der Profis immer bescheidener. Das Topteam VfB Stuttgart verlor im UEFA-Cup gegen FC Parma, den Achtzehnten der italienischen Liga; Meister Werder Bremen kassierte in zwei Spielen gegen Olympique Lyon zehn Tore. Selbst Bayern München, mit 14 Punkten Vorsprung in der Bundesliga haushoch überlegen, bekommt auf europäischer Ebene Probleme: Beide Gruppenspiele gegen Turin gingen verloren und gegen Chelsea schied man in Wirklichkeit – trotz späterer Schönrederei – chancenlos aus. Im Kicker erklärte Franz Beckenbauer: »Die Deutschen sind jetzt drei Jahre lang aus Europa rausgeschossen worden. Es war nicht mal knapp. Wir gehören nicht zur Spitze. Warum trotzdem so viele Leute die Stadien besuchen? Ein Mysterium.«

Die Statistik gibt Beckenbauer Recht. Zu Beginn der neuen Saison, die nächste Woche startet, liegt Deutschland in der Fünf-Jahres-Wertung der UEFA hinter Portugal erstmals auf dem sechsten Platz. Spanien, Italien, England, Frankreich: uneinholbar enteilt. Noch 1992 war die Bundesliga die Nummer eins in Europa. Sollten die Holländer nun auch noch vorbeiziehen, bekäme Deutschland nur noch einen garantierten Platz in der Champions League. Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge meint, die Gründe der Misere zu kennen: »Wir haben zu wenig Geld. Madrid oder Turin bekommen hundert Millionen Euro für die Fernsehrechte, wir nur zwanzig. Die Liga braucht 500 Millionen statt 300.« Das Geld würde er am liebsten so verteilen, dass Bayern mehr und die meisten anderen weniger bekommen: Einzelvermarktung italienischer oder spanischer Prägung statt des traditionellen Solidarprinzips, das dem MSV Duisburg oder Mainz 05 ähnliche Einnahmen zusichert wie den Spitzenvereinen. Denn international erfolgreiche Bayern, so glaubt Rummenigge, würden das Image der gesamten Liga heben. Die Funktionäre der anderen Klubs sprechen ihren Groll darüber nicht öffentlich aus, sie würden aus Angst vor der Münchner Allmacht nicht mal aufmucken, wenn Rummenigge eckige Bälle fordern würde. Ein Manager aus dem Norddeutschen sagt: »Dann sollen sie sich in Italien anmelden, wenn den Bayern die Bundesliga nicht gefällt. Es liegt doch nicht am Geld allein.« 180 Millionen Euro zahlt Premiere pro Saison für seine Live-Übertragungen am Samstagnachmittag, zirka 60 Millionen kosten die ARD die Rechte für ihre Sportschau; den Rest zahlen DSF und ZDF. Dieser Tarif gilt als Schleuderpreis, der 2003 nur möglich wurde, als mit der Pleite von Kirch-Media der lang-jährige Hauptabnehmer plötzlich wegfiel. Für die Saison 2006 wird die Liga mit den Fernsehanstalten neu verhandeln, die Gespräche sind zwar erst für den Herbst angesetzt, doch die Drohungen dröhnen jetzt schon: Soll es weiter eine Sportschau um zehn nach sechs geben, müsse die ARD »wesent-lich mehr zahlen«, verkündete Rummenigge. Er weiß natürlich, dass sich die Sendeanstalt viel höhere Lizenzgelder kaum leisten kann. Sie darf aus politischen Gründen die teuren Rechte nicht mit Gebührengeldern bezahlen, sondern nur durch Werbung und Sponsoring, und damit bewegt sie sich bereits jetzt am Limit. Wahrscheinlicher also ist, dass Premiere für die Mehreinnahmen sorgt – allerdings nur, wenn der Bezahlsender dafür auch exklusivere Rechte bekommt: Eine Sportschau um zehn nach sechs im frei empfangbaren Fernsehen wäre dann undenkbar. Verliert die ARD im Herbst das Wettbieten mit dem Bezahlfernsehen, es wäre das Ende einer Ära, das Ende von Fußball für alle. In Köln gleich neben dem Dom beim WDR, von wo die Sportschau sendet, versuchen die Redakteure gelassen zu bleiben. Sie wissen, dass sie eine gute Sendung hinlegen: Jede Woche sehen mehr als sechs Millionen Menschen zu, die Sportschau bekommt gute Kritiken, weil sie auf all den Firlefanz verzichtet, den ihre Vorgängersendung – ran bei Sat1 – unter Reinhold Beckmann eingeführt hat. Beckmann gilt als einer der Erfinder von Fußball für die ganze Familie mit Opel-Corsa-Gewinnspielen und viel Promige-quatsche. Er wird an diesem Abend die Sendung moderieren, doch im Moment plagt ihn noch die Frage, was er anziehen soll. Die Sportschau, sagt Beckmann, konzentriert sich wieder auf das eigentliche Produkt, kein ran-Firlefanz mehr, das war früher. Nur was, wenn das eingekaufte Produkt nichts taugt? Früher bei Sat1 haben die Reporter jedes Gegurke noch irgendwie hochgejubelt, schließlich hatte man die Rechte ja teuer gekauft. Die Sportschau will das nicht, sagt ein Redakteur, müsse sie auch gar nicht: »Wenn es in der Tagesschau nur schlechte Nachrichten gibt, schauen ja deswegen auch nicht weniger zu.« Doch diese Erkenntnis tröstet jetzt nur wenig, der letzte Spieltag der Saison, Samstagnachmittag, halb fünf: Bayern steht als Meister seit Wochen fest und auch die Absteiger sind klar. Spannung könnte man nur noch aus dem Kampf um die Champions-League-Plätze ziehen. Die Redaktion berät, eine Konferenzschaltung soll Dramatik simulieren.

Im Kontrollraum zeigen mehr als ein Dutzend Schirme alle Partien auf Premiere, und als Freiburg gegen Schalke den Ausgleich erzielt, ruft Reinhold Beckmann: »Das darf doch nicht wahr sein! Schalke will in der Champions League mitmischen, aber bei Standardsituationen spielen sie immer noch eine althergebrachte Manndeckung!« Weil durch den Freiburger Ausgleich die Champions-League-Konferenz zu kippen droht, versucht die Redaktion nun eine Geschichte um die Frage zu stricken, wer bester Aufsteiger der Saison war. Beckmann macht sich währenddessen Gedanken über das Kommentieren: Er sagt – ganz wertfrei – dass im Zuge der Entwicklung des Fußballs zum WM-2006-Massenspektakel das Publikum immer weniger von Fußball verstehe. Ihm fällt ein, was Wolfgang Overath ihm neulich erzählt hat. »Wolfgang sagte: ›Wir haben letzte Saison mit Köln teilweise nicht gut gespielt, aber nie hat jemand gepfiffen. Das wäre früher undenkbar gewesen. Die Zuschauer wollen heute mehr Entertainment.‹« Beckmann denkt jetzt darüber nach, seine Kommentare einem weniger sachkundigen Publikum anzupassen. Man müsse ja dem Zuschauer nicht auch noch sagen, wie schlecht das Gebotene ist. Nachwuchsarbeit, Management und Scouting – die meisten deutschen Vereine sind der Konkurrenz im Ausland in allen Bereichen unterlegen. In Hannovers AWD-Arena erzählt der Musikanwalt aus Hamburg während des Spiels Hannover gegen den HSV: »Derzeit suchen zwölf Vereine in Europa einen linken Verteidiger, doch es ist keiner auf dem Markt. Neulich war ich bei den Bolton Wanderers in England, um ihnen einen jungen deutschen Spieler anzubieten. Die sagten nur: ›Es gibt weltweit keinen interessanten Spieler zwischen 14 und 22, über den wir nicht alles wüssten bis hin zu seinen Essgewohnheiten.‹ Die Wanderers beschäftigen seit 15 Jahren dreißig Leute, die rund um den Globus Spieler sichten. Beim HSV bestand die Scouting-Abteilung bis vor zwei Jahren aus einem Sack Videokassetten, in den bei Bedarf gegriffen wurde.« Die Wanderers aber wurden punktgleich mit Champions-League-Sieger Liverpool Sechster – ihr Etat ist halb so groß wie der des HSV. Also machen wir es doch wie die Engländer, die Italiener! Zu bedenken wäre, dass sich in Italien selbst die Spitzenvereine derart überschuldet haben, dass Silvio Berlusconi, Mehrheitsaktionär des AC Mailand, sogar die Gesetze ändern ließ: Nun müssen die Clubs ihre zwei Milliarden Euro Gesamtschulden erst in zwanzig statt in fünf Jahren abstottern. Dank der Einzelvermarktung nimmt der AC Mailand allein an Fernsehrechten 138 Millionen Euro pro Saison ein (Bayern München: zirka 20 Millionen), kann aber trotzdem seine Rechnungen nicht bezahlen. Berlusconi spendete 25 Millionen aus seinem Privatvermögen, um Verbindlichkeiten abzubauen. Unterdessen versinkt die italienische Liga in einer Neonazi-Plage, Doping-Skandalen und Bestechungsaffären. Der berühmteste Verein der Welt, Real Madrid, existiert überhaupt nur noch, weil die Stadt in einem dubiosen Immobiliengeschäft das ehemalige Vereinsgelände zum astronomisch überteuerten Preis von 400 Millionen Euro kaufte. Madrids Rivale FC Barcelona konnte wegen seiner Schulden nicht mehr jedes Jahr die drei teuersten Spieler kaufen und wurde so zu seinem Glück gezwungen: Im aktuellen Meisterkader stehen elf Jungs aus der eigenen Jugend. Nun allerdings scheint der Verein wieder bereit, astronomische Summen aufzuwenden, um Weltfußballer Ronaldinho zu halten. In England kaufte nach der Übernahme des FC Chelsea durch den Russen Roman Abramowitsch nun der Florida-Milliardär Malcolm Glazer die Mehrheit an der Aktiengesellschaft Manchester United: Die erste feindliche Übernahme des Fußballgeschäfts. Seither kann Glazer die Stadt nicht betreten, weil er damit rechnen muss, von Fans gelyncht zu werden – die fürchten, der Spekulant wolle den Verein ausschlachten.

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Solche Verhältnisse wünscht sich kein Fan für die Bundesliga. Dennoch können wir von dem Blick ins Ausland lernen: In den letzten vier Europapokal-Endspielen standen der FC Porto, ZSKA Moskau, Sporting Lissabon, FC Liverpool, Olympique Marseille, AS Monaco und FC Valencia – obwohl sie alle als Vereine aus der zweiten Reihe gelten, denen das Geld fehlt, die ganz großen Stars zu kaufen. Und es wurde gelernt: Zwar mehr aus Not denn als Ergebnis strategischer Planung begannen deutsche Vereine in der eigenen Jugend anstelle in Albanien nach Nachwuchs zu fahnden. Das Ergebnis: Seit Neuestem sind tatsächlich wieder vermehrt die Spione der Topklubs aus Madrid, Mailand oder London in der Bundesliga unterwegs. Im Augenblick buhlt der FC Arsenal unter anderem um den demnächst 17-jährigen Nuri Sahin von Borussia Dortmund. Sahin gilt als das größte Spielmacher-Talent Europas. Er ist im sauerländischen Meinerzhagen geboren, hat aber türkische Eltern. Auf Europa-Niveau ähnlich hoch eingeschätzt wird Mittelstürmer Sebastian Tyrala, Sohn polnischer Spätaussiedler, ebenfalls bei Dortmund. Auch ein Berliner mit dem preußischen Namen Kevin-Prince Boateng, 19, wird wohl bald Star-Status erreichen, genauso wie der Schalker Torwart Manuel Neuer, auf den halb Europa ein Auge geworfen hat. Marc-André Kruska, ebenfalls 17, ist bereits Stammspieler in Dortmund und wird seither von Real und Arsenal beobachtet. Am Dienstag nach dem Sieg gegen den HSV ruft Hannovers Trainer Ewald Lienen seine Mannschaft zum Training. 25 Jungs traben gemütlich über den Rasen. Es gibt nur ein Thema auf dem Platz: Der neue Krieg der Sterne-Film ist raus! Eine Übung: Flanken aus vollem Lauf und Direktabnahme vorm Tor. Co-Trainer Michael Frontzeck krabbelt durchs Gebüsch und sucht Bälle. Neun von zehn Schüssen gehen daneben. Warum gibt es hier eigentlich keine Zäune? Wenn man Lienen fragt, woran es dem deutschen Fußball fehlt, sagt er: »Wir haben zwanzig Jahre lang den Nachwuchs im Stich gelassen. Da ist es kein Wunder, dass ärmere Länder aufholen, wo die Jungs so hungrig sind wie wir damals nach dem Krieg.« Vor sieben Jahren spielte 96 noch in der Regionalliga und stand kurz vor der Pleite. Inzwischen hat der Club sich im Mittelfeld der ersten Liga etabliert und sogar einige hoffnungsvolle Talente hervorgebracht, wie Per Mertesacker oder U-19-Nationalspieler Jan Rosenthal. Präsident Martin Kind, Europas erfolgreichster Hörgerätehändler, ließ sich damals zu dem Job bei 96 überreden. Es gelang ihm, die örtliche Großwirtschaft – TUI, Continental, AWD, Bahlsen – als Sponsoren zu gewinnen. Auch dank enger Kontakte zur Politik entstand das neue WM-Stadion. Kind sitzt jetzt im Konferenzraum der Arena vor einem großen Foto des 96-Idols Dieter Schatzschneider und blickt nervös auf sein Handy. Dann sagt er: »Wir müssen den Lokalkolorit ablegen. 96 ist Werbeträger Nummer eins, deswegen müssen wir nach Europa.« Das Problem: Zehn, elf andere Vereine wollen dasselbe; manche riskieren alles und verpfänden im großen Stil künftige Einnahmen (Schalke 04) oder verjubeln das Geld der Aktionäre (Dortmund). Nun haben allein diese beiden Clubs 200 Millionen Euro Verbindlichkeiten. Der Fall Dortmund. Fast 15 Jahre hat dieser Verein versucht, ein bisschen größer auszusehen, als es ein deutscher Fußballklub eigentlich sein kann. Um 1988 begann Dortmunds Präsident Gerd Niebaum, mit Spielertransfers in erstaunlicher Größenordnung. Andi Möller wurde aus Frankfurt, Michael Rummenigge vom FC Bayern losgekauft. Und nach dem eher zufälligen DFB-Pokalsieg 1989 kam es zu dem bis heute überlieferten Satz Niebaums, der zum Programm der Dortmunder Jahre wurde. Niebaum fragte seinen aus Leverkusen geholten Manager Michael Meier: »Sagen Sie mal, wer ist eigentlich der beste Stürmer der Welt?«

Die Antwort lautete zu der Zeit Bebeto, doch der wollte nicht. Also holte Meier Fleming Povlsen, für damals atemberaubende 4,1 Millionen Mark. Dass das Geld gepumpt war, wurde nicht weiter hinterfragt. Es handelte sich ja um den »Wechsel auf die Zukunft«, wie Präsident Niebaum in feinem Verschleierungsjargon formulierte. Als dann 1993 Dortmund als monatelang einziger im Europacup verbliebener deutscher Klub fast 40 Millionen Mark an Fernsehgeldern kassierte, ließ Niebaum im großen Stil die deutschen Italien-Profis Kohler, Reuter, Riedle, Sammer und Möller zurückholen. Der Champions-League-Triumph von 1997 befeuerte den endlosen Ehrgeiz und die dotcomhafte Wachstumseuphorie in Dortmund noch. Analog zur Gruppe der G8-Industrienationen hatte sich ein Klub der G14, der finanzstärksten europäischen Klubs gegründet. Dort war, neben dem FC Bayern, Borussia Dortmund der zweite deutsche Vertreter. In einer Reihe mit dem AC Mailand, Real Madrid oder Manchester United. Der Crash in den Jahren 2003/2004 war das vorläufige Ende eines Modells, bei dem Dortmund einen Kampf mit von vornherein ungleichen Waffen endgültig verloren geben musste. Trotzdem haben andere deutsche Klubs das Dortmunder Modell der hohen Verschuldung mit Hoffnung auf spätere Rendite zu kopieren versucht. Am weitesten auf dem Weg in den Zusammenbruch sind derzeit Schalke 04 und der ewig überambitionierte Hauptstadt-Klub Hertha BSC. Schalke wandelt mit runden hundert Millionen Euro Schulden haarscharf an dem gleichen Abgrund, an dem Dortmund stand. Nur weil Schalke sein Geld geordneter und systematischer geliehen hat, blieben dem Klub Dortmunder Turbulenzen bisher erspart. Tendenziell sinken zudem Spielergehälter und Ablösesummen für gehobene Mittelklassespieler. Deswegen wird es einfacher für die Nachahmer der Dortmunder Finanz-Akrobatik. Der 1. FC Kaiserslautern hat trotzdem fast seine Lizenz verloren: dubiose Spielertransfers, Bilanztechniken und Beraterprovisionen, dem ehemaligen Vereinsvorstand droht Gefängnis. Vor einem Jahr erschien ein Buch, das die Skandale dokumentiert, Die Simple Minds vom Betzenberg. Das hat Michael Becker geschrieben, er ist eigentlich Spielerberater und in seinem Sweater und den Turnschuhen wirkt er jünger als 51 Jahre. Er redet schnell und viel, will nichts verpassen, immer den Raum abscannen. Wer kommt, wer geht? Wer spricht mit wem? Seit 1999 berät er hauptberuflich Fußballprofis: Michael Ballack, Per Mertesacker, Bernd Schneider oder Miroslav Klose. Als Rechtsanwalt legt Becker Wert darauf, dass er seine Spieler nicht bei Versicherungen und Geldanlagen berät. Das unterscheidet ihn von Kollegen wie etwa Roger Wittmann, der seinen Klienten eine Rundumversorgung bietet. Leute wie Becker haben den deutschen Fußball in den letzten Jahren maßgeblich verändert. Becker sagt, wenn wir schnell sind, können wir ihm ein paar Fragen stellen: Herr Becker, wofür braucht ein Spieler Sie? Für seine Positionierung im Markt und die Abwicklung von Vereinswechseln, für Sponsor- und Werbeverträge, und das nicht nur in juristischer Hinsicht: Ein intelligenter Spieler fragt sich heute, ob ein Trainer zu ihm passt oder ein Spielsystem, ob im Verein vernünftig gewirtschaftet wird. Ist Michael Ballacks Karriere ein Beispiel? Ja, vor seinem Vereinswechsel von Kaiserslautern nach Leverkusen lag ihm 1999 auch ein Angebot des FC Bayern vor. Trotzdem hat sich Ballack damals für Bayer 04 entschieden, weil er glaubte, dass es für seine sportliche Entwicklung besser sei. Allerdings enthielt der Vertrag die Möglichkeit, den Verein nach dem dritten Vertragsjahr gegen eine festgeschriebene Transfersumme verlassen zu dürfen. Die Vertragskonstruktion hat sich, wie die Entwicklung zeigt, als nicht völlig daneben erwiesen. Die Spieler fangen also an, strategisch zu denken? Das Fußballgeschäft hat sich grundsätzlich verändert. Bis etwa 1995 wurden Spieler zumeist durch Seilschaften von Ex-Profis vermittelt, die ihre Geschäfte mit ehemaligen Kollegen machten, die inzwischen als Trainer oder Sportdirektor tätig waren. Der abgebende Verein handelte mit dem aufnehmenden eine Ablösesumme aus, den Mustervertrag gab der Verband vor. Da setzte man Zahlen ein, das war’s. Seit 1995 darf der Spieler bei Vertragsende ablösefrei gehen und sitzt also mit am Tisch. Da hat er natürlich Beratungsbedarf. Leiden nun die Berater an den schrumpfenden Einnahmen in der Bundesliga? Schon, allerdings ist es für die seriöseren Kollegen leichter, sich in einem schwierigen Markt zurechtzufinden. In Boomzeiten kann jeder Dummkopf einen Deal machen. Was muss ein Berater können? Er muss ein komplexes Geschäft in einer kleinen Branche verstehen. Die Gier nach schnellem Geld führt bei manch jungem Kollegen zu fatalen Fehleinschätzungen. Man sollte zum Beispiel nicht versuchen, schlauer zu sein als Uli Hoeneß. Nur der Versuch, ihn vorzuführen, hat ernste Konsequenzen. Da ist man schnell wieder zurück in der Saunaclubbranche.

Am Sonntagmorgen sitzt Pit Gottschalk in seinem Büro im Hamburger Hochhaus des Springer-Verlags. Gottschalk ist Chefredakteur von Sport Bild und hat heute das gleiche Problem wie am Tag zuvor die Sportschau. Die Meisterschaft ist schon längst entschieden, die Absteiger stehen fest. Gottschalk sagt: »Dies war die schwächste Saison, seit ich Sportjournalist bin.« Wegen der neuen Fußballeuphorie sind Auflage und Anzeigenaufkommen dennoch gestiegen. Diese Woche beschwert sich der DFB-Präsident Theo Zwanziger, weil Gottschalk einen Kommentar gedruckt hat, der vom Vorstand des Verbandes eine »Ruckrede« genannte Krisenaussprache beim DFB-Bundestag forderte: Es liege so viel im Argen beim deutschen Fußball – von der Jugendarbeit bis zur Überschuldung der Vereine –, dass der DFB und der Zusammenschluss der Profivereine, die DFL, nicht länger tatenlos zuschauen könnten. Gottschalk: »Doch die Verwaltungsherrschaften antworten mir, eine Ruckrede sei von der Satzung her nicht zugelassen. Das Niveau der Liga wird schwächer, die DFB-Bürokratie trägt Mitschuld an einer einzigartigen Schiedsrichter-Affäre, zum Teil werden die Vereine amateurhaft geführt. Aber die Funktionäre feiern sich weiterhin im Mittelmaß!« Am nächsten Tag sitzen die so beschimpften Funktionäre zum Interview in der DFB-Zentrale in Frankfurt. Die Bild schreibt heute: »Hauptzeuge Ante S. belastet Star-Schiri«. Unten im Foyer warten Kamerateams auf ein Statement zum neuesten Dreh im Skandal. Oben in der Bibliothek ist ein leckeres Käsebuffet bereitet. Zwanziger, ein pastoral wirkender Mann, gibt sich trotz der widrigen Umstände entspannt. Aus seiner Sicht war die vergangene Saison eine einzige Erfolgsgeschichte: Turbine Potsdam gewann den UEFA-Cup der Frauen; der DFB startete das Mädchen-Fußball-Programm; die Jugendnationalmannschaften erzielten hervorragende Ergebnisse, auch wenn die U-17 sich erneut nicht für die EM qualifizieren konnte. Dann sagt Zwanziger: »Die Vertreter der Bundesliga haben sich im Europacup stark präsentiert. Alle Vereine konnten die dritte Runde erreichen und sind nur unglücklich ausgeschieden.« Zwanziger weiß, wie man den deutschen Fußball wieder in die Weltklasse führen kann. Der DFB muss noch mehr Mühe in die Jugendarbeit investieren. Doch wie und wo? Soll der Verband die Basis fördern und kleinen Vereinen Bälle, Trainer und Trikots bezahlen? Oder soll er die Spitzentalente unterstützen mit perfekt ausgestatteten Sportschulen? Eine klare Vorstellung hat niemand. Dabei gibt es doch eigentlich so viele Experten. Die treffen sich sonntags im »Kempinski« am Münchner Flughafen, ein vornehmes Haus, und die Fans, die an diesem Sonntag kurz nach zehn in die Vorhalle stolpern, wirken irgendwie verloren, obwohl es bestimmt hundert sind. Sie tragen Fantrikots über Kugelbäuchen und sehen aus wie eine gealterte Schulklasse, die auf Klassenfahrt einen Thronsaal besucht. Jeden Sonntagmorgen sendet das Deutsche Sport Fernsehen (DSF) aus dem »Kempinski« die Sendung Doppelpass. Fußballexperten sitzen in roten Sesseln und diskutieren den vergangenen Bundesligaspieltag, drum herum hocken die Fans. Der Moderator Jörg Wontorra ruft den Frauen im Publikum zu: »Wenn die Kamera Sie im Bild hat – machen Sie ein Gesicht, als hätten Sie Ahnung von Fußball!« Sie nehmen es hin, als Wontorra ihnen verbietet, in die Kamera zu winken. Sie nicken untertänig, als wollten sie sagen: Hätten wir sowieso nicht gemacht, wir wissen doch, wie das im Fernsehen läuft. Dann geht die Sendung los. Es ist der Sonntag nach dem Pokalfinale, Bayern hat gegen Schalke gewonnen. Wontorra begrüßt die Experten: einen Reporter von Sport Bild, einen vom DFS und den Doppelpass-Teamchef Udo Lattek, Gewinner zahlreicher Meisterschaften, bevor er, als Rentner, seinen Platz im DSF gefunden hat, wo er, wie festgeschraubt im Sessel sitzend, staubige Weisheiten zum Besten gibt.

Der Doppelpass ist eine der erfolgreichsten Sendungen im Spartensender DSF. Auf dem Tisch vor den Diskutanten steht ein Sparschwein, das hier Phrasenschwein heißt, weil jeder was hineinwerfen muss, dem eine Binse in die Rede gerutscht ist. Das Phrasenschwein ist so etwas wie ein Versprechen: als suche man die Distanz zur Fußballszene und ihrer speziellen Sprache. Es ist ein leeres Versprechen. Die Experten plappern genauso drauflos wie jeder am Stammtisch. In dieser Sendung geht es vor allem um die Frage, ob der Spieler Frings von Bayern nach Bremen wechseln wird. Die Debatte, welcher Fußballer wohin geht, beflügelt die Fantasie der Fans, es ist ein bisschen wie früher das Gerede auf dem Pausenhof, wer mit wem geht. Lattek erzählt, er habe am Vorabend noch mit Frings gesprochen, und der wolle unbedingt zu Bremen. Am nächsten Tag wird in der Welt stehen: »Udo Lattek berichtete: Torsten will weg, er würde am liebsten zu Werder Bremen zurückkehren.« Der Doppelpass hat einen idealen Termin im Kalender. Die Sendung – am Sonntagmorgen ohne Konkurrenz – kann das Fußballland mit Gerüchten versorgen, die dann von den Fans verbreitet und von den Journalisten weitergedreht werden. Frings ist später wirklich nach Bremen gegangen; manchmal liegen die Experten sogar richtig. Die reden jetzt über den alten Fußballer Paul Breitner, der sonntags eine Kolumne in der Bild schreibt, mit deren Inhalten die Gäste beim Doppelpass dann wieder konfrontiert werden. Wontorra sagt, Breitner habe geschrieben, Rudi Assauer habe sich überlebt als allein herrschender Manager. Assauer, live zugeschaltet, sagt, das interessiere ihn nicht. Dann ist die Sendung vorbei, aber vorher prostet man sich noch zu, mit einem frisch gezapften Pils, eine Brauerei ist Titelsponsor. Doch die Frage, ob sich jemand wie Assauer überlebt hat und auch ob absoluter Erfolg nach den erfolgsgeilen Neunzigern tatsächlich immer das Maß der Dinge ist, bleibt: Blicken wir noch einmal auf die zwangsweise verjüngte Dortmunder Mannschaft. Der BVB wurde mit Spielern aus dem eigenen Nachwuchs wie Kringe, Brzenska, Kruska oder Gambino noch zur zweitbesten Rückrunden-Mannschaft der abgelaufenen Saison. Die Fans lieben den befreiten Stil des »neuen« BVB, der mehr aus der Not heraus um authentische Spieler wie Metzelder, Kehl, Ricken und Weidenfeller eine andere Begeisterung entfacht. Nun kündigt sich ein Systemwettlauf an: Rückkehr zu Fußballmannschaften, die mit ihrem Klub und ihrer Region verwurzelt sind und eigene Nachwuchstalente wie Sahin, Kruska oder Podolski hervorbringen – oder das anachronistisch anmutende Wettrüsten nach dem Modell Madrid. Wenn Fußball vor allem mit Gefühlen zu tun hat, dürfte das Rennen schon gelaufen sein.