»Marvin, habe ich gesagt, ich fühle den Song anders als du«

Motown-Legende Martha Reeves über die unvergleichliche Hausband des Labels und den einprägsamen Tag, an dem sie »Dancing In The Street« aufnahm, ihren größten Hit.

Foto: ddp

Der Kritiker Greil Marcus nannte ihre Stimme »one of the most poweful voices in rock«. In der Tat ist es immer noch beeindruckend, mit welcher Soulkraft Martha Reeves Anfang der Sechziger jene Hits gesungen hat, die Martha & The Vandellas zum frühen Motown-Top-Act machten: »Love Is Like A (Heat Wave)«, »Nowhere To Run« und natürlich »Dancing In The Street«. Nach dem Ende ihrer Musikkarriere wurde Martha Reeves im Stadtrat von Detroit politisch aktiv. Ich hatte Anfang Januar die Gelegenheite, mit ihr zu sprechen, als sie in Berlin war, anläßlich der Show Memories Of Motown im Hotel Estrel.

Martha Reeves, das britische Musikmagazin Mojo hat in seiner aktuellen Ausgabe die 100 besten Motown-Songs ausgewählt. »Dancing In The Street« steht auf Platz eins dieser Liste. Herzlichen Glückwunsch!
Hallelujah! Ich habe immer an den Song geglaubt, aber jetzt bei Mojo die Nummer eins zu sein – die Ausgabe muss ich mir besorgen.

Können Sie sich noch an den Tag erinnern, an dem Sie »Dancing In The Street« aufgenommen haben?
Sehr gut sogar. Tagsüber hatten wir, die Vandellas und ich, Unterricht in Musiktheorie bei Maurice King, wir haben mit Cholly Atkins unsere Choreographien geübt und waren schließlich noch für zwei Stunden bei Professor Maxine Powell, die »Personal Development« unterrichtet hat. Danach bin ich nach Hitsville, U.S.A. (Anmerkung: das Motown-Hauptquartier) gefahren, um zu gucken, was im Studio so läuft.

Meistgelesen diese Woche:

Da lief bestimmt einiges.
Marvin Gaye war da und hat mir vorgeschlagen, einen Song zu singen, dessen Instrumentalspuren sie gerade aufgenommen hatten – das war »Dancing In The Street«. Marvin hat es mir als Ballade vorgesungen, ganz süß, wie ein Liebeslied. Marvin, habe ich gesagt, ich fühle den Song anders als du. Ich stand mit meinen Kopfhörern im Studio und sah Marvin und die anderen durch die Glasscheibe im Kontrollraum stehen. Kann ich den Song so singen, wie ich ihn fühle, habe ich gefragt? Ich musste an den Karneval in Rio denken. Ich war dort gewesen und hatte gesehen, wie die Leute auf den Straßen tanzen, Spaß haben. Ich kannte auch den Mardi Gras in New Orleans. Ich habe "Dancing In The Street" gesungen, als wäre ich gerade beim Mardi Gras. Ich habe es gut hingekriegt, aber als ich fertig war, sagte der Toningenieur, entschuldige, die Maschine war gar nicht an.

»Ich habe früh in meiner Karriere gemerkt, dass man einen Song leben muss, um eine gute Performance hinzulegen«

Verdammt.
Ich habe mich ziemlich geärgert. Und ein bisschen von der Wut hat sich auf den Gesang übertragen, so dass beim zweiten Mal noch etwas mehr Feuer dabei war. Vielleicht war das Ganze also auch ein Trick der Produzenten. Die zweite Version wurde auf jeden Fall für die Platte benutzt und bringt seitdem die Menschen zum Tanzen.

Haben Sie gleich geahnt, dass der Song ein derartiger Hit werden würde?
Oh ja. Zuerst hatte ich zwar gedacht, dass ich zu elegant für einen Song wäre, der davon handelt, auf der Straße zu tanzen. Aber als ich an Rio dachte, habe ich gemerkt, was in dem Titel steckt. Wenn man eine Platte aufnimmt, hängt alles von der richtigen Einstellung ab. Ich habe früh in meiner Karriere gemerkt, dass man einen Song leben muss, um eine gute Performance hinzulegen.

Es muss toll gewesen sein, mit den Funk Brothers zusammenzuarbeiten, der legendären Motown-Hausband.
Vor Motown gab es diese Band nicht; die haben nicht irgendwo rumgesessen und auf einen Gig gewartet. Die Band wurde von Mickey Stevenson und Clarence Paul zusammengestellt, die in Detroit durch die Clubs gegangen sind und die besten Musiker, die sie finden konnten, zu Motown geholt haben. Das waren alles Jazzer und am Anfang haben sie gesagt, das ist nicht meine Musik, mein Groove, als sie bei Motown R&B aufnehmen mussten. Aber Mickey hat sie dazu gebracht, die Musik zu spielen, die Motown brauchte. Ihre Klasse zeigte sich auch daran, dass sie gut genug waren, um jeder Motown-Gruppe einen eigenen Sound zu geben. Die Temptations klangen nie wie die Miracles, und Martha & The Vandellas klangen nie wie die Supremes. Die Funk Brothers haben mir meinen eigenen Funk gegeben.

Warum bekamen gerade Sie diese Extradosis Funk?
Ich glaube, das lag daran, dass die Musiker mich mochten. Bevor ich einen Vertrag als Sängerin bekam, habe ich neun Monate in der A&R-Abteilung gearbeitet, als Sekretärin von Mickey Stevenson. An meinem allerersten Tag standen plötzlich James Jamerson und Benny Benjamin vor mir. Sie wollten für eine gerade beendete Session bezahlt werden, sonst würden sie nicht die nächste Session spielen, bei der Hattie Littles den Song »Youre The One That I Adore« aufnehmen sollte, bekannt von Bobby »Blue« Bland. Sie standen im Zimmer und sind laut geworden, haben herumgeflucht.

Wie unangenehm!
Ich hatte wirklich ein bisschen Angst vor ihnen und habe Betty O’Shea in der Buchhaltung angerufen, die mir gesagt hat, dass Musiker nur einmal pro Woche einen Scheck bekämen. James und Benny machten aber keine Anstalten zu gehen, sie haben noch lauter geflucht. Da habe ich die beiden direkt mit Betty verbunden und als sie die auch eine Weile angeflucht hatten, hat sie ihnen schließlich die Schecks ausgeschrieben. Ich habe mich also sofort mit den Musikern angefreundet; deshalb ist meine Musik so funky.

Die Ära der Funk Brothers endete, als Motown 1972 von Detroit nach Los Angeles zog.
Dabei ist viel Hoffnung und viel Liebe auf der Strecke geblieben. Ich war danach auch nicht mehr bei Motown unter Vertrag, sondern habe auf MCA weitergemacht. Insgesamt habe ich drei Solo-Alben herausgebracht. Nein, Moment, es waren vier.

Ich kenne nur das erste. Es beginnt mit Van Morrisons Song »Wild Night«, richtig?
Ja, genau. Der Song kommt auch in Thelma &Louise vor. Als Geena Davis ihr Gepäck in den Kofferraum lädt und beschließt, ihren Ehemann zu verlassen, ertönt meine Version von »Wild Night«. Da haben sie mir ein bisschen Ruhm gegeben. Achten Sie darauf, wenn Sie sich den Film mal ansehen.

Versprochen. Letzte Frage: 1985 hatten Mick Jagger und David Bowie einen großen Hit mit »Dancing In The Street«. Wie hat Ihnen diese Coverversion gefallen?
Ich liebe sie! Ich fand es nur ein bisschen schade, dass ich nicht im Video auftreten durfte. Ich habe ein geblümtes Kleid, damit hätte ich gut zwischen die beiden gepasst, wir hätten zusammen tanzen können. Meine allererste Show in England war ein Auftritt bei der Fernsehsendung Ready, Steady, Go! - zusammen mit den Rolling Stones und den Beatles, die damals bei weitem noch nicht diese Superstars waren. Ich kenne Mick Jagger also schon sehr lange. Aber dass er Jahrzehnte danach nochmal zu dieser Zeit zurückgekehrt ist und meine Musik aufgenommen hat – das hat mir sehr geschmeichelt.

Noch bis zum 1. Februar läuft im Berliner Hotel Estrel die Show "Memories Of Motown", bei der die Hits des legendären Labels teilweise von Doppelgängern, teilweise von den Original-Künstlern gesungen werden; so ist zum Beispiel Sylvester Potts Teil der Show, der mit den Contours schon 1961 bei Motown unterschrieb.