Letzte Woche erschien You Are Not Alone (Anti-), das exzellente neue Album von Mavis Staples. Jeff Tweedy hat das Werk produziert und sich dabei große Mühe gegeben, die einzigartige Stimme der 71-jährigen Gospel- und Soulsängerin zur Geltung zu bringen. Seit über fünfzig Jahren steht Mavis Staples auf der Bühne und hat dabei einen Erfahrungsschatz gesammelt, mit dem wohl nur wenige noch aktive Musiker mithalten können. Vor ein paar Wochen hatte ich Gelegenheit, mit ihr zu telefonieren.
Stimmt es eigentlich, dass Ihr Vater vom legendären Bluessänger Charley Patton Gitarre gelernt hat?
Ja, das stimmt. Mein Großvater war Pachtbauer, sie lebten auf einer Plantage in Mississippi. Charley Patton und Howlin’ Wolf lebten ganz in der Nähe. Pops hat gehört, wie Charley Patton Gitarre gespielt hat und deshalb selbst mit dem Instrument angefangen – er wollte den Stil von Charley Patton lernen. Er hat uns einmal gezeigt, wo er seine erste Gitarre gekauft hat, das war in einem kleinen Haushaltswarenladen. Er hat damals nur 10 Cent am Tag verdient, die hat er für die Gitarre gespart.
Der Gitarrenstil Ihres Vaters ist ganz einzigartig. Selbst auf seinen letzten CDs, die er in den Neunzigern aufnahm, hat er noch diesen schwebenden, ätherischen, aber sehr erdigen Sound.
Den hat er damals in Mississippi gelernt. Wir haben Gospelsongs gesungen, aber Pops hat den Blues gespielt. Das hat unseren Sound einzigartig gemacht. Alle Bluesmänner waren beeindruckt von Pops – B.B. King, Muddy Waters, das waren alles seine Freunde. Die haben verstanden, wo sein Sound herkam.
Was war Ihr Vater für ein Mensch? Wie würden Sie ihn beschreiben?
Er war der beste Vater, den wir uns wünschen konnten. Viele Väter haben keine Zeit für ihre Kinder, aber er hat sehr viel Zeit mit uns verbracht und uns sehr geliebt. Als wir klein waren, hat er viel mit uns gespielt und Süßigkeiten für uns gemacht, zum Beispiel Erdnuss-Krokant. Und als wir angefangen haben zu singen, hat er sich immer um uns gekümmert. Er war wie unser Bodyguard.
Wie wichtig war ihm eine gute Bildung?
Sehr wichtig. Er wollte, dass wir uns auszeichnen und Dinge erreichen, die er nicht geschafft hatte. Er selbst hatte in der achten Klasse die Schule verlassen. Später hat er auf dem Bau gearbeitet und gleichzeitig in der Abendschule seinen Schulabschluss nachgemacht. Er hat uns Bücher über wirtschaftlichen Erfolg und die Kraft des positiven Denkens gekauft, zum Beispiel dieses Buch von Sammy Davis Jr. mit dem Titel Yes I Can. Ich bin sehr dankbar, dass mein Vater so präsent in meinem Leben war. Heute wachsen viele Kinder ohne ihre Väter auf, das ist ganz schrecklich.
Die Staple Singers waren mehrere Jahrzehnte lang erfolgreich. Kann man daraus schließen, dass Ihr Vater einen gesunden Geschäftssinn hatte?
Auf jeden Fall. Der Präsident von Vee Jay Records war zufälligerweise anwesend, als wir unseren allerersten Auftritt in der Kirche meiner Tante hatten. Staples, hat er gesagt, ihre Kinder sollten eine Platte machen! Pops hat abgelehnt. Er hat gesagt: Ich weiß nichts über das Musikgeschäft und will meine Kinder nicht in etwas reinbringen, von dem ich nichts verstehe. In den nächsten Jahren hat er alles über das Musikgeschäft gelernt. Er hat sich Bücher gekauft und mit vielen Leuten gesprochen. Erst fünf Jahre später sind wir dann ins Studio gegangen. Er war ein guter Geschäftsmann.
Es muss schwer gewesen sein, ihn zu verlieren.
Als er starb, war ich so niedergeschlagen, dass ich kaum vom Sofa aufstehen konnte. Ich hatte über fünfzig Jahre mit meinem Vater gesungen - jetzt war er nicht mehr da. Irgendwann hat meine Schwester Yvonne gesagt: Mavis, steh auf, Daddy würde wollen, dass du weiter singst. Halte sein Erbe am Leben.
Zur Vorbereitung des Interviews habe ich mal wieder Ihre alten Nummern aus den Fünfzigern gehört. »Uncloudy Day« finde ich bis heute unübertroffen!
Das war die beste Musik unseres Lebens! »Uncloudy Day« war unsere erste Single, auf der B-Seite war»Will The Circle Be Unbroken«. Als diese Platte rauskam, rief die Frau von der Plattenfirma an und sagte, Staples, die Platte verkauft sich wie eine R&B-Hit. Es war die erste Gospel-Platte, die eine Million Stück verkauft hat! Wir sind danach auf Tour gegangen und die Leute haben gewettet, dass ich kein kleines Mädchen war – ich hatte ja so eine tiefe Stimme. Die haben gedacht, ich sei ein Mann oder eine dicke alte Frau. Wir haben uns einen Spaß daraus gemacht, mich auf der Bühne als »Little Mavis« vorzustellen. Als mein Part bei »Uncloudy Day« kam, trat mein Bruder ans Mikrofon und die Leute haben gesagt, ich wusste doch, dass das kein kleines Mädchen ist. Aber dann bin ich an meinem Brüder vorbeigeschlüpft und habe angefangen zu singen: »well – well – well«. Die Leute wurden manchmal richtig wütend! Ein Typ kam an und sagte, er habe bei einer Wette sein ganzes Gehalt verloren. Pops hat gesagt: Tja, dann lass in Zukunft lieber die Finger vom Glücksspiel.
In den Sechzigern waren Sie in der Bürgerrechtsbewegung aktiv und haben viele Konzerte an der Seite von Martin Luther King gegeben.
Dr. King – ich bin so stolz, diesen großen Mann gekannt zu haben. Es ist für mich immer noch eine Ehre, seine Hand geschüttelt und ihm in die Augen gesehen zu haben. Zu singen, bevor er geredet hat.
Wie haben die Staple Singers ihn kennengelernt?
Wir haben ihn getroffen, als wir eines Sonntags in Montgomery, Alabama, waren. Pops hatte ihn schon im Radio gehört und hat uns gefragt, ob wir um elf Uhr zum Gottesdienst in seine Kirche gehen wollten. Wir sind alle in die Dexter Avenue Baptist Church gegangen, und jemand hat Dr. King gesagt, dass wir anwesend seien. Er hat uns begrüßt und gesagt: »Wir freuen uns, dass Pops Staples und seine Töchter heute morgen bei uns sind. Wir hoffen, dass euch der Gottesdienst gefällt.« Als wir gegangen sind, stand Dr. King an der Tür und hat die Hände der Gottesdienstbesucher geschüttelt. Pops hat eine Weile mit ihm geredet. Als er rauskam hat er gesagt, passt auf, ich mag die Botschaft dieses Mannes. Und ich glaube, was er predigt, können wir singen.
Sie begannen dann, die Bürgerrechtsbewegung musikalisch zu unterstützen.
Unser erster Protestsong hieß »March Up Freedom’s Highway«. Dann kam »It’s A Long Walk To D.C.«. Und dann hat Pops »Why Am I Treated So Bad« geschrieben, Dr. Kings Lieblingslied. Wir haben oft gesungen, bevor er gesprochen hat, und Dr. King hat meinen Vater stets beiseite genommen und gefragt: Werdet ihr heute meinen Song singen? Mein Vater hat geantwortet: Ja, Dr. King, wir singen ihren Song.
Was war die Inspiration für dieses Lied?
In dem Song geht es um neun schwarze Kinder, die in Little Rock, Arkansas, in den Schulbus einsteigen und auf eine vorher den Weißen vorbehaltene Schule gehen wollten. Die Weißen haben sie jeden Morgen bespuckt und mit Steinen beworfen, aber diese Kinder sind einfach weitergegangen. Schließlich mussten der Bürgermeister, der Gouverneur und sogar der Präsident anordnen: Lasst diese Kinder in den Bus. Wir saßen vor dem Fernseher, Pops in seinem bequemen Sessel, und haben gesehen, wie die Kinder versuchten, in den Bus zu kommen und ein Polizist seinen Schlagstock quer vor die Tür gehalten hat. An diesem Tag hat er den Song geschrieben. Diese Zeiten werden ich nie vergessen.
Heute haben die USA einen schwarzen Präsidenten.
Das war ein Teil von Dr. Kings Traum. In der Nacht, als Obama gewählt wurde, habe ich vor Freude einen ganzen Eimer voller Tränen geweint. Ich lief durch mein Haus, redete mit Pops, redete mit Dr. King, so glücklich war ich. Dr. King hat viel erreicht, aber der Kampf geht weiter. Schwarze Menschen sind immer noch Opfer von Hass, Ungerechtigkeit und Intoleranz.
Damals haben Sie auch Bob Dylan kennengelernt. Es heißt, sie wären ganz gut mit ihm befreundet.
Ja, wir sind gute Freunde. Wir telefonieren ab und zu und treffen uns gelegentlich. Wir freuen uns immer, uns zu sehen. Er hat mich vor ein paar Jahren angerufen und gefragt, ob ich »Gonna Change My Way Of Thinking« mit ihm singen würde. Ich habe ihn auch mal gefragt, ob er nach Chicago kommen würde, um in einem Dokumentarfilm über die Staple Singers zu reden. Sein Manager hat gesagt, Mavis, so etwas hat er noch nie gemacht! Am nächsten Tag hat er mich zurückgerufen: Mein Gott, Mavis, Bob kommt nach Chicago und macht’s! Hatte ich es doch gewusst! Wir kennen uns einfach schon so lange. Ich wusste, dass er mir keinen Gefallen abschlägt. Wir haben uns getroffen, als wir Teenager waren! Wir werden immer Freunde bleiben.
Viele Leute werden überrascht sein, dass Jeff Tweedy von Wilco Ihr neues Album produziert hat. Wie kam es dazu?
Er kam in einen Club in Chicago, wo ich eine Live-CD aufgenommen habe. Nach dem Konzert erschien er in meiner Garderobe und meinte, das sei eine tolle Show gewesen. Drei Wochen später hat mir mein Manager gesagt, dass er ein Album mit mir machen wolle.
Kannten Sie Wilco überhaupt?
Ja, klar. Sie haben eine Menge Message-Songs. Die Art, wie sie spielen, erinnert mich an The Band. Ich habe mich dann mit Tweedy zum Lunch getroffen. Er hat erzählt, dass er mit den Staple Singers aufgewachsen sei und meinen Vater bewundert. Nach zweieinhalb Stunden kamen wir aus dem Restaurant und wussten, das wird gut. Als nächstes hat er mich ins Wilco-Loft eingeladen und mir zwölf Songs vorgespielt, die er für das Album in Sinn hatte – acht davon fand ich toll, einige haben mich regelrecht umgehauen. Darunter waren Songs, die Pops für mich gespielt hat, als ich klein war, zum Beispiel »Creep Along Moses« und »Wonderful Saviour«. Alte Gospelklassiker von den Golden Gate Jubilee Singers. Tweedy ist ein großer Gospel-Fan.
Und die Aufnahmen verliefen genauso gut?
Das waren die entspanntesten Sessions, die ich je gemacht habe. Wir hatten jede Menge Spaß. Jeff ist ein Komiker. Alles ging vorbei wie im Flug.