Frau Hagen, ich habe Ihnen zwei Bände der SZ-Diskothek mitgebracht, auf denen zwei alte Lieder von Ihnen zu finden sind: »Du hast den Farbfilm vergessen« und »Unbeschreiblich weiblich«. Wie stehen Sie heute zu diesen Songs?
Die sind Teile von meinem Werk. Den einen habe ich allerdings nicht selbst geschrieben, den habe ich mit Kurt Demmler zusammen geschrieben. Man durfte in der DDR ja nicht einfach so einen Liedtext verfassen.
Das durften nur die staatlich beglaubigten Komponisten und Schlagertexter, oder?
Ja, genau. Das können Leute, die in Westdeutschland groß geworden sind, überhaupt nicht nachvollziehen. Wir haben die Zensur am eigenen Leib miterlebt, da sind wir den Wessis einen Schritt voraus. Deshalb gibt es viele Leute aus dem Osten, denen die Zensur im Westen scheißegal ist, die sich einfach darüber hinwegsetzen.
Das repressive Gesellschaftssystem der DDR hat viele zum Widerstand angeleitet?
Wir wollten frei sein. Und die Freiheit muss man sich erkämpfen. In der DDR hat das mit Gottes Hilfe dann ja auch geklappt, da war ich allerdings schon weg. Das ist der Oberknaller, was man mit Gottes Hilfe alles schafft! Dass die Mauer friedlich gefallen ist, geht für mich als Gottesbeweis durch.
Hat Sie Ihre Zeit in der DDR auch musikalisch geprägt?
Ja, natürlich! Dort gab es einige der weltbesten Sängerinnen, zum Beispiel Uschi Brüning und Angelika Mann. Ich war Mitglied in einem Backgroundchor, wo diese Weltklasse-Sängerinnen auch drin waren. So konnte ich schon von Kleinauf von richtig guten Kolleginnen lernen. Und dann kam auch Mahalia Jackson nach Ost-Berlin, die Gospel-Queen.
Die haben Sie gesehen?
Nein, dazu war ich noch zu klein. Aber ich habe sie in der Plattensammlung meiner Mutter entdeckt.
Hat Sie der Liedermacher-Sound Ihres Stiefvaters Wolf Biermann auch interessiert?
Na klar. Sehr gut fand ich auch Bertolt Brecht. Sein Lied aus dem Gefängnis singe ich immer noch. Ich bin ja immer noch im Gefängnis.
Kurz nach Ihrer Ausreise aus der DDR im Jahr 1976 gingen Sie nach London und waren gleich mittendrin in der Punkszene.
Wir waren alle ganz jung, mit 23 war ich schon die Stubenälteste. Ich habe mich um meine jüngeren Kolleginnen gekümmert und habe denen bei den Proben geholfen, von Sängerin zu Sängerin.
Sie waren wahrscheinlich die einzige dort, die eine musikalische Ausbildung hatte.
Nein, unter den Punkies gab es auch welche, die als Kind auf der Musikschule gewesen waren. Außerdem war meine Ausbildung nicht professionell. Ich habe zwar ein Jahr am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst Gesangsunterricht und Marxismus-Leninismus-Unterricht bekommen, aber ich habe vorher auch schon professionell gesungen. Das hatte ich mir selbst beigebracht: Im Theater, wo meine Mutter gespielt hat, gab es immer Opernsänger, die sich eingesungen haben – so etwas habe ich imitiert. Oder im Radio Lieder mit Tonband mitgeschnitten, mit Lautschrift die Texte aufgeschrieben und dann nachgesungen. James Brown, Tina Turner und Janis Joplin waren meine Lehrer. So habe ich viele unterschiedliche Stimmen und Stimmlagen entdeckt.
1978 hatten Sie mit dem Album Nina Hagen Band einen großen Hit. Warum ist die Band vor dem zweiten Album wieder auseinandergebrochen?
Schon bevor ich die Band traf, hatte ich einen Vertrag als Solokünstlerin in der Tasche. Aber die Musiker wollten nicht als Band angeheuert werden, die wollten in meinen Vertrag mit rein. Das war auf der Tour sehr ungerecht: Ich hatte die ganze Performance zu machen, die brauchten nur ihre Instrumente zu spielen. Deshalb fand dich das gemein, plötzlich alles wie in der DDR durch fünf zu teilen. Den Jungs ging es nur ums Geld, irgendwie blieb die Freude an der Arbeit auf der Strecke.
In den Achtzigern haben Sie mit UFO-Sichtungen von sich reden gemacht. Man hatte den Eindruck, dass Ihnen viele andere Dinge wichtiger waren als ihre Karriere.
Mit dem Musikbusiness habe ich tatsächlich gar nichts zu tun. Ich mache Musik, weil ich einen Auftrag von Gott habe. Seit meinem 17. Lebensjahr bin ich unterwegs als Volkssängerin, um Herzen zu öffnen. So habe ich mich immer gesehen, als Künstlerin des Volkes.
»Für eine ganze Nacht war ich nicht mehr identisch mit meinem irdischen Körper. Ich war in einer anderen Dimension und habe Gott ins Gesicht geschaut«
Auch einem indischen Guru haben Sie öffentlich gehuldigt.
1987 habe ich in Hamburg ein Poster gesehen von einem Guru namens Babaji. Der sah so schön aus auf diesem Poster, so vertrauensüwrdig – so wie Jesus. Ich bin zu einem Vortrag von einer seiner Jüngerinnen gegangen, weil ich dachte, den musst du auschecken. Dieser Guru hat behauptet, er arbeite Hand in Hand mit Jesus Christus an der Rettung der Menschheit und sei der Meister aller Meister. Er hat viele Leute davon überzeugt, dass er der wahre Christus sei. Ich war dann in Indien in seinem Ashram, aber dort sind mir Stück für Stück die Ungerechtigkeiten und das Lügengebäude klar geworden. Dort ging es um Kontrolle, nicht um Wahrheit und Liebe.
Sie haben mit dem Guru abgeschlossen und sind zum Christentum zurückgekehrt?
Christ war ich die ganze Zeit. Jesus ist für mich die Number One, seit ich 17 bin und bei meinem Sterbeerlebnis Gott getroffen habe.
Können Sie etwas genauer beschreiben, was Ihnen da wiederfahren ist?
Das war auf einem LSD-Trip. Ich bin gestorben, richtig gestorben. Das war ein Nahtoderlebnis, bei dem ich in der Hölle gelandet bin und Gott aus tiefster Seele um Hilfe gerufen habe. Und Gott hat mir geholfen. Es war ein sehr geistiges Erlebnis. Für eine ganze Nacht war ich nicht mehr identisch mit meinem irdischen Körper. Ich war in einer anderen Dimension und habe Gott ins Gesicht geschaut.
Wie sah Gott denn aus?
Das wird jeder Mensch dann sehen, wenn er Gott erblicken wird. Ich sage nur, Gott ist die Liebe in Person. Ich habe der Liebe in Person in die Augen schauen dürfen. Wenn man so etwas erleben durfte, ist das ganze Leben davon geprägt. Ohne dieses Erlebnis könnte ich das Leben auf diesem Planeten wohl nicht durchstehen.
Lassen Sie uns noch ein bisschen über Ihre neue Platte Personal Jesus reden. Wahrscheinlich wird es vielen anderen genauso gehen wie mir: Ich war überrascht, dass Sie eine reine Gospelplatte gemacht haben.
Aber ich habe doch schon ganz früh angefangen, Gospel zu singen, schon Mitte der Achtziger. Auf meiner ersten englischsprachigen Platte Nunsexmonkrock sind ganz viele Bibelauszüge. Das »Vater Unser« habe ich auf Deutsch und auf Englisch in einer Säbeltanz-Version gemacht. Im Grunde genommen findet man Gott und Christentum auf allen meinen Platten.
Nun steht die christliche Botschaft im Vordergrund.
Ich sage schon seit Jahrzehnten am Ende von jedem Konzert: »Jesus, hilf mir doch, dass ich mehr Gospel singen kann.« Ich wollte schon so lange mehr davon machen, so wie Al Green, Sister Rosetta Tharpe, Marion Williams. Ich habe lange jeden Morgen Elvis Presley aufgelegt, sein Triple-Album Peace In The Valley. So geile Songs! Die habe ich alle gelernt und mir einfach von Gott gewünscht, damit mal ein Album zu machen. Vor zwei Jahren habe ich alles Geld zusammengekratzt, das ich nur finden konnte und wir haben angefangen. An meinem 55. Geburtstag, sage und schreibe, war das Album fertig. Das war eine fette Gebetserhörung.
Was mir besonders gut gefällt: Sie machen traditionelle, stilechte Southern-Gospel-Musik.
Die Bild-Zeitung hat bestimmt erwartet, dass ich irgendwelchen Gospelpunk mache. Aber ich wollte das absichtlich ganz traditionell halten und mich in die All Saints Christian Band einreihen, so wie es in dem Lied heißt: »Oh when the saints go marchin’ in / I wanna be in that number ...«
Sagen Sie noch ein Wort zum Woody-Guthrie-Song »All You Fascists Bound To Lose«.
Mir ist es egal, ob jemand Buddhist oder Moslem oder Christ ist – für mich ist es wichtig, ein Anti-Faschist zu sein und den Willen zu haben, friedlich mit den anderen zusammen zu leben. So wie es Mahatma Gandhi und Martin Luther King gesagt haben, meine Vorbilder. Deshalb musste unbedingt noch ein richtig fetter antifaschistischer Song auf die Platte.