Philip Bailey, was war der erste Musikstil, für den Sie sich interessiert haben?
Jazz. Schon mit neun oder zehn war ich Jazzfan. Die Mutter meiner besten Freundin hatte eine große Plattensammlung. Wenn die anderen draußen gespielt haben, saß ich im Haus und habe mir Platten angehört. Die meisten Erwachsenen hätten das nicht erlaubt – sie fand es gut. Ich habe aber auch darauf geachtet, keine der Platten zu zerkratzen.
Viele der alten Blue-Note- und Riverside-LPs haben tolle Cover, auf denen die Musiker hip und ein wenig mysteriös aussehen. War es auch dieser Look, der Sie zu den Platten hingezogen hat?
Ja, unbedingt. Ich habe die Cover angeschaut und mir ausgemalt, wer diese Leute sind, was sie denken und was für Leben sie leben. Diese Musiker sahen so cool aus, so mysteriös! Heute würde man sagen: Sie hatten jede Menge swagger.
Inzwischen haben die Musiker viel von ihrem Geheimnis verloren: Schnell mal googeln, schon weiß man alles.
Ich glaube, es war früher ein Vorteil für die Künstler, dass nicht so viel über sie bekannt war. Es hat sie im Kopf der Fans unsterblich gemacht. Jeder Fan hat sie für sich zum Leben erweckt.
Sie sind bekannt für Ihreen Falsettgesang. Wann haben Sie diese besondere Fähigkeit entdeckt?
Ich habe schon als Kind Sängerinnen wie Nancy Wilson, Sarah Vaughan und Dinah Washington imitiert. Aber erst als ich anfing, in einer Band zu spielen, hat mich mal ein Musiklehrer darauf angesprochen, dass ich doch ein gutes Falsett hätte. Ich wusste zuerst gar nicht, was er meint! Erst danach wurde mir klar, dass mein Stimmumfang etwas besonderes sein könnte.
Die große Falsett-Tradition im Soul hat Sie nicht beeinflusst?
Doch, ich mochte auch Curtis Mayfield, Eddie Kendricks von den Temptations und den Typen von den Delfonics.
Als Sie 1972 bei Earth, Wind & Fire eingestiegen sind, war das Debütalbum der Band bereits erschienen. Hatte der Bandleader Maurice White ein fertiges Konzept in der Schublade?
Nein, das hat sich eher so entwickelt. Wir alle wurden zu Faktoren in seiner musikalischen Gleichung.
Earth, Wind & Fire haben immer viele verschiedene Einflüsse verarbeitet. Aber das Fundament war Funk, oder?
Würde ich gar nicht sagen. Den Funk mussten wir erst lernen, nachdem uns Parliament/Funkadelic bei einem gemeinsamen Auftritt mal total an die Wand gespielt haben. Urspünglich waren wir eher auf dem Fusion-Trip. Al McKay war derjenige, der bei uns darauf geachtet hat, dass der R&B nicht zu kurz kommt. Der hat Maurices abgefahrene Ideen mit einem Groove unterlegt.
»Meine Musik ist kein Selbstzweck, sie ist ein Vehikel, durch das Gott seine Botschaften auf die Reise schickt«
Sehr früh haben Sie brasilianische Musik adaptiert. Das hat Ihrem Sound einiges an Raffinesse hinzugefügt.
Wir waren große Fans von Milton Nascimento und Sergio Mendes & Brasil 66. Brasilianische Harmonien waren sehr wichtig für unser Melodiegefühl.
Viele erfolgreiche Siebziger-Acts haben in den Achtzigern den Faden verloren. Wie haben Sie es geschafft, an der Spitze zu bleiben?
Wir haben erkannt, dass die Band und unsere Musik größer sind als individuelle Befindlichkeiten. Letzten Endes ist es meiner Meinung nach aber Gottes Gnade, dass uns so eine lange Karriere gewährt wurde. Ich danke Gott dafür, dass er uns auf diese Weise gesegnet hat. Selbst heute sind wir immer noch so populär wie eh und je. Gerade sind wir in Japan, letzten Monat waren wir in Europa, im Herbst touren wir durch die Staaten, danach Mexico, später wieder Europa.
In den Achtzigern hatten Sie den von Phil Collins produzierten Welthit »Easy Lover«, haben gleichzeitig jedoch Gospel-Platten aufgenommen. Fühlten Sie sich berufen?
Ich habe mich in meinem Leben immer dazu berufen befühlt, die Dinge zu tun, die ich getan habe. Meine Musik ist kein Selbstzweck, sie ist ein Vehikel, durch das Gott seine Botschaften auf die Reise schickt. Das ist mein Lebensweg, ich bin immer noch unterwegs, es ist immer noch sehr aufregend für mich – und manchmal ein bisschen beängstigend.
Den Kontrast zwischen Ihren Gospel-Alben und Ihren Pophits finde ich sehr reizvoll.
Im Musikgeschäft geht es immer auf und ab, und die Gefahr, den Spaß an der ganzen Sache zu verlieren, ist relativ groß. Um das zu vermeiden, mache ich immer mal wieder andere Dinge, so wie die Gospel-LPs. Wenn die Liebe zur Musik irgendwann verschwände und nur noch das Geschäft dominiert, wäre das schlimm.
Und die Leute würden es merken.
Genau. Wenn du die Leidenschaft verlierst, hört das jeder.
Wie sind Sie denn damals mit Phil Collins zusammengekommen?
Unsere Bläsersektion, die Phenix Horns, hatten schon vorher mit ihm zusammengespielt. Die haben uns miteinander bekannt gemacht. Auf meinem zweiten Solo-Album wollte ich einen Song von ihm covern, aber die Plattenfirma hat vorgeschlagen, dass er gleich das ganze Album produzieren soll. War eine tolle Sache: Er ist auf jeden Fall einer der coolsten Superstars, die man je treffen wird.
Maurice White wurde schon vor über 20 Jahren mit Parkinson diagnostiziert. Wie geht es ihm?
Recht gut. Wer ebenfalls Verwandte hat, die an Parkinson leiden, weiß, dass diese Krankheit eine große Herausforderung ist und dass man gute und schlechte Tage hat. Aber wie bei allem ist Maurice auch hier ein Champion. Er ist immer noch eine große Inspiration für uns und lebt ein erfülltes Leben.
Hat er am neuen Album Now, Then & Forever (Sony Music) mitgewirkt?
Nicht direkt, außer mit moralischer Unterstützung. Es ist das erste Album, das ich maßgeblich betreut habe. Mit dem Titel wollten wir die Essenz von Earth, Wind & Fire einfangen. Wir wissen, dass unsere Musik uns überdauern wird.
Earth, Wind & Fire hatten immer eine starke Message. Was ist die Botschaft des neuen Albums?
Die gleiche wie immer. Es war von Anfang an Maurices Idee, mit der Gruppe eine positive Botschaft zu senden, die die Menschen näher zu einem höheren Bewusstsein bringt.