»Die Motivation ist mir abhanden gekommen«

Zurück in Tokio, zurück im vermeintlichen Alltagstrott. Yuko arbeitet wieder für die Werbung, kann sich aber weder konzentrieren noch richtig motivieren. Und Zweifel lassen sich nicht mit einem Geigerzähler messen.

22. März
Ich bekomme eine E-Mail von meinem Arbeitgeber. Die vorläufige Entspannung am Atomkraftwerk in Fukushima führt dazu, dass von heute an viele Unternehmen in Tokio wieder zum Tagesgeschäft übergehen.

Motivationsgrundlage?
12:00 Uhr. Ich versuche zu arbeiten, aber es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich bekomme wohl Heuschnupfen. Und mir scheint auch die Motivation abhanden gekommen zu sein, weiterhin in der Werbeindustrie tätig zu sein. Doch einen sinnvollen Alternativplan gibt’s auch noch nicht. Mhmmm…vielleicht haben Sie ja eine Idee.

Das Meer ist tabu
15:00 Uhr. Meeting in einem Studio für Videoschnitt in Meguro. Die seit Wochen geplante TV-Reklame wird abermals besprochen. In der ewig umtriebigen Werbeindustrie gab es während der Katastrophe kaum Pausen. Und vor allem der Videoschnitt lief auf Hochtouren, weil so viele dringend erforderliche Änderungen an bereits fertig produziertem Material vorgenommen werden musste. Die Cutter mussten alle Szenen, in denen das Meer, Hubschrauber oder große Menschenmengen vorkamen, rausnehmen. Für alle, die ihre Produkte anpreisen wollen, sind nun selbst scheinbar harmlose Claims wie “Let’s go to the seaside” tabu.

Meistgelesen diese Woche:

Zeit der Rückschau
18:30 Uhr. In einer Filiale von Book-Off, einer Kette für Secondhand-Bücher, kaufe ich mir “Hi no Tori (Phoenix)“ von Osamu Tezuka, dem Großmeister der japanischen Comics. Die tiefschürfende Manga-Serie gehört zum Besten, was der Comic-Markt derzeit zu bieten hat. Sie handelt – oberflächlich gesehen – vom Kampf einiger Unsterblicher und beschreibt dabei das Leben in seinen unterschiedlichsten Facetten. Auch ich mache mir Gedanken darüber, welche Wendungen mein Leben im Moment nimmt. Das dürfte ganz normal sein für jemanden, der gerade das größte Unglück seiner Generation aus einer dann doch einigermaßen sicheren Distanz miterleben musste. Ich weiß, die Menschen im Norden hat es doppelt erwischt: zuerst die Flutwelle, nun die atomare Bedrohung. Sie reagieren sehr pragmatisch, konzentrieren sich darauf, was Tag für Tag vor ihnen liegt. Für sie ist die Zeit der Rückschau noch nicht gekommen.

Nichts Kritisches in Tokio
22:00 Uhr. Bin mit Fumi und Tatsu im Café Biji, das liegt direkt in unmittelbaren Nachbarschaft zu unserer Wohnung. Wir machen einen Rundumschlag, mutmaßen, welchen Verlauf die Dinge nehmen werden, vornehmlich Fukushima. Tatsu sagt, er checke im Netz regelmäßig mehrere inoffizielle Landkarten mit integriertem „Gaigah Kauntahh“ (soweit ich weiß eine deutsche Erfindung), die über den Fall oder Anstieg von Radioaktivität in ganz Japan informieren. Im Bereich Tokio gab es heute einen leichten Anstieg. Nichts Kritisches.

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
Yukos Tagebuch (III) - "In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein
Yukos Tagebuch (IV) - "Ich möchte in aller Bescheidenheit etwas klarstellen"
Yukos Tagebuch (V) - "Früher hätte ich gedankenlos gesagt: Ist ja wie ausgestorben hier"
Yukos Tagebuch (VI) - "Die Belanglosigkeit ist wohltuend"