Kein Speicherplatz mehr auf dem Aufnahmegerät, ich sitze im Zug und lösche Gespräche. Höre hinein in Tassengeklapper und Räuspern, verlegene erste Sätze, das Rauschen von Telefonverbindungen. Im Ordner E plötzlich eine Kinderstimme: Weißt du, was das größte Glück der Erde wäre? Es ist Marthas Stimme, sie liest vor, eine Tiger-und-Bär-Geschichte. Sie spricht langsam, an manchen Wörtern bleibt sie hängen. Anglertraum. Bienenstichkuchen. Die Datei ist von 2011, Martha ist acht. Louise hört zu, ab und zu lachen sie: Der Tiger will eine Hollywoodschaukel, so ein langes Wort.
Zuhause spiele ich es den Mädchen vor. Ich weiß, welches Buch das ist, ruft Martha: Ach, so schön ist Panama. 20 Minuten mühsames Lesen einer Zweitklässlerin, ich sitze am Küchentisch und soll still sein. Mich nicht bewegen. Sie hören zu. Kichern. Ich weiß, welches Bild jetzt kommt, flüstert die eine. Das Buch steht in meinem Regal, die andere. Sie sind ganz bei sich. So waren wir, stimmt, sie erkennen sich in den Figuren wieder. Es sind ihre Gefährten. Wie die Kinder aus Bullerbü, Onkel Wanja oder Pinocchio.
Sie sind mit ihnen von Dächern gesprungen oder haben Gärten entdeckt. Immer sind sie heil aus der Sache rausgekommen. Niemand von ihnen hat sich getrennt. Es gibt keine Wochenwechsel, kein Hin und Her, nur Bleibendes. Eine unantastbare Welt, in der sich Martha und Louise bewegen. Die Geschichten sind so wahr wie das tatsächlich Erlebte, begreife ich, während ich mich sagen höre: Martha, lies morgen weiter, das Kapitel ist zu lang.
Die Figuren stehen ihnen zur Seite, ohne dass ich es bemerke. Je öfter sie ihre Geschichten hören, desto sicherer fühlen sie sich. Gilt auch für ihre eigene: Mama, sagt Louise am Telefon in einer Vaterwoche, ich schaue das rote Fotoalbum an. Auf dem einen Bild sitzen wir im Tretboot, eine Frau ist dabei. Vielleicht Lea? frage ich. Ist es der See im Englischen Garten? Ja, sagt Louise, es muss Lea sein. Wir hangeln uns durch Kindergeburtstage und Ausflüge, erinnern uns, wer wir sind. Vergewissern uns, dass wir eine Familie sind.
Drei auf einem Bett, Martha hat jetzt das Panama-Buch geholt und die Stelle aufgeschlagen, die sie vor fünf Jahren gelesen hat. Weißt du, was das größte Glück der Erde wäre? Sie spricht schnell um zu zeigen, wie pipileicht ihr das jetzt fällt. Bienenstichkuchen. Ist doch kein schweres Wort. Wir folgen Tiger und Bärs Glückssuche, die bis in alle Ewigkeit eleganter sein wird als die eigene.
Illustration: Grace Helmer