Folge 48: Die Kunst des Abschieds

Wenn man sich scheiden lässt, geht es einem wie einem abgesetzten Seriendarsteller: Die Figur, die man so lange gespielt hat, steht nicht mehr im Drehbuch. Aber das Leben hat mehr als eine Rolle für einen parat. 

Meinen ersten Serientod habe ich in einem Wohnwagen an der Ostsee beobachtet. Ich war vielleicht fünf, meine Großmutter beschäftigt, und ich schaute verbotenerweise deutsches Vorabendprogramm. Ich hörte, wie ein Mann erschossen wurde, sah, wie sein Bademantel sich rot färbte. Er lag auf der Straße vor dem Hotel, das er in Eile verlassen hatte, um seine Geliebte aufzuhalten. Ich teilte das Entsetzen der anderen Darsteller und meiner Großmutter, die hinzugekommen war und den Tod der Figur laut bedauerte.

In echt, weiß ich, dauert das Aussteigen länger. Monate. Jahre. Ich bin in den vergangenen zwei Jahren ziemlich oft ausgestiegen. Ich habe eine Ehe aufgelöst, Wohnung, Telefonnummer und Bank gewechselt, die Supermärkte auch. Und immer wusste ich, Paul ist ja da. Paul, der mich leicht macht, dem ich so gerne durch das Haar streiche. Paul, der den Kindern ein Freund ist. Am Morgen trinkt er mit ihnen Kakao. Er spielt Brettspiele, das habe ich nie gemacht. Er rechnet mit ihnen die Matheaufgaben.

Wo ist Paul? fragen mich Martha und Louise, wenn wir Abendbrot essen. Paul arbeitet, erkläre ich. Er ist Schauspieler, abends steht er auf der Bühne. Seine Zeiten sind nicht unsere, können es nicht sein, es ist nicht wichtig. Geteilte Zeit bleibt eben besondere Zeit, wir leben ohne gemeinsame Gewohnheiten, die Kinder fragen nicht mehr. Manchmal streiten Paul und ich. Unsere Sprachen unterscheiden sich, wir missverstehen uns und beginnen, gegen die Rolle zu rebellieren, die uns der andere zuzuteilen scheint. Sie ist ungerecht, finden wir, und versuchen uns zu retten indem wir sie umschreiben. Abgekämpft und verzweifelt erklären wir uns zu Statisten. Auf der Erde ist kein Platz für unsere Liebe, Songtext der Kafka Band, einer seiner letzten Links.

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Zwei Fragen habe er, schreibt ein ehemaliger Klassenkamerad, der eben ein Haus an der See gebaut hat, wo er mit Frau und Kind eingezogen ist. Sei das wahr, was ich in der Kolumne schreibe? Und zweitens: Bereue ich? Genau so hat es sich zugetragen, ja, und ich bereue es nicht. Aber was heißt das schon. Mich macht die Frage nach der Reue wütend. Was soll aus ihr resultieren? Das Versprechen, es nächstes Mal besser zu machen? Und was heißt: besser? Geht es um Demut? Ist es sie, die bilanziert werden soll? Den Ausstieg zu bereuen - ein niederschmetternder Gedanke. Nur in der Serie Dallas wurde mal der Tod eines Darstellers revidiert, indem das Vorhergeschehene zum Traum erklärt wurde. Eine komplizierte Sache.

Wenn mir Paul einfällt, sein liebes Gesicht, sein Haar, muss ich auf meinen Balkon treten und rauchen, obwohl es nachts ist und ich schon Zähne geputzt habe. Ich schaue auf einen zweistöckigen Flachbau, den jemand zwischen die hohen, alten Häuser gebaut hat und denke über Zufall und Schicksal nach und darüber, was Paul wohl gerade macht. Ich rauche den Kummer weg, das geht ganz gut, und fühle die Freiheit vor, die unser Ausstieg mit sich bringt, in nächster Zeit, bald.