Meist gegen halb acht springe ich auf den Balkon, der an den Fahrstuhl grenzt, und versuche meine Töchter durch den wuchernden Knöterich hindurch noch einmal zu küssen. Ich verabschiede sie in die Schule und jeden zweiten Montag in eine Vaterwoche. Also sind die Küsse leicht, manchmal vehement, Druckknöpfe auf Stirn und Haar, bleib mir mein Kind, sagen sie, ich bleibe dir deine Mutter. Ich winke in den Hof und frage mich, wie viele Eltern eben jetzt ihre Kinder für Tage oder Wochen verabschieden.
Ich weiß wenig über sie. Küssen sie auch durch Knöterich? Schalten sie das Radio ein, um sich abzulenken? Fahren sie früher ins Büro oder bummeln sie den Kummer weg? Und wann ist der vorbei? Es gibt viele Ratgeber, die sich damit auseinandersetzen, wie man die Eltern-Kind-Beziehung intensiviert, aber keinen, der erklärt, wie man sie lockert, vom Loslassen erwachsener Kinder einmal abgesehen. Scheint irgendwie privat zu sein, heikel fast, ist man doch als Mutter bitte vor allem eines, nämlich glücklich.
Indem ich meine Beobachtungen teile, vom Abschiednehmen schreibe, werde ich für einige Leserinnen zur humorlosen Jammermama. Zu einer verzweifelten Frau, schwermütig und selbstmitleidig, so steht es in den Kommentaren. Und wie bitte käme ich dazu, ständig meine Beziehung zu den Kindern zu hinterfragen? Unreflektiertes Dauergenöle, eine Leserin möchte mich schütteln. Insgesamt sei es sehr, sehr anstrengend mit mir.
Ein Missverständnis vielleicht: Ist es nicht viel mehr das Muttersein an sich, das sehr, sehr anstrengend ist? Wir erwarten mehr von uns als wir leisten können, immer. Da ist dieses jahrhundertealte Mutterideal, dem wir heimlich folgen und das uns permanent ein schlechtes Gewissen anbietet. Gleichzeitig vergleichen wir unsere Ansprüche untereinander, und weil jede Mutter anders ist, werden wir unsicher. So viele Möglichkeiten der Hingabe und Fürsorge, wie denn jetzt? Verwirrt halten wir an dem fest, was wir als richtig empfinden. Aus Erfahrungen werden Überzeugungen, Andersdenkende wahlweise zu Raben- oder Übermüttern erklärt.
Warum greifen wir an, um uns zu verteidigen, streiten wir über Erziehungsmethoden, Ernährung, Schlafenszeiten von Kindern? Die Schriftstellerin Susan Sontag schrieb, ihr Sohn David sei auf Mänteln groß geworden. Sie hat ihn zu jeder Party mitgenommen, wo er irgendwann einschlief. Wunderbar, macht sie nicht zur schlechten Mutter, auch wenn mich das, Achtung, anstrengen würde. Jede Familie ist einzigartig – vielleicht könnten wir aufhören, uns an den immer größeren Unterschieden abzuarbeiten, sie zu bewerten. Gehen wir mal davon aus, dass wir ziemlich viel richtig machen, einfach so. Andere Lebenskonzepte wären weniger bedrohlich, Zweifel ließen sich entspannter besprechen – vorausgesetzt, wir teilen sie.
Illustration: Grace Helmer