Vergiftet

Wenn eine Gruppe Schüler menschenverachtende Witze über Flüchtlinge machen: Muss ich mich dann einmischen? Die Gewissensfrage.

»An der S-Bahn-Station hörte man vor einigen Tagen einen lauten Knall wie von einem Schuss. Aus einer Gruppe von älteren Schülern dann eine laute Stimme: ›Endlich ein Flüchtling weniger.‹ Allgemeine Heiterkeit in der Gruppe. Ich war entsetzt, weil die Schüler, wenn auch im Scherz, einen fiktiven Mord begrüßten. Hätte ich die Gruppe darauf ansprechen müssen?« Michael R., München  

In seinem 1947 erschienenen Buch LTI – Notizbuch eines Philologen beschäftigt sich der Romanist Victor Klemperer mit der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reichs. Klemperer vertritt darin die Auffassung, dass der Nazismus, wie er ihn nennt, die stärkste Wirkung auf die Menschen nicht durch die Reden und Ausführungen von Hitler und Goebbels erzielt habe, sondern durch die Sprache. »Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«

In Ihrem Fall geht es nicht um die Verwendung von Worten, dennoch trifft Klemperers These hier meines Erachtens den Punkt: die schleichende Beeinflussung des Denkens durch Sprache und Kommunikation. Auch wenn es sich hier um eine fiktive Tötung und einen Scherz darüber handelt, enthält der Witz ein Körnchen Wahrheit bei dem, der ihn gerissen hat. Und seine offene Verwendung und das Lachen darüber führen dazu, diese Idee ein klein wenig akzeptabler erscheinen zu lassen. Und vergessen zu lassen, dass es sich beim Kern des Witzes um den Tod eines Menschen handelt. Schlimmer noch: Indem der mögliche Tod in diesem Fall begrüßt und belacht wird, was bei einem Menschen allen Prinzipien der Moral und des Umgangs widerspricht, grenzt man eine Gruppe – hier die der Flüchtlinge – ab und aus, auch aus der Moralgemeinschaft der Menschen. Man spricht ihnen schleichend ab, Menschen zu sein.

Das ist unabhängig davon, wie man zu den Sachfragen der Flüchtlingspolitik steht. Die offen zu diskutieren halte ich für enorm wichtig für die Gesellschaft und auch für deren dauerhafte Bereitschaft zu helfen. Scherze wie der von Ihnen geschilderte aber sind kein Diskussionsbeitrag und keine Satire, sondern schlicht menschenverachtend. Deshalb sollte man ihnen widersprechen.

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Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Reclam Verlag, Stuttgart, 23. Auflage 2007.
Das Zitat findet sich auf S. 26

Illustration: Serge Bloch