Das Karin Beier will: so viele Leben wie möglich führen, gleichzeitig.
Der Preis, den sie zahlt: Sie rennt gegen die Uhr. Sie ist, wie sie nicht sein möchte. Am Anschlag. »Ich bin unfreundlich, ungeduldig, auf der Straße, beim Bäcker. So:«, sagt sie und knurrt wie ein Hund. »Jede rote Ampel ist eine Bedrohung für mein Timing. Das ist als Lebenszustand katastrophal.«
Hamburg, im November 2012. Im Laufen trägt Karin Beier einen Kaffeebecher aus Keramik vor sich her. Der Kaffee schwappt fast aus der Tasse heraus. Keine Ahnung, wie sie es schafft, daraus zu trinken. Eigentlich hat sie immer einen Kaffee in der Hand, sagt sie, im Theater, zu Hause, unterwegs wie jetzt in Hamburg. Nur nicht, wenn sie ihre Tochter morgens mit dem Rad zur Schule bringt.
Den leeren Becher räumt sie in ihren kleinen schwarzen Lederrucksack. Weiter geht’s im Sauseschritt, der Becher auf dem Rücken scheppert den Takt dazu.
Karin Beier, 47, verheiratet (erstes Leben), eine Tochter (zweites Leben), ist seit fast sechs Jahren Intendantin des Kölner Schauspiels (drittes Leben) und hat dabei alle Preise abgeräumt, die im Theater-Ranking zählen: Sie wurde mehrfach als erfolgreichste Intendantin und als erfolgreichste Regisseurin des deutschsprachigen Theaters gefeiert. In dieser Zeit hat sie auch ihre Tochter bekommen und aufgezogen. Und die ersten sechs Jahre mit Kind sind nicht die entspanntesten für eine Mutter.
Im Sommer 2013 übernimmt Karin Beier die Intendanz des Schauspielhauses in Hamburg. Und wie man hört, wünschen sich die besten Schauspieler aus Deutschland mit Engagements an den besten deutschen Bühnen bei den besten Intendanten, sie würde sie zu sich ins neue Ensemble holen. Es wird spannend bei Karin Beier in Hamburg, das will niemand verpassen.
Die Leitung eines Theaters übernimmt man nicht am ersten offiziellen Arbeitstag zu Beginn der neuen Spielzeit. Denn da ist bereits Premiere des Stückes, mit dem man sich und sein Ensemble präsentiert. Und da steht bereits ein großer Teil des Spielplans, mit dem man seine Themen setzt. Also steckt Karin Beier, die noch das Kölner Schauspiel leitet, schon mitten in den Vorbereitungen für den neuen Job. Mitten in einem vierten Leben, wenn man so will.
Sie hatte sich fest vorgenommen, in Hamburg jeden Tag zu Fuß zum Theater zu gehen, an der Alster entlang. Ganz in Ruhe. Sie hat es nicht gemacht. Sie ist mit dem Auto gefahren und ein einziges Mal mit dem Fahrrad, total eilig natürlich. »So«, sagt sie, faucht: »Platz da!« und tut so, als würde sie mit beiden Armen Hindernisse aus dem Weg schieben.
Sie kann fauchen. Und sie kann über sich selbst lachen, ein ausgelassenes Rheinländerlachen. »Alle waren im Weg. Das war das Gegenteil von dem, was ich wollte. Aber bis zum Sommer krieg ich das in den Griff.« Pause. »Ist irgendwie ein Frauending, dieses Planen, oder? Dass man sich was vornimmt. Und wenn man es dann nicht schafft, das einzuhalten, ist man unzufrieden. So will ich nicht sein. So macht das Leben einfach keinen Spaß.«
Bis eben war der Schauspieler Markus John bei ihr in der Wohnung, um über ein Stück zu sprechen, das sie das Brasilien-Projekt nennen, eine von drei großen Baustellen. Karin Beier, riesige, fiebrig glänzende blaue Augen unter schmal gezupften Brauen im blassen Gesicht, hat gesagt, dass sie endlich wissen muss, wohin es geht, sonst dreht sie durch.
Er hat widersprochen: »Wir haben doch schon so oft ohne Text angefangen.«
Sie hat gelacht. »Ich brauche doch keinen fertigen Text zum Probenbeginn! Aber ich hab noch nichts. Ist es ein Monolog? Gibt es Wechsel, Szenen? Ich muss eine Struktur vor mir sehen.«
Struktur: Das ist eins ihrer Lieblingswörter. Und wenn man Leute fragt, die sie gut kennen, sagen die meisten als Erstes einen Satz wie diesen: »Sie ist unglaublich strukturiert.«
Am liebsten würde sie mit den Schauspielern eine Minitestphase machen, hat sie zu Markus John gesagt und versucht, mit ihm einen gemeinsamen Termin zu finden zwischen Proben und Premieren, Treffen mit dem Bühnenbildner, Treffen mit der Dramaturgin. Und dem ganz normalen Intendanten-Alltag in Köln: Mappen durchgehen und unterschreiben; Konferenz mit den Abteilungen Ton, Licht, Technik, Betriebsbüro; kurze Dramaturgiesitzung; Öffentlichkeitssitzung; Endproben; Abendessen, beruflich natürlich.
Oft fliegt sie am Morgen nach einem langen Arbeitstag in Köln nach Hamburg, um ihre Tochter von der Schule abzuholen. Mittags fliegen die beiden zusammen zurück nach Köln, weil am Wochenende eine Premiere ist. Oder sonst was Wichtiges. Und weil auch der Schauspieler Michael Wittenborn, ihr Ehemann und der Vater der Tochter, noch in Köln lebt und arbeitet.
Die beiden haben sich 1994 am Hamburger Schauspielhaus kennengelernt. Das erste Gespräch verlief nicht harmonisch, dann flirteten sie heftig und wurden ein Paar. »Karin hat einen Ehrenkodex: sich nicht gehen zu lassen«, sagt er über sie. »Very british – ihre Mutter ist ja Londonerin. Das ist ein großer Unterschied zwischen uns: als Schauspieler lebe ich ja gewissermaßen davon, mich gehen zu lassen; sie will oder muss die starke Auffangstation all dieser sich gehen lassenden Egos um sich herum sein.«
Karin Beier hat ihre Tochter in Hamburg eingeschult, damit sie nicht nach einem Jahr die Schule wechseln muss. Bis zum nächsten Sommer, wenn ihr Mann mit einem Teil des Kölner Ensembles auch nach Hamburg übersiedelt, ist sie quasi alleinerziehend. Sie findet Schule »echt Mist«, weil sie so früh aufstehen und auch früh ins Bett gehen muss, »um halb zwölf, das ist für einen Theatermenschen ja keine Zeit.« Alles machbar, sagt sie.
Aber mit den zwei Theatern stößt sie an ihre Grenzen. Zwar braucht sie ein gewisses Maß an Überforderung, vor allem in künstlerischen Prozessen. »Es ist hilfreich«, sagt sie, »sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sich einem nicht sofort erschließen.« Nicht hilfreich ist es, an so viele Sachen gleichzeitig denken zu müssen. Durch das Übermaß an Arbeit zurzeit macht sie dicht. Schottet sich ab von Dingen, die sie mitkriegen müsste. Die Hamburger Lokalpolitik, zum Beispiel. »Ich muss aufpassen. Das wäre tödlich, als Theatermensch im Kokon zu sein.«
Theater, so wie Karin Beier es versteht, ist Mitmischen. Eine Haltung haben. Verantwortung übernehmen. »Man geht ins Theater, um emotional berührt und intellektuell wachgeküsst zu werden«, sagt sie. »Das Publikum erreicht man, indem man es auf Augenhöhe anspricht. Die Zuschauer können intellektuell genauso viel aushalten wie ich.«
Kraft zur Rebellion und Revolution
In Köln hat das Thema Migration in ihren Intendanten-Jahren eine große Rolle gespielt, im Spielplan, im Ensemble, in internationalen Schriftzeichen im Logo. Ihr Abschiedsstück dort ist Die Troerinnen von Euripides, es wird seit dem 11. Januar gespielt: Nach zehn Jahren sinnlosem Kampf zwischen den Trojanern und Griechen wird Troja vernichtet. Die Frauen der Verlierer warten darauf, unter den Siegern verteilt zu werden, und gehen ganz unterschiedlich mit diesem Schicksal um: Hekuba ist für Karin Beier eine starke Figur, mit der Kraft zur Rebellion und Revolution, während Andromache schon vor der Gefangenschaft unfrei war, immer eine Sklavin, immer ein Opfer.
Mit Frauen, die sich als Opfer betrachten, kann Karin Beier nichts anfangen. Eine Einstellung, mit der sie sich schon mal richtig in die Nesseln gesetzt hat, im Mai 2011 war das, bei einer Podiumsdiskussion in Berlin über den Aufstieg der Regie-Frauen im Theater. Da sprach sie von biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen und lehnte die Quote ab, da am – im Übrigen gleichgestellten – Kölner Schauspiel nur künstlerische Kriterien zählten. Die anwesenden Feministinnen zuckten zusammen.
»Wenn man mich auf die Frauenthematik reduziert, wird mir das nicht gerecht«, erklärt Karin Beier. »Meine Lebenserfahrung spricht einfach dagegen, dass Männer und Frauen dasselbe tun können. Ich akzeptiere, dass ich viel mehr mit unserer Tochter mache als mein Mann. Und dass ich viel mehr arbeite. Ich mache das nicht zähneknirschend. Ich will das so haben.«
Seit sie Mutter ist, verzichtet Beier auf Abendproben und Feierabendbiere in der Kantine. Dafür dauern die Morgenproben jetzt länger, wie an diesem schwülen Sommermorgen 2012 auf einem Fabrikgelände in Köln-Ehrenberg. Im dünnen schwarzen Schlabberlook sitzt sie auf ihrem Stuhl am Bühnenrand, breitbeinig, Ellenbogen auf den Knien, hochgezogene Schultern, nach vorn gereckter Kopf, Hochspannung im Körper. Fünf Schauspielerinnen proben Die Troerinnen. Keine ihrer Bewegungen entgeht der Regisseurin, keine Stimmungsschwankung. Sie korrigiert penibel, appelliert aber an alle, mitzudenken: »Da fehlt was, erfindet noch was.«
Der Ton ist vertraut und kumpelig, Karin Beier trifft aber klipp und klar die Entscheidungen. Wenn sie das Gefühl hat, viel zu kritisieren, entschuldigt sie sich: »Das ist jetzt vielleicht Korinthenkackerei, Rosie, aber ich sehe es kommen, und du spielst noch einen Kommentar danach, den brauchen wir nicht.« Die Schauspielerin und Sängerin Rosemary Hardy nickt und wiederholt die Szene.
Sie kann aber auch strenger: »Sebastian«, sagt sie zum Regieassistenten, »es ist ganz wichtig, dass immer total aufgeräumt ist.« Sebastian wird rot und schlägt fast die Hacken zusammen. »Praktikanten sind die ersten Wochen völlig fertig«, sagt ihre persönliche Assistentin, Narjes Gharsallaoui. »Sie frisst einen mit Haut und Haaren, wenn man sich nicht abgrenzt.«
»Karin ist das Energiezentrum«, sagt der Theaterkomponist Jörg Gollasch, mit dem sie seit Jahren zusammenarbeitet. »Man kann neben ihr nicht einfach rumsitzen und parken. Man muss Vollgas geben, wie sie.« Und die Schauspielerinnen geben Vollgas, allen voran Julia Wieninger, die die Hekuba spielt. Beier pusht, ermuntert, lobt, ist begeistert, Wieninger dreht noch ein bisschen auf. »Karin will verführt werden«, sagt Julia Wieninger. »Sie gibt Vorlagen – und ist total offen, wenn Dinge entstehen, auf die sie selbst nicht gekommen wäre. Ich habe bei ihr nie das Gefühl, um ihre Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Weil sie alles sieht.«
Karin Beier legt den Kopf tief in den Nacken und lässt ihn dann auf die Brust fallen, um zu entspannen. Sie seufzt. »Der Verschleiß. Das kommt davon, dass ich immer so dasitze«, sagt sie und reckt das Kinn wieder vor, hochkonzentriert. Zwischendurch wirft sie den Oberkörper nach vorn, vergräbt das Gesicht in den Händen, taucht nach ein paar Sekunden wieder auf, strahlt, hat eine Idee.
»Eins der Dinge, die Karin sehr gut kann: Atmosphären schaffen. Kreative Räume«, sagt die Schauspielerin Kathrin Wehlisch. »Wenn die Richtung noch nicht klar ist, suchen alle wie verrückt. Damit meine ich wirklich: wie verrückt. Karin kann Schauspieler entzünden. Man möchte an seine Grenzen gehen und sich nicht schnell zufrieden geben.«
Karin Beier versucht den Schauspielern ihre Ängste zu nehmen. »Das sind ja komplizierte Menschen«, sagt sie, »die einen für ihren Seelenzustand schwierigen Beruf ausüben.« Von ihnen wird eine hohe Sensibilität verlangt, während sie gleichzeitig vom Urteil der Öffentlichkeit abhängen. »Ich habe noch nie erlebt, dass Karin jemanden fertiggemacht hat«, sagt Julia Wieninger. »Karin ist sehr direkt«, sagt Kathrin Wehlisch. »Man muss keine Spielchen spielen. Sie ist eine treue Regisseurin, aber zu Beginn einer neuen Arbeit hat man nichts bei ihr auf dem Konto.«
Um ihre Arbeitsweise zu beschreiben, erzählt Wehlisch von der Entstehung einer Szene im Stück Das Werk/Im Bus/Ein Sturz nach Elfriede Jelinek, das 2011 zur Inszenierung des Jahres gewählt wurde. »Karin spürte, dass etwas fehlte, was den Zuschauer berührte. Bei den Proben fragte sie, ob ich mich als Erdgeist verkleiden könnte. Ich zog mich bis auf den Slip aus, übergoss mich mit Wasser und Heilerde, zog einen Klumpfuß an und war der Erdgeist. Das war’s. Denn es ist etwas anderes, ob von der geschundenen Erde gesprochen wird oder ob man sie erlebt.« Und es stimmt: Kathrin Wehlisch als Erde, getreten und beschimpft, zusammengekauert in der Grube, die ihr die Menschen gegraben haben, ist bewegend.
»Karin hat einen schnellen, sicheren ästhetischen Instinkt«, sagt Jörg Gollasch. »Und sie kann sich sehr gut einschätzen.« So liest sich auch ihre Biografie. In ihrem Abiheft stand als Berufswunsch: Regisseurin. An ihrer Schule, einem katholischen Mädchengymnasium, lernte sie Leistungsorientiertheit schätzen und studierte in Köln Anglistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Mit 21 gründete sie zusammen mit dem Regisseur Elmar Goerden die freie Theatertruppe Countercheck Quarrelsome, bekannt für radikal moderne Shakespeare-Inszenierungen in englischer Sprache.
Goerden hat mal verraten, dass Karin Beier als Studentin mit Blick auf das Kölner Theater prophezeit hat: »Irgendwann übernehm ich das hier mal.« Und Goerden hat Beuys zitiert, um Karin Beier zu beschreiben: »Sie ernährt sich durch Kraftvergeudung.«
1988 brach sie ihr Studium ab, um als Hausregisseurin am Düsseldorfer Schauspielhaus zu arbeiten, inszenierte dann in Bochum, Hamburg, Bonn, Hannover, München, Zürich und ging für fünf Jahre ans Burgtheater in Wien. Zwischendurch führte sie auch Opernregie. Dann übernahm sie Köln, vor fünfeinhalb Jahren.
Den Freibrief zum Dödeln haben.
Fünfeinhalb Jahre, in denen keine Sekunde ungenutzt verstrich in ihren vielen Leben. Manchmal hat sie Sehnsucht danach, nur so da zu sitzen vor einem Bier, im Sommer. Oder abends herumzuzappen. Wenn sie wählen müsste zwischen einem Abend mit Freunden und einem Abend allein zu Haus vor dem Fernseher, sie würde sich für den Fernseher entscheiden. »Ich möchte überhaupt keine Freunde haben.« Sie lacht, wieder ihr Rheinländerlachen. »Das ist natürlich Quatsch. Aber es ist ein so kommunikativer Job, dass ich manchmal denke: Wenn nur mal keiner was von
mir wollte.«
Selbst in den wenigen Minuten Pause auf der Probe laufen fünf Leute hinter ihr her, wenn sie sich ein Brötchen holt oder den fünften Kaffee. Sie folgen ihr fast bis aufs Klo.
»Machst du bis vier heute?«, fragt Jörg Gollasch. »Nein«, sagt Beier, »muss um vier am Kindergarten sein, um halb fünf ist Kinderschwimmen.«
Um Viertel vor vier hechtet sie in ihr schwarzes Mini-Cabriolet. Es ist unfassbar heiß im Auto. Leider hat sie es nicht geschafft, die Automatik, mit der man das Dach öffnen könnte, reparieren zu lassen. Sie hält im Parkverbot, springt in den Bäckerladen, wirft eine Tüte mit Croissants fürs Kind auf den Rücksitz zu den Wasserflaschen, Büchern, Textmappen, der Tasche mit dem Schwimmzeug.
Momina wartet im Hof. Die Mutter läuft zu ihr hin, Zärtlichkeit in den Augen. Mutter und Tochter klatschen ab. Im Auto spricht Karin Beier mit sich selbst: »Sind wir hier überhaupt richtig hier? Verdammt, auf dem Weg verfahre ich mich jedes Mal.«
Momina sagt: »Wenn du nicht so viel quatschen würdest, wär’s leichter.«
Karin Beier nickt, lächelt, das Kinn ist wieder vorn. »Ha, super«, ruft sie, »richtig abgebogen diesmal.« Sie parkt ein. »Ach, Momo, guck mal, ich habe immer so ein Parkplatzglück! Muckelchen, jetzt sind wir tatsächlich zu früh dran.« Ihre Stimme ist weich vor Liebe.
»Gehen wir noch auf den Spielplatz?«, fragt Momo.
»Bitte lass uns erst was essen, die Mama hat kein Mittagessen gekriegt in der Probe.«
»Hast du als Einzige kein Mittagessen bekommen?« Momo ist entrüstet.
Karin Beier lacht. Lustig, wie Kinder so denken. Momo zieht ein Gesicht. Sie kommt nach dem Vater, sagt Beier, »Micha hat auch so einen tollen Humor«. Man spürt, trotz der wenigen Worte, die sie macht, wie heilig ihr Mann und Kind sind.
Niemand hat richtig gegessen, erklärt sie dann, wie immer auf der Probe. Da lebt man ungesund: Kuchen, Kekse, trockene Brötchen. Und überhaupt ist das alles doch bescheuert, das Theater, sagt sie: »Man geht morgens in einen abgedunkelten Raum und hofft, dass einem einer irgendwann Komplimente macht.«
Allerdings wäre sie, sagt sie eine Minute später, auch Theaterregisseurin, wenn es kein Geld dafür geben würde. Der Beruf deckt so viele Sachen ab, die sie toll findet: Man verblödet nicht, weil man gezwungen ist, immer zu lernen. Man erfindet, hat mit Musik zu tun, arbeitet in der Gruppe. Man äußert sich politisch und kreativ und zeigt das der Welt. »Wir haben ja alle eine narzisstische Störung am Theater. In der Öffentlichkeit zu stehen tut der ganz gut. Ob ich darauf verzichten könnte? Ich weiß es nicht.«
Im Hallenbad ist es noch heißer als draußen. Karin Beier hockt vor ihrer Tochter, zieht ihr die Träger vom Badeanzug über die Schultern, die beiden klatschen wieder ab. »Früher bin ich mit rein in die warme Plörre, so sehr wollte ich, dass sie schwimmen lernt«, erzählt sie in der Cafeteria. Das Schwimmbad befindet sich im Souterrain eines Altenheims, in der Cafeteria stehen zwei Resopaltische auf grünem Filzteppich, im Billy-Regal das Warenangebot: Gewürzgurken, Ravioli, Ölsardinen. Momo ist hier, weil Schwimmlehrer Uli jedem Kind das Schwimmen beibringt.
An den Nachmittagen mit ihrer Tochter fällt der Stress ab von Karin Beier. Sie ist gottfroh, »diesen Freibrief zum Dödeln zu haben«. Die Zeit mit Momo ist unantastbar. »Sie ist die liebevollste Mutter, die ich mir denken kann«, sagt ihr Mann. »Das Kind ist das Wichtigste in ihrem Leben, und sie tut alles dafür, dass der Beruf diese Beziehung nicht gefährdet.«
Hamburg: Karin Beiers Wohnzimmer im Stadtteil Eppendorf ist riesig, ganz anders als die Kölner Wohnung im belebten Belgischen Viertel mit den vielen kleinen Zimmern. »Man kann bei offenem Fenster schlafen, das ist schön«, sagt Karin Beier. »Aber die großen Räume sind ungemütlich.« Ins Wohnzimmer hat sie eine Küche bauen lassen, weil ihr die eigentliche Küche, deren Fenster in einen Lichtschacht gehen, zu düster war. Doch nun lebt sie mehr oder weniger in der dunklen Küche, weil sie so klein ist. Und hat zwei Küchen. Warum nicht, sie hat ja auch mehrere Leben.
»Ich könnte ohne mit der Wimper zu zucken in meine Studentenbude zurückziehen«, sagt sie. So ehrgeizig sie ist – das, was man sich vom Erfolg kaufen kann, gibt ihr wenig. Aber wenn ihre Assistentin wegen einer Familienangelegenheit plötzlich nach Tunesien muss, zahlt sie den Flug und möchte keine Dankesbezeugungen hören, das wäre ihr zu viel der Gefühle. Wenn ihre Assistentin allerdings von ihr über Alltägliches informiert werden möchte, ist das oft schwierig. »Sie hat die Mail noch nicht fertig gelesen und hängt schon am Telefon.«
Karin Beier traut sich was, mit Hamburg. Theaterlegenden wie Peter Zadek und Frank Baumbauer haben das Schauspielhaus schon geleitet, in den letzten Jahren allerdings hat es an Bedeutung verloren. Denkt sie manchmal: Was, wenn’s nicht klappt? »Damit drehe ich ja meinen Hahn zu. Ich muss jetzt alles mobilisieren an Kräften. Dieses Haus hat ja, anders als das Thalia Theater, die Aufgabe, eher die ungesicherte Kunst zu machen. Ein bisschen Rock’ n’ Roll. Und trotzdem müssen wir jeden Abend 1200 Leute ins Theater locken. Das ist die Schwierigkeit. Und das Reizvolle.«
Am angreifbarsten, sagt sie, bleibt sie sowieso als Regisseurin, nicht als Intendantin. Wenn es beim Inszenieren aus dem Ruder läuft, die Zweifel ganz tief nagen, ist das physisch: »Druck, genau hier.« Sie fasst sich unter die Brust. »Und wenn die Zweifel berechtigt sind, verhagelt es einem das Leben. Das empfinde ich jetzt nicht. Aber fragen Sie mich in einem halben Jahr noch mal.«
Kritiken liest Karin Beier nicht, dazu ist sie zu empfindlich. Wenn Menschen, die ihr nahestehen, ihr Mann zum Beispiel, sie kritisieren, kann sie auch nicht gut damit umgehen. »Ich bin harmoniesüchtig«, sagt sie. »Aus Unruhe und Streit im Ensemble kann ich keine Kraft ziehen.« Wenn sie etwas ärgert an anderen, auch an Freunden, geht sie nicht über diplomatische Grenzen hinweg, würde sich nie heftig streiten. »Vielleicht interessiere ich mich nicht genug. Vielleicht braucht aber auch der Beruf meine emotionale Energie vollkommen auf.«
Welche Dinge sind es, die sie an anderen stören? »In meinem Leben funktioniert ja alles über Selbstdisziplin. Sich total hängen zu lassen ist für mich schwer nachzuvollziehen. Und wenn Leute die Verantwortung nicht übernehmen.«
Das ist eins ihrer Lieblingsthemen, auch am Theater: Verantwortungsethik. Als neue Chefin in Hamburg ist Karin Beier verantwortlich. Einer der härtesten Monate ihres Lebens liegt hinter ihr, sagt sie. Sie strukturiert um und musste Gespräche führen mit den Menschen, deren Verträge am Hamburger Schauspielhaus sie nicht verlängert. Brutale Gespräche. »Da verliert man seine Unschuld. Das darf man nicht zu oft machen, da bleibt was kleben«, sagt sie. »Auch wenn ich denke, dass es richtig ist. Und natürlich habe ich kein Recht, da rumzujammern. Ich bin der Täter, nicht das Opfer.«
Sie muss los, Momo von der Schule abholen. Sie zieht den Mantel an, schiebt den Besuch aus der Tür, schließt das Fahrrad auf, winkt und ist weg, das alles dauert nur Sekunden.
Fotos: Gianni Occhipinti