Luxus, der Leben rettet

Viele Modefirmen produzieren gerade die relevantesten Kleidungsstücke ihrer Geschichte: Einweg-Kittel und Atemmasken – ganz ohne Logo. Über eine Zeit, in der man sich Oberflächlichkeit und Überfluss nicht mehr leisten will.

Die Louis-Vuitton-Kollektion von 2008 (aktuell gepostet auf Instagram von Carine Roitfeld): Sexy Krankenschwestern in LV-Kitteln und Mundschutz. Damals hätte niemand glauben können, dass Luxusmarken einmal wirklich für Pflegepersonal produzieren würden.

Foto: Instagram

Den Pflegekräften und Ärzten in Italien, Frankreich oder England dürfte es herzlich egal sein, aber vielleicht tragen sie gerade ein echtes Armani- oder Prada-Teil am Leib. Ein Designerstück ganz ohne Logo zwar, das danach sofort in die Tonne wandert. Echte »Fast Fashion« also – die jedoch noch nie so sinnvoll war.

Luxusmarken von Salvatore Ferragamo bis Gucci, von Saint Laurent bis Burberry, Armani, Prada und seit diesem Wochenende sogar Chanel, sie alle haben ihre Produktionsstätten in Europa teilweise auf die Fertigung von Atemschutzmasken und Schutzkitteln umfunktioniert oder sind gerade dabei, die offizielle Zertifizierung dafür zu bekommen. Der französische Luxuskonzern LVMH lässt statt Parfum Desinfektionsmittel produzieren, außerdem kaufen sie, so wie auch Kering oder der Zara-Mutterkonzern Inditex, zusätzlich Masken in China und nutzen ihre Logistik, um sie möglichst schnell ausliefern zu lassen. Jeden Tag kommen mehr Unternehmen aus der Modebranche dazu, die sich engagieren, spenden, Krankenhäuser unterstützen.

Ironischerweise leistet nun also jene Branche, die stets für Oberflächlichkeit und Überfluss abgewatscht wird, einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Ausgerechnet die Marken, die sonst die aufwendigsten Designs kreieren, lassen von den gleichen Näherinnen jetzt Massenware ohne jeden ästhetischen Anspruch fertigen, um Leben zu retten. Hätte das irgendwer bei einer dieser glamourösen, millionenteuren Fashion-Week-Sausen von Gucci, Saint Laurent oder Chanel vor wenigen Wochen orakelt – die Modeleute wären vor Lachen aus ihren Bottega-Sandalen gekippt.

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Plötzlich sind Mundschutz und Latexhandschuhe die neuen »Must-haves«, Schutzkittel der eigentliche Luxus, weil sie ein immer knapperes Gut darstellen

Noch am 24. Februar postete die ehemalige Chefin der französischen Vogue Carine Roitfeld ein Bild der Louis-Vuitton-Frühjahrskollektion 2008. Marc Jacobs entwarf damals eine Hommage an den Künstler Stephen Sprouse: sexy Krankenschwestern in LV-Kitteln und Mundschutz. Roitfeld schrieb dazu: »Already in 2008«, was sich damals auf den »neuen Look« mit Gesichtsmaske bezog und deshalb eher geschmacklos war. Aber kaum vier Wochen später tragen viele Krankenschwestern tatsächlich eine Art Designer-Montur. Schon klar, dass wir uns eigentlich nichts von dem, was gerade passiert, vorstellen konnten, solche Sonder-Kollektionen allerdings nun wirklich nicht.

Diese Woche erscheinen die ersten Mai-Ausgaben von Modemagazinen wie Vogue (und werden teilweise kostenlos zum Download angeboten), die wie die April-Hefte unbeirrt die neuen Frühjahr-/Sommertrends vorstellen, weil die meisten Inhalte natürlich längst vorproduziert wurden. Noch nie war eine Saison so schnell vorbei, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Denn ein Großteil der Ware kann gar nicht ausgeliefert werden, wenn stationäre Geschäfte überall auf der Welt geschlossen sind. Vor allem hat sich die Perspektive in den letzten Wochen grundlegend verändert: Plötzlich sind Mundschutz und Latexhandschuhe die neuen »Must-haves«, Schutzkittel der eigentliche Luxus, weil sie ein immer knapperes Gut darstellen. Wer jetzt noch online Designermode bestellt, wünscht sich wahrscheinlich diskrete, packpapierbraune Verpackung wie während der Finanzkrise, als demonstrativer Konsum schon mal kurzzeitig ein bisschen peinlich war.

Dass Modefirmen – freiwillig und offenkundig unentgeltlich - für das eigene Land fertigen, gab es so noch nie. Natürlich kann man dahinter eine PR-Aktion vermuten. Es wäre ja nicht die schlechteste in diesen Zeiten. Aber nur mal so für den Hinterkopf: Diese Krise trifft die Modefirmen besonders hart. Sie sitzen auf saisonaler Ware, die sich womöglich nicht mehr verkaufen lässt, haben gerade eine Herbstkollektion präsentiert, die kaum jemand produzieren kann, und wenn die Geschäfte irgendwann wieder öffnen, fehlt einem beachtlichen Teil der Kunden vielleicht nicht die Lust auf Mode, sondern schlicht das nötige Geld. Die Branche hätte genug andere Probleme.

Dafür werden jetzt nicht nur die unzählig neuinterpretierten Chanel-Kostüme oder die fantastisch verkopften Entwürfe von Miuccia Prada als bahnbrechende Mode des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Zu den wirklich wichtigen Designs wird nun auch der Einweg-Kittel »made in Italy« oder die Atemschutzmaske »made in France« zählen. Modell: »Covid-19«, Saison: Spring-Summer 2020, Stil: existentiell.

Wird getragen mit: Zivilcourage
Typischer Instagram-Kommentar: Von wegen »fashion victim«
Passender Song: »How to Save a Life« von The Fray