Das ganz kleine Schwarze

Bralettes als Oberteil sind ausgerechnet im Winter zum Trend geworden. Zu verdanken haben wir das Katie Holmes, Zoë Kravitz und Kaia Gerber. Aber kann man es wirklich als Freiheit verstehen, wenn Frauen oben fast ohne gehen – oder nur als Freizügigkeit?

Kaia Gerber trägt Bustier als T-Shirt.

Foto: Getty

Als was darf das jetzt in die Wertung eingehen: Eigenständiges Oberteil? Unterwäsche? Accessoire aus Stoff? Gemeint ist der Bralette, also ein BH ohne Bügel, zu Deutsch (beziehungsweise Französisch) Bustier. Dass Unterwäsche nicht nur drunter, sondern auch einfach so getragen wird, ist eine alte Geschichte. Madonna verbrachte weite Strecken der Neunziger in Gaultiers »Cone Bras«, überhaupt waren die Neunziger das Jahrzehnt von bauchfrei und Büstenhaltern, und da die Neunziger ja schon eine Weile wieder in der Mode zurück sind – zig-a-zig-ah: BH-Trend wieder da.

Damals waren es vor allem die neuen, gepolsterten Push-ups, die unter einer Jacke oder einem Blazer hervorblitzten. Ein stoffliches Antäuschmanöver: fast nichts an, aber eben doch noch was drüber. Welchen Unterschied es da zum aktuellen Trend gibt, konnte man schön bei Cindy Crawfords Tochter Kaia Gerber vergangene Woche beobachten. Jacke, Bluse, Blazer – nur noch optional, es geht auch ohne. Und es wird nicht länger nach oben gepusht, sondern die sehr viel entspanntere Bralette-Variante getragen. Wir sind dann mal so frei.

Dass da dieses fast nichts auf uns zukommen würde, zeichnete sich bereits bei den Schauen im September ab. Dort hatte der Designer Jonathan Anderson bei Loewe eben jenen Laufsteglook präsentiert, den Gerber jetzt bei den British Fashion Awards trug. Schwarzer Bralette mit Perlen besetzt, langer weißer Spitzentischdeckenrock. Auch bei Givenchy auf dem Laufsteg (lustigerweise ebenfalls mit Gerber, die ohnehin ein Faible für überschaubare Oberteile hat) tauchten Satin-Bralettes auf.

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Besonders früh dran war die Schauspielerin Zoë Kravitz, als sie bei der Oscar-Afterparty vergangenen Februar ein Vintage-Bra-Top von Elsa Peretti für Tiffany aus 18-Karat-Gold trug, und damit – nicht nur des Edelmetalls im Wert von 24000 Dollar wegen – für Aufsehen sorgte. Katie Holmes verdankt ihr Comeback in die Modespalten vor allem einem Kaschmir-Bralette, der unter einer dazu passenden Strickjacke hervorlugte, als sie in New York ein Taxi (oder ihren Fahrer) rief.

Aber ist das jetzt wirklich die totale Freiheit der Frau? Oben fast ohne gehen? Außerdem ohne Bügel, ohne halboffene, halbverklemmte Blusen drüber? Einfach mal entspannt Bralette tragen, wenn man das so will?

Oder ist es doch eher die alte Freizügigkeit, die hier nach ein paar Jahren der dosierten Abstinenz zurückkehrt? Zwischenzeitlich war ja schon von »Modest Fashion«, also zurückhaltende Kleidung ohne Dekolleté dafür mit viel Länge wie sie muslimische Frauen tragen, als neuer Megabewegung die Rede. Der Bralette passt da nicht ganz ins Bild. Evolutionstheoretisch liegt er eher auf dem Niveau der Serie »Bezaubernde Jeannie« aus den Sechzigerjahren.

Interessanterweise wirkt der Look trotzdem nicht vulgär, nicht mal übertrieben sexy. Vielmehr direkt und geradeaus. So wie heute auf Social Media kommuniziet wird: Einfach raus damit. Der Bralette ist der stoffgewordene Tweet für Silvester 2019.

Sicherlich hat es auch damit zu tun, dass wir die Kombination aus BH-Oberteil und langem Unterteil unbewusst schon so oft gesehen haben: Auf all den Fitnessbildern mit knappem Sportbustier und Leggings, bei Arielle und anderen Badenixen: Als Frau zieht man am Strand ja häufig zum Bikini nur schnell einen Wickelrock an. Life’s a Beach, jetzt aber wirklich.

Nicht zu verwechseln mit: Raclette
Wird auch getragen von: Bezaubernde Jeannie, Arielle,
Typischer Instagram-Kommentar: »Hübsches kleines Nichts, das Sie da beinahe anhaben.« (James Bond in Diamantenfieber)