Für die Frührente ist es nie zu früh

Billie Eilish trägt rahmenlose Brillen, Kendall Jenner kokettiert damit, am liebsten zuhause rumzusitzen und junge Menschen feiern ihre »Grandma Era«. Ist der Ruhestand zum Lifestyle geworden?

Was viele Seniorinnen nur zum Lesen hernehmen, gehört für Billie Eilish zum Look: die randlose Brille.

Foto: Instagram

Billie Eilish hat ein neues, großartiges Album herausgebracht, und während sich trotz der eher komplex-sperrigen Kompositionen überaus viele Leute dafür begeistern können, sorgt ihr modischer Stil regelmäßig für Ratlosigkeit.

»Kann mir mal jemand dieses Outfit erklären? Will das gar nicht beurteilen, kapier’s nur nicht«, fragte auf Reddit mal wieder jemand, nachdem Eilish bei den Golden Globes in einem sackähnlichen beigefarbenen Rock, einem übergroßen Jackett und einer hellblauen Bluse mit Bubikragen plus schwarzem Bändchen erschien. Dazu trug sie eine kleine rahmenlose, halbrunde Brille, von der man schwören möchte, dass es das gleiche Modell war, das früher auf der Nase des CDU-Politiker Nobert Blüm saß

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Auf dem Cover zur Danceversion des neuen Songs »L’Amour de Ma Vie« ist die 22-Jährige jetzt mit einem noch markanteren Gestell zu sehen: wieder eine kleine rahmenlose Brille, diesmal rechteckig und mit goldenen, fast schlangenartigen Verzierungen an Steg und Bügel. Ein Vintagemodell von Chrome Hearts, das auf Ebay gerade für fast 5000 Euro angeboten wird. Auf Reddit hat noch keiner gefragt, was das jetzt wieder bedeuten soll, aber erklären könnte man die Brille womöglich mit dem »Rich Grandma Look«, einem der vielen Trends, die gerade auf Tiktok im Umlauf sind.

Erkennungszeichen: Tweed-Jackett, Kitten Heels, Twinsets, Goldknöpfe und überhaupt viel Gold, Hermès Birkin Bag oder ähnlich klassische Handtaschen, Wollunterhosen, aber getragen als »echte« Hose wie bei Kristen Stewart, und möglichst viel davon Vintage, weil es dann vielleicht wirklich mal einer Großmutter gehört hat. Erwähnen sollte man an dieser Stelle noch, dass das bitte nicht alles zusammengetragen wird, sondern nur einzelne Elemente mit betont nicht-omahaften Sachen kombiniert werden. Aber warum wollen Frauen um die 20 oder 30 aussehen wie – ok, vielleicht nicht wie die eigene Oma, aber wie glamouröse alte Ladies aus Hollywoodfilmen?

Mehr noch: Womöglich geht es hier nicht nur um die Ästhetik, sondern um ein ganzes Lebensgefühl. Kendall Jenner, zarte 28, kokettierte in einem Interview damit, dass sie nie ausgeht, nichts unternimmt, nichts ausprobiert, sondern am liebsten zu Hause rumsitzt. Es ist der gleiche Text, den auch Prominente wie Zendaya, 27, von sich geben und viele junge Leute auf Social Media unter dem Hashtag #grandmaera posten. In einer österreichischen Jugendstudie gaben zwei Drittel der Befragten kürzlich an, den »Granny-Lifestyle« mit viel Zeit zu Hause und frühen Bettgehzeiten anderen Lebensstilen vorzuziehen. Ist die Gen Z in Wirklichkeit die »Gähn Z«?

Zumindest scheinen sich viele von ihnen nach Ruhe und »guten alten Dingen« zurückzusehnen. Im neuen Buch »Nostalgia. History of a dangerous emotion«, schreibt die Autorin Agnes Arnold-Forster, Nostalgie sei vor allem eine Reaktion auf Veränderung und Umwälzungen. In den Siebzigern sei das Gefühl deshalb stark verbreitet gewesen, jetzt sind wieder bewegte und deshalb besonders nostalgische Zeiten. Vergangenes wird idealisiert, nicht nur Mode und Design, sondern auch Gewohnheiten von früher, die nachhaltiger, gesünder, in jedem Fall analoger erscheinen. Einmachen, fermentieren, stopfen, häkeln, Buchclubs, Scrabble spielen – alles von gestern, alles wieder da.

Der nächste Schritt: Sich nicht nur ein Stück weit wie die Großeltern anziehen und leben wollen, sondern gleich richtig in Rente gehen: Die New York Times schrieb kürzlich über die »FIRE-Bewegung«, Financial Independence Retire Early, also über Leute mit dem Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, um sich früh zur Ruhe zu setzen – gern schon mit 35. Bei Kristen Stewart, ja ja, so schnell vergeht die Zeit, wäre das nächstes Jahr.

In der Vorstellung klingt das natürlich super. Das gute Silver-Ager-Leben, das in der Werbung mit vor Tatendrang strotzenden, weltreisenden Rentnern angepriesen wird, einfach vorholen auf die besten Jahre, wenn einem die Hüfte noch nicht weh tut, die Haare noch sitzen und man die Ernährung rechtzeitig auf »Longevity« und »Ageless Beauty« umstellen kann.

Aber worauf blickt man dann beim bestimmt bald zurückkehrenden Diaabend zurück? Auf vollgepackte Arbeitstage und ermattete Netflix-Abende? Persönlich fand man das in der Retrospektive jetzt gar nicht so verkehrt, nachts in vollgerauchten Clubs zu tanzen und morgens keinen Detox-Smoothie, sondern einfach Ayran gegen den Kater zu trinken. Und was machen all die vitalen Frührentner dann eigentlich den ganzen Tag, die ganzen Jahre? Die Vorstellung, dass demnächst Horden von 35-Jährigen nicht mehr arbeiten, sondern nur noch Sport treiben, noch mehr reisen und ihren verbleibenden beruflichen Ehrgeiz auf ihre Kinder übertragen, erscheint wenig romantisch, eher dystopisch. Außerdem würden die Rentenkassen vollends implodieren.

Billie Eilish und ihre Granny-Brille jedenfalls könnten sich schon jetzt, mit 22, locker zur Ruhe setzen. Sie hat bereits neun Grannys, verzeih, Grammys, zwei Oscars und ein geschätztes Vermögen von 50 Millionen Dollar auf der Bank. Hoffentlich denkt sie die nächsten 50 Jahre nicht daran.

Wird auch getragen von: Kristen Stewart, Charlotte Casiraghi, Bella Hadid
Wird getragen mit: absolut faltenfreiem Lächeln
Passender Song: »Being Boring« (Pet Shop Boys)